Elfjähriges Mädchen nimmt sich nach Mobbing in Grundschule das Leben
Eine Schülerin an einer Berliner Grundschule hat sich das Leben genommen und Elternvertreter erheben schwere Vorwürfe gegen die Leitung der Schule. Seit Jahren gebe es massives Mobbing und die Schule schreite nicht ein - auch die verstorbene Schülerin sei gemobbt worden.
Der Beginn der Winterferien sorgt an Schulen normalerweise für gute Laune. Doch in diesem Jahr ist an einer Berliner Grundschule nichts normal. Wie der „Tagesspiegel“ berichtet, ist eine Elfjährige kurz vor Beginn der Ferien an den Folgen eines Suizidversuchs im Krankenhaus gestorben. Die Trauer in der Schule sei groß – doch auch Wut sei aufgekeimt. Denn die Schülerin soll massiv gemobbt und dadurch in den Suizid getrieben worden sein. Die Schule habe auf die Vorfälle nicht reagiert, klagen Elternvertreter an.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über Suizid zu berichten. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 0800-3344533.
„Seit mehr als einem Jahr gibt es massive Mobbingfälle an der Schule“, sagt ein Vater dem „Tagesspiegel“. Das sei vom Elternbeirat und auch von Müttern und Vätern, deren Kinder betroffen waren, auch angesprochen worden. Doch die Schule habe nicht reagiert. Man habe die Fälle abgetan, die gemobbten Kinder „seien ja auch nicht gerade Engel.“ Noch kurz vor dem Tod der Schülerin hätten deren Eltern sogar auf verbale und körperliche Attacken von Mitschülern auf ihre Tochter hingewiesen, die Schulleitung habe danach aber keine Konsequenzen gezogen.
„Es wird beschwichtigt und geschwiegen“ Das auf Mobbing-Hinweise von Eltern nicht oder kaum reagiert wird, hält Thorsten Karge für ein systematisches Problem in Deutschland, das Thema werde verdrängt. „Und wenn dann wie hier in Berlin was ganz Schlimmes passiert, greifen immer die gleichen Mechanismen: Es wird beschwichtigt, geschwiegen oder sogar das Opfer zum Täter gemacht“, sagte der ehemalige Berliner SPD-Abgeordnete dem „Tagesspiegel“.
Noch im vergangenen September habe er in der Nähe der Grundschule eine Anti-Mobbing-Veranstaltung geleitet. 150 Schüler seien anwesend gewesen und man sie gefragt, ob sie wegen Mobbings schon mal an Selbstmord gedacht hätten. Mindestens 25 hätten die Hand gehoben. Von der Grundschule, auf die die verstorbene Schülerin gegangen war, sei aber leider kein einziger Angestellter bei der Veranstaltung gewesen.
Nach dem Bericht des „Tagesspiegels“ läuft ein Todesermittlungsverfahren der Kriminalpolizei, zu weiteren Gewaltdelikten an der Schule mache die Polizei aber noch keine Angaben. Die Schule sei über den Tod informiert, habe für eine Stellungnahme aber nicht zur Verfügung gestanden. Eine Sprecherin der Senatsbildungsverwaltung habe zudem mitgeteilt, dass für die Mitschüler psychologische Betreuung angeboten werde.
Michael Müller "sehr betroffen vom Tod der Schülerin"
Der Fall sorgt über Berlin hinaus für Entsetzen: Ein elfjähriges Mädchen hat sich im Bezirk Reinickendorf das Leben genommen – vermutlich, weil sie an der Hausotter-Grundschule im Reinickendorfer Ortsteil Schönholz gemobbt wurde. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kündigte Aufklärung an. „Ich bin sehr betroffen vom Tod der Schülerin“, sagte er dem Tagesspiegel. „Die Schulverwaltung wird das genau untersuchen.“
Vor der betroffenen Schule versammelten sich am Samstagabend rund 150 Mütter und Väter der Grundschulkinder zu einer Mahnwache. „Mobbing und Gewalt sind, wie ich immer mehr erfahre, seit Jahren ein Thema an unserer Schule“, hieß es zuvor im Aufruf des Vaters eines Mitschülers des toten Mädchens. „Wir sind Vorbilder für unsere Kinder und ich denke, wenn wir als Elternschaft reagieren und uns mit diesem Thema auseinandersetzen, können wir unseren Kindern signalisieren, dass wir ihre Probleme ernst nehmen.“ Ihre Anteilnahme drückten die Eltern mit zahlreichen Trauerkerzen aus, die sie vor dem Schulgebäude neben einem Foto der Elfjährigen anzündeten.
Ja, wir haben Mobbingfälle an der Schule" Auch die Leiterin der Hausotter-Grundschule in Reinickendorf, Daniela Walter, nahm an der Mahnwache teil. Sie erklärte auf Anfrage: "Ja, es gibt Mobbingfälle an der Schule. Diese werden aber keineswegs vertuscht. Wir haben Sozialarbeiter und Konfliktlotsen im Einsatz."
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) teilte dem Tagesspiegel mit: „Ich nehme alle Vorwürfe sehr ernst, und wir werden den Fall, wie andere Trauerfälle auch, umfassend aufarbeiten.“ Gewalt- und Krisenpsychologen seien in die Schule geschickt worden, um mit den Lehrern dort Trauermöglichkeiten auszuarbeiten. Um gegen Mobbing vorzugehen, will Scheeres sogenannte Respekt Coaches an die Schulen schicken. Das Projekt wurde vom Bundesfamilienministerium gestartet und wird mit 23 Millionen Euro gefördert, es soll neben Prävention gegen Mobbing auch politischer Radikalisierung vorbeugen.
Zur Mahnwache an der Reinickendorfer Schule waren am Sonnabend nur Erwachsene eingeladen. Kinder sollten zu Hause bleiben, damit sie nicht weiter traumatisiert würden, sagte Mitinitiator Carsten Stahl. Er trat dort als Sprecher auf, weil er sich sich seit Jahren in Schul-Workshops und einer Fernsehsendung gegen Mobbing engagiert. Stahl sagte, er sei überzeugt, die Politik kümmere sich zu wenig um Mobbing, entsprechende Probleme würden eher heruntergespielt als angegangen. Ihn ärgere auch Senatorin Scheeres: „Sie interessiert sich nicht für das Thema.“ Dabei sei es wichtig, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es ein Problem gebe – erst dann könne man mit der Aufarbeitung anfangen.
Stahl erhielt von Burkard Dregger (CDU) während der Mahnwache Unterstützung: „Wenn sich externe Experten anbieten, dann müssen sich Bildungsverwaltung und Schulen dafür öffnen.“ Dregger ist Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, die betroffene Schule befindet sich zudem in seinem Wahlkreis. „Wir müssen endlich aufwachen und uns an den Schulen explizit und systematisch mit Mobbing befassen.“ Dregger kündigte an, die CDU werde darüber im Abgeordnetenhaus sprechen.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger empfahl auf Anfrage langfristige Lösungen wie einen festen Schulpsychologen. Außerdem sei eine Achtsamkeitskultur wichtig sowie regelmäßiger Austausch zwischen den Lehrern. Wie Stahl sieht auch er den ersten Schritt darin, das Problem zu erkennen. „An jeder Schule gibt es Mobbing“, sagte Meidinger. „Wer das bestreitet lügt entweder oder ist unwissend.“ Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin sagte, frühestens kommende Woche werde man sich zu den Ermittlungen im Fall äußern können.
Hilfsangebote Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.
Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: http://www.telefonseelsorge.de Eine Themenseite finden sie unter tagesspiegel.de/themen/mobbing.