Fr., 13.03.2020 Sascha Quisbrock unterhält in Bielefeld einen Sektionsraum für Rechtsmediziner: Das letzte Geheimnis
Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Wer tief durch die Nase einatmet, kann einen Hauch von Desinfektionsmittel ausmachen. Alles wirkt steril. Das weiße Licht der OP-Leuchte, die Fliesen an den Wänden, der mächtige, blankgewienerte Edelstahltisch in der Mitte des Raumes. Könnte der Tisch sprechen – er wüsste grausame Geschichten zu erzählen. Von totgeschlagenen Frauen, zu Tode geschüttelten Babys, von Erschossenen und Erstochenen, von Giftopfern.
Sascha Quisbrock (43) aus Bielefeld betreibt ein Überführungsunternehmen in zweiter Generation und ist der einzige seines Fachs in Ostwestfalen-Lippe, der einen eigenen Sektionsraum besitzt. Hier obduzieren Rechtsmediziner der Universität Münster Verbrechensopfer aus der Region, aber auch Selbstmörder, Menschen mit unklarer Todesursache und gelegentlich auch Unfalltote.
Sektionsräume gibt es zwar auch in den Krankenhäusern Minden, Gütersloh und Detmold und auf dem Friedhof „Auf dem Dören” in Paderborn. Doch oft lässt die Mordkommission Opfer gleich von Quisbrock abholen und in seinen Untersuchungsraum bringen – weil Bielefeld für die Rechtsmediziner besser zu erreichen ist und die Toten so durch möglichst wenige Hände gehen.
Vielleicht zweimal im Jahr, sagt der Bielefelder, werde sein Raum auch von Privatleuten gemietet. „Es kommt vor, dass eine Familie eine ärztlich festgestellte Todesursache anzweifelt oder genau geklärt haben möchte, woran ein Verwandter denn nun gestorben ist.” In solchen Fällen würden die Rechtsmediziner privat beauftragt. „Die Kosten für so eine Obduktion beginnen bei 1500 Euro”, sagt der 43-Jährige.
Die Idee für einen Sektionsraum habe sein Vater Dieter vor 20 Jahren gehabt. „Damals wurden Verbrechensopfer aus dem Großraum Bielefeld noch auf dem Sennefriedhof obduziert. Da gab es keine Heizung, und es war alles sehr eng.” Nach Rücksprache mit Staatsanwaltschaft und Kripo habe sein Vater 2001 einen fünfstelligen Betrag investiert und in seinem Überführungsunternehmen den Obduktionsraum einrichten lassen.
„Alles nach Vorgaben eines Sachverständigen. Wir haben zum Beispiel im Tisch und auf Höhe des Fußbodens eine Luftabsaugung, damit giftige Gase, die eventuell aus einem Toten entweichen, im besten Fall gar nicht erst die Obduzenten erreichen.” Neben dem Sektionsraum gibt es einen Aufenthaltsraum, von dem aus Staatsanwälte und Kriminalbeamte den Ärzten durch eine große Scheibe zusehen können. Prof. Dr. Heidi Pfeiffer, die Leiterin der Rechtsmedizin Münster, sagt, bei Quisbrock hätten ihre Kollegen und sie die besten Arbeitsbedingungen außerhalb des eigenen Instituts – ein Lob, das den Bielefelder freut.
Innerhalb von 30 Minuten, so sieht es der Vertrag mit der Polizei vor, muss er mit seinen Mitarbeitern am Leichenfundort sein – zumindest im Großraum Bielefeld. Alle Angestellten sind von der Polizei sicherheitsüberprüft und zur Verschwiegenheit verpflichtet. Denn das, was sie an Tatorten sehen und hören, kann Täterwissen sein. Es soll nicht an die Öffentlichkeit gelangen, damit die Kripo Verdächtige, die gestanden haben, nach Details fragen kann, um so das Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen.
Oft werden die Toten noch am Leichenfundort von Rechtsmedizinern oberflächlich untersucht, bevor Sascha Quisbrock und seine Mitarbeiter sie möglichst spurenschonend in reißfeste Plastiksäcke legen und nach Bielefeld-Altenhagen fahren. Hier werden die Leichen in Kühlfächern bei vier Grad aufbewahrt, bis die Rechtsmediziner so weit sind. Ihre Sägen und Skalpelle, ihre Scheren und Schalen, ihre Pinzetten und Pipetten, ihre Plastikschürzen und Einmalhandschuhe – alles das bringen die Ärzte aus Münster mit.
Wenn die Rechtsmediziner anfangen, hat Sascha Quisbrock die Leiche schon entkleidet, gewogen und auf den Sektionstisch gelegt. „Manchmal sind die Ärzte nach einer Stunde fertig, aber meistens dauert es länger. Es gab auch schon Obduktionen, die acht Stunden gedauert haben.” Zum Beispiel, wenn besonders viele Stichwunden auszumessen und zu dokumentieren gewesen seien.
Die Strafprozessordnung regelt, dass zwei Ärzte die Obduktion vorzunehmen haben, von denen mindestens einer Rechtsmediziner sein muss. Vorgeschrieben ist außerdem das Öffnen des Kopfes, der Brust und des Bauchs. Alle Organe werden begutachtet, vermessen und gewogen. Auch Blut, Urin und Haare werden untersucht. Schließlich geht es darum, das vielleicht letzte Geheimnis um den Toten zu lüften. 220 Euro für den Sektionsraum
220 Euro bekommt der Bielefelder für die Nutzung des Sektionsraums – ganz gleich, wie lange eine Obduktion dauert. Die Bergung der Toten und der Transport nach Bielefeld werden extra berechnet, da geht es nach Aufwand. „Besonders schlimm ist es, wenn sich jemand vor einen Zug geworfen hat. Dann müssen wir mit vier Mitarbeitern raus, weil extrem viele Teile zu bergen sind und die Bahnstrecke nicht stundenlang gesperrt bleiben soll.” Solche Einsätze seien nicht einfach und gingen an die Substanz – genauso wie das Bergen toter Kinder, etwa 2014 im Mordfall des fünfjährigen Dano aus Herford. „Du darfst diese Bilder nicht allzu nah an dich heranlassen“, sagt Sascha Quisbrock. „Sonst gehst du irgendwann daran kaputt.” Tote im Erdblock eingefroren
Ab und zu kommt es auch vor, dass der Bielefelder Tote nur mit fremder Hilfe bergen kann, wie im Mordfall Nelli Graf. Die oberflächlich verscharrten sterblichen Überreste der 46 Jahre alten Frau aus Halle wurden im Februar 2012 von einem Landwirt entdeckt – festgefroren im Boden. Sascha Quisbrock: „Nach Absprache mit der Mordkommission hat ein Bauer damals mit schwerem Gerät und der Unterstützung des Technischen Hilfswerks einen Erdblock rund um die Frau ausgehoben.” Dieser gefrorene Klotz mit den sterblichen Überresten sei in seinen Betrieb gebracht worden und dort nach mehreren Tagen aufgetaut. „Erst dann konnte die Obduktion beginnen.”
Gelegentlich, wenn nach einer Obduktion noch Fragen offen sind, nehmen Rechtsmediziner Gewebeproben oder Organe für weitere Untersuchungen mit nach Münster – zum Beispiel, um nach Giften zu suchen.
Nach der Obduktion wird die Leiche sorgsam zugenäht und von der Staatsanwaltschaft freigegeben, damit der Tote bestattet werden kann. „Man darf nicht abstumpfen“
„Bei aller Professionalität, bei aller Routine, bei allem, was man schon gesehen hat: Man darf nicht abstumpfen. Die Würde eines Toten muss immer gewahrt bleiben. Das war ja mal ein Mensch“, sagt Sascha Quisbrock. Das klinge selbstverständlich, aber das sei es nicht. „Die zunehmende Geiz-Mentalität macht selbst vor Verstorbenen nicht mehr halt”, sagt der Bielefelder. Jüngst habe er ein Unfallopfer in seinem Kühlraum aufbewahrt. „Die Familie hat bei irgendeinem Anbieter im Internet eine Billigbestattung mit Verbrennung bestellt. Die Hinterbliebenen wunderten sich dann, als der Verstorbene bei uns mit einem Lieferwagen abgeholt wurde, in dem schon sechs Tote lagen. Die hatte der Fahrer schon vorher irgendwo in Deutschland eingesammelt.“