Kriminalität Der Täter rauchte Camel: Kann es wirklich gelingen, einen 39 Jahre alten Mord aufzuklären?
Renate Pollaczek wurde 1986 in der „Schultheiß-Baude“ zuerst vergewaltigt, dann umgebracht. Nun läuft eine DNA-Reihenuntersuchung bei Männern – sogar in Thailand.
Katrin Bischoff 24.06.2025 , 21:53 Uhr
Ein Flipper-Automat steht an der einen Wand, an der anderen hängt eine Dartscheibe. Ein paar drehbare Barhocker warten vor dem Tresen auf Kundschaft.
Hinter dem Ausschank befindet sich die Zapfanlage für das Fassbier, in einem Regal stehen zahlreiche Schnapsflaschen. Im Nebenraum steht der Billardtisch, bespannt mit blauem Stoff.
Auf dem kleinen Tisch daneben liegt eine Schachtel Zigaretten neben einem noch vollen Glas Bier und einer Kippe im Aschenbecher.
Der Mörder rauchte Camel.
Fotos zeigen die Details des Interieurs einer typischen Berliner Bierkneipe in den 1980er-Jahren. Die Bilder sind in einem rosafarbenen Hefter voller vergilbter Seiten zu sehen.
Thilo Pietzsch blättert die Akte Seite für Seite vorsichtig durch, als könnten die alten Fotos und die vielen filigran wirkenden, mit Schreibmaschine beschriebenen Blätter zwischen seinen Fingern zerbröseln.
„Ich habe richtig Angst, dass sie kaputtgehen“, sagt er. Die Akten sind wesentlich älter als Pietzsch mit seinen 29 Jahren.
Der große, schlanke Staatsanwalt ist seit Februar in jener Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft tätig, die für die Ermittlungen bei Kapitalverbrechen zuständig ist. Mord, Totschlag und ärztliche Fehler zählen zu den Delikten, die die Abteilung bearbeiten muss.
Pietzsch sitzt in einem kleinen Büro im Kriminalgericht, in dem die Fenster zur Untersuchungshaftanstalt Moabit hinausgehen. Wenn er hinaus schaut, sieht er Stacheldraht.
Als würden Häftlinge an der Fassade in den zweiten Stock hinaufsteigen können, um abzuhauen. Der junge Staatsanwalt ist dennoch zufrieden. Er hat ein eigenes Büro und damit Glück. Denn der Raummangel für Richter und Staatsanwälte ist in Berlin eminent.
Vor Pietzsch auf dem Schreibtisch liegen elf Hefter. Darin sind die Ermittlungsergebnisse eines Verbrechens zusammengetragen, das in Berlin kaum noch jemand in Erinnerung haben dürfte. Pietzsch und seine Kollegen werden immer gerufen, wenn es ein neues Tötungsdelikt gibt. Das ist oft in Berlin.
Momentan aber hat der Staatsanwalt Glück, keine Bereitschaft und kann sich somit auch den alten Akten widmen, die er von seinem Vorgänger „geerbt“ hat, wie er sagt. Unglücklich wirkt er damit nicht.
In den Akten geht es um Renate Pollaczek, die vor fast 40 Jahren Opfer eines Sexual- und Raubmörders geworden ist. Und Thilo Pietzsch will diesen Fall nun aufklären.
„Moderne Untersuchungsmethoden von Spuren machen das vielleicht möglich“, sagt Pietzsch. Es wäre „Wahnsinn, wenn das klappt“. Die Chancen stehen nicht schlecht.
Renate Pollaczek war 44 Jahre alt, als sie Ende 1985 als Kellnerin in der „Schultheiß-Baude“ in der Galvanistraße begann, einem gutbürgerlichen Viertel in Charlottenburg. Erfahrung in der Gastronomie hatte sie seit 20 Jahren gesammelt.
Der Job in der Kneipe war für sie attraktiv, wohnte sie doch unweit des Lokals. Die „Schultheiß-Baude“ hatte sieben Tage die Woche geöffnet, und mit der Aufschrift an der Fensterscheibe „rund um die Uhr bei Peter“ warb sie 24 Stunden am Tag um Kundschaft.
Renate Pollaczek arbeitete mal am Tage, mal nachts. Am 10. April 1986 hatte sie die Nachtschicht am Tresen übernommen, die erst am nächsten Morgen endet. Wie so oft war sie die einzige Angestellte im Lokal. Eine Waffe oder dergleichen hatte sie nicht bereit gelegt, für den Fall, dass ein Gast übergriffig werden sollte.
Einer Bekannten hatte sie mal verraten, dass sie sich in gefährlichen Situationen nicht zu Wehr setzen, sondern „das über sich ergehen lassen würde“, so steht es in den Akten.
Der letzte Gast war ein Stammgast Der letzte Gast, der die kleine, nur 1,61 Meter messende Frau noch lebend gesehen hatte, war ein Stammgast, ein 49-jähriger Kfz-Meister, der jeden Morgen gegen fünf Uhr kam und die Kneipe bereits meist zehn Minuten später wieder verließ.
Als er an jenem Morgen das Lokal verließ, kehrte dort gerade ein junger Mann ein, den er noch nie gesehen hatte. Den Unbekannten beschrieb er später so: 20 bis 25 Jahre alt, etwa 1,75 Meter groß und muskulös gebaut. War dies der Mörder der alleinstehenden Kellnerin?
Fest steht, dass Renate Pollaczek den Betreiber der Kneipe, der mit seiner Lebensgefährtin ebenfalls in der Galvanistraße wohnte, nicht wie vereinbart telefonisch geweckt hatte.
Deswegen eilte der 39-jährige Lokalbesitzer gegen 7.30 Uhr zur „Schultheiß-Baude“. Er fand seine Mitarbeiterin in der Küchennische. Renate Pollaczek lag auf dem Boden, ein mehrfach gewundenes und verknotetes Geschirrtuch um den Hals. Sie war tot. Der Wirt alarmierte die Polizei.
Die „Auffindesituation“ habe darauf schließen lassen, dass die Kellnerin vergewaltigt worden sei, sagt Staatsanwalt Pietzsch. Die Obduktion am selben Tag bestätigte den Verdacht. Der Mörder hatte aus der Kneipe auch die Kasse mitgehen lassen.
„Geschätzt 150 D-Mark“, sagt Pietzsch. Die beiden goldfarbenen Ringe an den Händen der Frau habe der Täter ebenso wenig mitgenommen wie die Armbanduhr von Renate Pollaczek.
Schon zu jener Zeit war die 4. Mordkommission zuständig, die Ermittler fanden in der Kneipe zahlreiche Spuren. Darunter waren zwei Zigarettenkippen und eine Zigarettenschachtel der Marke Camel. Zudem wurde Sperma bei der Obduktion der Leiche sichergestellt. „Mit Sicherheit stammt es vom Täter“, sagt der Staatsanwalt.
Da die Außenbeleuchtung des Bierlokals noch angeschaltet und die Gardinen zugezogen waren, konnten die Ermittler auch rekonstruieren, wann Renate Pollaczek getötet worden sein musste: Bevor es hell wurde, also zwischen 5.15 Uhr und 6.15 Uhr.
Anhand der Angaben des Stammgastes, der die Kellnerin bei seinem täglichen Kurzbesuch kurz nach 5 Uhr morgens noch lebend gesehen hatte, wurde bei der Polizei ein Phantombild jenes Mannes gefertigt, der nach dem Stammgast in die Kneipe gekommen war.
Vorsichtig blättert Staatsanwalt Pietzsch eine Seite nach der anderen um. Beim Fahndungsaufruf hält er inne. „Die Polizei bittet um Mithilfe – Sexualmord an Kellnerin“ steht auf dem DIN-A4-großen Zettel, der damals überall in der Gegend geklebt und verteilt worden sei.
Darauf ist das Phantombild des Mannes abgedruckt, der von der Kriminalpolizei als dringend tatverdächtig gesucht wurde. „Muskulöser Typ, dunkler Teint (Südländer?), schwarze, kurze Haare, kleiner Oberlippenbart, gepflegtes Äußeres, vermutlich Body-Builder“, lautet die Beschreibung des Tatverdächtigen.
Der Gesuchte habe einen hellen Jogginganzug mit roten Längsstreifen und helle Turnschuhe getragen, heißt es. Die Polizei suchte Zeugen, die den Mann zur fraglichen Zeit in der Galvanistraße, am nahen Einsteinufer oder der Cauerstraße gesehen haben.
Zudem wird für Hinweise, die zur Aufklärung des Verbrechens führen, eine Belohnung von 10.000 D-Mark ausgesetzt. „Das war schon eine beachtliche Summe“, sagt Pietzsch.
86 Hinweise seien nach dem Zeugenaufruf damals eingegangen, sagt der Staatsanwaltschaft. Eine heiße Spur sei nicht darunter gewesen. Pietzsch sagt, dass es damals sechs Tatverdächtige gegeben habe, gegen die seien die Ermittlungen aber relativ schnell wieder eingestellt worden.
„Sie waren es nicht“, sagt Pietsch. Renate Pollaczek war im Kiez beliebt. Zeugen beschrieben die kinderlose Frau als nett, umgänglich und zurückhaltend.
2023 wurden die Akten des Mordfalls wieder herausgeholt. Mit neuesten wissenschaftlichen Methoden konnte ein eindeutig zu einem einzigen Menschen zuzuordnendes Profil der damals sichergestellten DNA vom Sperma erstellt weren. „Wir haben jetzt das Profil, aber es ist nicht in der Datenbank“, sagt Pietzsch.
Zwei Zigarettenlängen für die Tötung Sicher ist, dass der Mann, dem das Sperma zuzuordnen ist, auch die beiden Zigaretten der Marke Camel geraucht hat. Eine Kippe lag neben der Leiche der Kellnerin, die andere im Aschenbecher neben dem Bier, das der Mörder nicht mehr ausgetrunken hat.
Das spricht dafür, dass der Täter sich für die Vergewaltigung und die Tötung von Ranate Pollaczek durchaus Zeit gelassen hat.
Staatsanwalt Thilo Pietzsch gibt nicht auf. Er ist ehrgeizig, was den Mordfall Pollaczek angeht. Nach 39 Jahren will er den Mörder der Kellnerin finden – denn Mord, so betont er, verjähre nicht. Deswegen läuft derzeit eine DNA-Reihenuntersuchung. Männer, die damals alt genug für eine Sexualstraftat waren und in der Gegend der „Schultheiß-Baude“ gelebt haben, werden zum Speicheltest gebeten.
„Wir denken, dass der Mörder von Renate Pollaczek kein Tourist war“, sagt der Staatsanwalt. Er habe damals wohl im Umfeld der Galvanistraße gelebt. Denn die Gegend sei damals keine Urlaubergegend gewesen – schon gar nicht in aller Herrgottsfrühe.
Mittlerweile wurde laut Pietzsch bereits die DNA einer hohen zweistelligen Anzahl von Männern überprüft – auf freiwilliger Basis und mit richterlichem Beschluss. Bisher gab es in der Datenbank noch keinen Treffer.
Aber nicht alle Personen, die potenziell infrage kommen, leben noch in Deutschland. Nach Angaben des Staatsanwalts wurden auch Rechtshilfeersuchen in Thailand, Serbien, Tschechien, Polen und Portugal gestellt.
Auch, wenn infrage kommende Personen bereits verstorben sind, suchen die Ermittler weiter – und nehmen Speichelproben von Verwandten. „Das würde uns zeigen, wenn ein verstorbenes Familienmitglieder der Mörder der Kellnerin gewesen ist“, sagt Thilo Pietzsch. Denn der Mordfall wäre auch geklärt, wenn der Täter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden könne.
Die Kneipe in dem Mietshaus in der Galvanistraße, die damals sonntags ab 9 Uhr zum Frühschoppen lud, gibt es längst nicht mehr.
Das Haus ist saniert, eine Arztpraxis befindet sich in den Räumlichkeiten. Auch im Internet ist kaum noch etwas über die „Schultheiß-Baude“ und den Mord an der Kellnerin zu finden. „Frau Pollaczek verdient es, dass wir das Verbrechen aufklären“, sagt Thilo Pietzsch.