An diesem Wochenende ist der «Tag der vermissten Kinder». Auch in der Ostschweiz weckt der Tag Erinnerungen. Die ungeklärten Schicksale von Peter Perjesy, Peter Roth und Edith Trittenbass bewegen noch heute.
KATHARINA BAUMANN
1981: Ronald Reagan wird Präsident von Amerika. Der erste Bericht über eine neu entdeckte Krankheit erscheint: Aids. Im Sommer heiratet Prinz Charles seine Diana. 1984: Die DDR-Eiskunstläuferin Katarina Witt gewinnt Olympia-Gold im jugoslawischen Sarajevo. Die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi stirbt nach einem Attentat. 1986: Michail Gorbatschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, schlägt dem Westen die Abrüstung aller Kernwaffen vor. Im Atomkraftwerk Tschernobyl explodiert ein Reaktor.
Gemessen an den alten Nachrichten scheinen die Jahre 1981, 1984 und 1986 weit zurückzuliegen. Genau so lange sind drei Kinder aus der Ostschweiz verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Am 22. September 1981 besucht der 14jährige Peter Perjesy das Tischtennistraining im Wattwiler Risischulhaus. Um acht Uhr abends verlässt er den Trainingsplatz. Er wird nicht mehr gesehen. Nur sein abgeschlossenes Fahrrad mit der Jacke werden im Velounterstand an der Friedhofstrasse gefunden.
Auch die Polizei vergisst nicht
Drei Jahre später folgt eine weitere Schreckensnachricht: Der damals siebenjährige Peter Roth aus Nassen ist verschwunden. Am 12. Mai 1984 macht er sich um zwölf Uhr auf den Heimweg vom Schulhaus zu seinem Elternhaus im Weiler Aachmüli in der Gemeinde Mogelsberg. Zuletzt wird er beim Lebensmittelgeschäft Winteler gesehen, wo er für sich und einen Schulkameraden je eine Packung Pommes Chips kauft. Bei einem Heustadel, nur 300 Meter vom Elternhaus entfernt, wird später eine leere Chips-Packung gefunden.
Ein drittes Ostschweizer Kind verschwindet am 3. Mai 1986. Um acht Uhr morgens verlässt die achtjährige Edith Trittenbass ihr Elternhaus in Gass-Wetzikon und geht zum Schulhaus in Wolfikon. Dort ist das blonde Mädchen aber nie eingetroffen.
Auch bei der Polizei bleiben die Kinder unvergessen. Ernst Vogelsanger, Mediensprecher der Thurgauer Kantonspolizei, sagt: «Der Fall Edith Trittenbass bleibt für die Kantonspolizei Thurgau offen.» Sehr selten erhalte die Polizei noch heute Hinweise von Privaten. «Wir nehmen alle Hinweise ernst und überprüfen deren Plausibilität», sagt Vogelsanger. Bei der Kantonspolizei St. Gallen tönt es ähnlich: «Vereinzelte Hinweise gehen immer wieder mal ein», sagt Sprecher Gian Andrea Rezzoli. «Wir nehmen alle sehr ernst.» Bislang hätten sich aber keine weiteren Ermittlungsansätze ergeben.
Kommission sucht immer noch
Für die einzelnen Fälle sind die Kantonspolizeien zuständig. Oft ist aber eine Zusammenarbeit der Kantone nötig. Dafür gibt es die «Koordinationsstelle Gewaltverbrechen an Kindern», die bei der Kriminalpolizei Bern angesiedelt ist. Bei ihrer Gründung im Jahr 1982 hiess die Koordinationsstelle «Soko-Rebecca»: Soko für Sonderkommission, Rebecca für den Fall von Rebecca Bieri. Als dieses Mädchen verschwand, war erstmals eine interkantonale Zusammenarbeit nötig, sagt Thomas Sollberger, Chef der Kriminalabteilung der Kantonspolizei Bern: Im Kanton Luzern wurde Rebecca verschleppt, im Kanton Aargau fand man ihre Kleider, im Bernischen schliesslich die Leiche. Die Soko heisst heute anders, damit bei der Familie nicht jedes Mal wieder alte Wunden aufgerissen werden.
In der engeren Arbeitsgruppe der Koordinationsstelle wirken zehn Polizeikorps mit. Deren Vertreter treffen sich je nach Bedarf. Laut Sollberger gibt es in der Kriminalabteilung einen Zuständigen beim Dezernat Leib und Leben, der als Sonderaufgabe die Fälle der vermissten Kinder betreut. Immer wieder gehe er Hinweisen nach, vor allem bei neuen Tötungsdelikten, wo der Täter etwas mit den Kindern zu tun haben könnte. Zuletzt war dies beim Mörder von Ylenia Lenhard der Fall – doch Hinweise darauf, dass Urs Hans von Aesch auch in den Fällen der 80er-Jahre der Täter war, liessen sich nicht finden.
Ylenia und die Folgen
In den 1980er-Jahren sind in der Schweiz mehrere Kinder verschwunden, von denen keine Spur geblieben ist. Darunter sind auch Sarah Oberson aus Saxon im Wallis und Sylvie Bovet aus Neuenburg. Für grosses mediales Aufsehen hat im Jahr 2007 das Verschwinden der sechsjährigen Ylenia Lenhard aus Appenzell gesorgt. Sie verschwand am 31. Juli und wurde am 15. September tot in Oberbüren aufgefunden. Der Fall Ylenia hat nicht nur emotional und medial, sondern auch politisch viel ausgelöst. Zum Beispiel den Ruf nach einem umfassenden Entführungsalarm. Seit drei Jahren ist das System eingerichtet. Im Notfall würden die Meldungen auf vielen Kanälen losgehen: Radio und Fernsehen der SRG, Autobahn-Anzeigetafeln, Durchsagen in Bahnhöfen, Flughäfen, Einkaufszentren sowie über Online-Medien und SMS; dafür haben sich schon 56 000 Leute angemeldet (zum Beispiel über http://www.entfuehrungsalarm.ch).
Alarm noch nie ausgelöst
Für den Inhalt der Alarmmeldungen und für das Auslösen des Alarms sind die Kantonspolizeien zuständig. Vorsitzender der Arbeitsgruppe Entführungsalarm ist der Schaffhauser Kriminalpolizeichef Philipp Maier. Bislang wurde der Alarm noch nie ausgelöst. Die Kriterien sind streng, sagt Maier. Erstens muss feststehen, dass die gesuchte Person minderjährig ist. Zweitens muss feststehen, dass das Kind entführt wurde und nicht einfach vermisst wird. Diese Unterscheidung ist für die Polizei zentral. Denn vermisst werden jährlich über tausend Menschen; jedes Mal einen flächendeckenden Alarm auszulösen, wäre schlicht unverhältnismässig. Und auch nicht im Interesse der Organisationen, die ihre Hilfe kostenlos zur Verfügung stellen.
Drittens muss sicher sein, dass das gesuchte Kind ernsthaft gefährdet ist. «Ist der Entführer ein Elternteil, wird eine solche Gefährdung meistens ausgeschlossen», sagt Maier. Dies sei allerdings problematisch, wie ein Fall zeigte: Die Zwillinge Livia und Alessia wurden 2011 von ihrem Vater entführt. Er hat sich das Leben genommen, die Kinder werden noch immer vermisst.
Viertens müssen gesicherte Informationen vorliegen, damit man klare Hinweise erwarten kann. Und als letztes Kriterium muss auch überlegt werden, ob die Ausrufung des Kindes dieses nicht noch mehr in Gefahr bringen könnte. «Man stelle sich vor, wir rufen Fritz Müller mit Autokennzeichen aus, und dieser sitzt gerade mit dem entführten Kind im Auto», sagt Maier. Das könnte schnell eskalieren. «Die Medien sind heute hochsensibel auf das Thema der vermissten Kinder», sagt Maier. Braucht es den staatlichen Entführungsalarm überhaupt? Im absoluten Notfall mache die koordinierte Sammlung von Informationen Sinn, findet er.
Werner Ferrari, geb. 1946 im schweizer Kanton Argau, hatte 1971 den 10jährigen Daniel Schwan getötet. 1979 war er aus dem Gefängnis entlassen worden und vergewaltigte und ermordete weitere Kinder. Vier Morde, die an Benjamin Egli, Daniel Sutter, Christian Widmer und Fabienne Imhof gestand er zurerst, widerruf diese jedoch später. Am 8. Juni 1995 hatte das Bezirksgericht Baden in einem landesweit Aufsehen erregenden Indizienprozess den damals 49-jährigen Hilfsarbeiter Werner Ferrari wegen fünffachen Kindermordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt – darunter auch für einen Mord, den er seit seiner Verhaftung im August 1989 kategorisch bestritt: die Tötung der 12-jährigen Ruth Steinmann aus Würenlos.
Die Schülerin war am 16. Mai 1980 unweit ihres Elternhauses in ein Waldstück gelockt, sexuell missbraucht und mit einer in den Rachen gepressten Socke erstickt worden. Rund um ihre linke Brustwarze hatte sich der tiefe Eindruck einer blutunterlaufenen Zahnspur abgezeichnet, und auf dem nackten Gesäß des Opfers konnte die Kripo ein Schamhaar sicherstellen, das dem Täter zugeordnet werden musste. Ferrari verlangte eine Wiederaufnahme seines Verfahrens, da er den fünften ihm zur Last gelegten Mord nicht begangen habe.
Mit seinem Buch „Der Unfassbare“ brachte Peter Holenstein den Fall zurück in die Schlagzeilen. Der Publizist hatte eine DNA-Analyse des Schamhaares in Auftrag gegeben, dass auf dem Körper des vermeintlichen Ferrari-Opfers Steinmann gefunden worden war. Ergebnis: Das Haar stammt nicht vom Verurteilten. Nun entschied das Aargauer Obergericht: Die Justiz muss noch einmal ran. Denn in der Zwischenzeit hat Holenstein einen weiteren Zeugen aufgetrieben, der seinen Schwager belastet, der dem Verurteilten stark ähnelt.
Außerdem behauptete eine Zeugin, sie habe das Mädchen im Auftrag ihres Onkels zum Tatort gelockt. Doch selbst wenn dieser eine Fall mit Freispruch enden sollte: Der Serientäter wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen.
Ferraris Kindheit war alles andere als glücklich. Bei seiner Geburt war seine Mutter gerade mal 18 Jahre alt, und gab das Kind in ein Heim. Ferrari sagte später: „Ich wurde von meiner Mutter nie geküsst, in den Arm genommen oder getröstet. Ich wurde nur hin- und hergeschoben. Die Mutter heiratet. Nachdem Ferrari kurze Zeit wieder bei ihr lebt, kam er mit 12 Jahren wieder ins Heim. Ihm wird, nach ärztlicher Begutachtung, eine schizoide Persönlichkeitsstörung bescheinigt. Mit 16 Jahren zieht er wieder zu seiner Mutter, legt Brände und begeht Diebstähle. Mit 18 Jahre kommt er in eine Erziehungsanstalt und mit 19 wird er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.
Eine Wendung nimmt der Fall Anfang 2007: Der belastete „Schwager“, der sich 1983 erhängte, wird exhumiert und dessen Gebiss, wie auch Ferraris Gebiss mit den Bissspuren auf Ruth Steinmanns Körper verglichen. Das Ergebnis: Der Biss stammt vom „Schwager“. Ferrari wird im Fall Steinmann freigesprochen.
Auch die Zeugin, die ihren Onkel belastet, berichtet von Details, die nur Anwesende vom Tatort wissen konnten, da diese damals nicht veröffentlicht wurden. Allerdings ist der „Onkel“ mittlerweile an Krebs verstorben.
Fakt ist, dass nach der Verhaftung Ferraris die furchtbare Mordserie plötzlich aufhörte, was aber nicht heißt, dass Ferrari für alle Morde verantwortlich ist, denn im Juli 2007 wurde ein weiteres Mädchen in der Schweiz tot aufgefunden: Ylenia Lenhard (5). Der 67jährige Mörder nahm sich nach der Tat das Leben. Die Polizei jedoch hält es für unwahrscheinlich, dass Ylenia das erste Opfer dieses Täters war. So könnte auch er für die, in den 80er Jahren, vermissten Kinder verantwortlich sein; auch aufgrund auffälliger Parallelen zu einigen Fällen. Dies wird zurzeit noch überprüft.
Opfer, chronologisch nach Tatzeitpunkt:
06.08.1971 – Daniel Schwan (10) aus Reinach 27.10.1983 – Benjamin Egli (10) aus Kloten 10.09.1985 – Daniel Sutter (7) aus Rümlang 17.10.1987 – Christian Widmer (10) aus Windisch 26.08.1989 – Fabienne Imhof (9) aus Hägendorf
Weitere mutmaßliche Opfer, chronologisch nach Tatzeitpunkt:
20.03.1982 – Rebecca Bieri (8) aus Gettnau 30.09.1982 – Stefan Brütsch (14) aus Büttenhardt 14.04.1983 – Loredana Mancini (7) aus Spreitenbach 12.05.1984 – Peter Roth (7) aus Mogelsberg, bis heute vermisst 28.09.1985 – Sarah Oberson (6) aus Saxon, bis heute vermisst 03.05.1986 – Edith Trittenbass (8) aus Gass-Wetzikon, bis heute vermisst