«Cold Cases» aufgewärmt Profiler rollen reihenweise alte Mordfälle auf Tausende mörderische Attacken der letzten Jahrzehnte sind in Deutschland nicht aufgeklärt. Jetzt nehmen sich Profiler die «kalten Fälle» noch einmal vor – und können nicht mehr für möglich gehaltene Erfolge verbuchen.
VON FRANK CHRISTIANSEN (dpa) Claudia O. wurde 1987 umgebracht. Die Ermittler stießen auf Spuren eines Raubmordes, doch den Täter fanden sie nicht. Bis sich Spuren-Spezialisten und Profiler den «Cold Case» aus Lohmar bei Köln nach 30 Jahren noch einmal vorknöpften – und der kalte Fall plötzlich heiß wurde.
Die Ermittler analysierten die Tat noch einmal in allen grausamen Einzelheiten. Dann nahmen sie sich die – immer noch eingelagerten – Asservate vor und untersuchten sie gezielt auf DNA. Sie wurden fündig: Zum Vorschein kam der genetische Fingerabdruck eines bereits wegen anderer Verbrechen verurteilten Doppelmörders. Dessen Entlassung in die Freiheit könnte sich nun deutlich verzögern.
Beispiel Nordrhein-Westfalen: Seit Jahresanfang entsteht im Landeskriminalamt (LKA) des bevölkerungsreichsten Bundeslandes eine neue Datenbank. In ihr werden alle 900 ungelösten Tötungsdelikte seit 1970 gespeichert. Die alten Ermittlungsakten werden dazu digitalisiert. Mordversuche und besondere Vermisstenfälle sind auch dabei – verschwundene Kinder etwa.
Den Familien der Opfer bringt das Gewissheit – das ist nicht zu unterschätzen. Andreas Müller, Chef-Profiler im LKA Düsseldorf, über geklärte Alt-Fälle
«Wir wollen diese Fälle systematisch aufbereiten und ihr Potenzial gemeinsam ausloten», sagt Andreas Müller (56), Chef-Profiler im LKA. Der Fall in Lohmar könnte der erste «Cold Case» werden, den die zehn Profiler des Landeskriminalamts mit der örtlichen Mordkommission auf diesem Weg doch noch aufgeklärt haben.
«Wir prüfen: Ist der Fall lückenlos rekonstruiert? Ist die Motivlage klar? Gibt es Merkmale eines Mordes? Selbst wenn am Ende rauskommt: Es war ein Totschlag, der verjährt ist – der ist dann immerhin kriminalistisch geklärt. Den Familien der Opfer bringt das Gewissheit – das ist nicht zu unterschätzen.»
Mord verjährt nicht. Deswegen wurden auch bislang alte Mordakten immer wieder hervorgeholt: «In der Vergangenheit hat man eine Papierakte bekommen: ‚Hier, ungeklärter Fall. Schau mal drauf’», sagt Müller, selbst langjähriger Mordermittler. «Und wenn eine Alt-Akte aufgeklappt wurde, kam dann oft der aktuelle Mordfall, das Tagesgeschäft, dazwischen.»
Da sind die richtigen Leute am Start. Stephan Harbort, Autor und Serienmord-Experte, über die Spezialisten für «Cold Cases»
Nun werden die Altfälle systematischer angegangen: Tatzeit, Tatort, Opfer, Alter, Motivlagen und Spuren werden in ein Fallbearbeitungssystem übertragen. Müller hat keinen Zweifel an weiteren Erfolgen: «Wir haben schon in der Anfangsphase erste Fälle identifiziert, bei denen die Ermittlungen jetzt wieder aufgenommen werden. Über die können wir noch nicht sprechen. Aber man sieht schon, dass das Werkzeug funktioniert.»
«Grundsätzlich ist das eine gute Sache», sagt der Düsseldorfer Serienmord-Experte Stephan Harbort. «Die haben gute Analyse-Möglichkeiten und da sind die richtigen Leute am Start.» Sogar einigen Serienmördern dürfte man damit auf der Fährte sein: «Fünf Prozent aller Tötungen sind Serientötungen.»
Bei der Aufklärung des Mordes an der zehnjährigen Stephanie in Thüringen haben die NRW-Profiler mitgeholfen. Das Kind war vor 27 Jahren bei Weimar missbraucht und von der Teufelstalbrücke geworfen worden. Der mutmaßliche Täter, ein Lkw-Fahrer, gestand die Tat bei seiner Festnahme vor einigen Monaten in Berlin.
Das ist oft völliger Quatsch. Andreas Müller über die Darstellung der Profiler in TV-Krimis
Die Profiler sind besondere Spurenleser: Ein Team ehemaliger Mordermittler, die speziell fortgebildet sind und auf Spezialisten wie Rechtsmediziner und forensische Psychiater zugreifen können. «Wir kommen dann rein, wenn es für die Mordermittler draußen schwierig wird. Die suchen dann unsere Expertise oder einfach eine zweite Meinung», sagt Müller. «Das muss in dem ein oder anderen Fall einen Mehrwert bringen.»
Im besten Fall gelingt es, aus dem Wust an sichergestelltem Material, das nach einem Mordfall oft säckeweise gesammelt wird, die entscheidenden Stücke herauszufiltern. Denn kein DNA-Labor habe die Kapazität, alles zu untersuchen: «Das wäre viel zu viel.» Daher ist die Verhaltensanalyse so wichtig: «Womit ist der Täter in Berührung gekommen? Und an welcher Stelle?»
Müller erklärt: «Wir rekonstruieren die Tat, das Verhalten des Täters, seine Fähigkeiten und Schwächen. Welcher Täter kommt dafür in Frage, welche physische und psychische Konstitution hat er?»
Mit den Profilern aus dem Fernsehen habe das nicht viel gemein: «Das ist oft völliger Quatsch. Wir können nicht sagen, welches Auto ein Täter fährt oder ob in seinem Vorgarten Rosen wachsen.» Aber oft: «Wie gewalttätig er ist und ob er sich im Griff hat oder nicht, wo er ungefähr wohnt, welches Alter er ungefähr hat.»
Bei der Wiederaufnahme der Ermittlungen nach zwei Morden an jungen Frauen im Raum Velbert und bei Bonn 1979 und 1985 hatten die Profiler ihre Finger ebenfalls im Spiel: «Wir haben das Fall-analytisch bewertet.» Im vergangenen Jahr waren die Fälle, die vermutlich auf das Konto eines Serientäters gehen, im Fernsehen vorgestellt worden, nun werden die eingegangenen Hinweise ausgewertet.
Auch wenn Mord nicht verjährt: Wunder können die Profiler nicht vollbringen. Etliche Altfälle werden kalt bleiben und es nicht schaffen, Profiler wie Müller und die zuständige Mordkommission zu elektrisieren: «Die Leiche wurde nie gefunden, wir haben keine Spuren, es gibt keinen neuen Ansatz – das ist dann kein Fall, der zu priorisieren wäre.»
Münchens Kriminalfälle 254 ungeklärte Tötungsdelikte: Er ist der Pate der Ermordeten Nina Job , 29.09.2018 - 12:31 Uhr
Seit 1960 blieben in München und Umland 254 Tötungsdelikte ungeklärt. Anderswo gibt es Spezialeinheiten, die sich um Cold Cases kümmern. So arbeiten die Münchner Ermittler.
Im Keller der Münchner Mordkommission lagern in einem Raum voller Stahlschränke viele tausend Seiten Akten. Die meisten sind vergilbt und noch auf Schreibmaschine getippt. Hinter jedem Fall verbirgt sich ein gewaltsamer Tod.
Es handelt sich um sogenannte Altfälle oder Cold Cases – Fälle, die die Polizei nicht klären konnte. Seit 2000 nehmen sich die Ermittler der Mordkommission diese Fälle neben ihrer alltäglichen Arbeit wieder vor. In anderen Städten wie Hamburg, Stuttgart oder Köln gibt es dafür mittlerweile Spezialeinheiten. Dies forderte die SPD nun auch für Bayern.
AZ besuchte Mordermittler Helmut Eigner (55) Eigner kümmert sich seit 18 Jahren federführend um Altfälle. Der Erste Kriminalhauptkommissar und seine Kollegen waren in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich: 25 Fälle, die sich zwischen 1960 und 1990 ereignet haben, konnten sie nachträglich klären. "19 Beschuldigte wurden angeklagt und verurteilt. Drei sind gestorben, bevor sie vor Gericht gestellt werden konnten", sagt Eigner.
An der Pinnwand hinter seinem Schreibtisch hängen etwa ein Dutzend Schwarzweiß-Fotos. Auf den meisten sind Frauen zu sehen. Eine junge, blonde sitzt auf einer Wiese und schaut verträumt in die Kamera. Auf einem anderen ist ein Mädchen zu sehen, das sich an diesem Tag extra feingemacht hat. Es trägt einen Rock und Schuhe mit niedrigen Absätzen.
Mörder der kleinen Michaela wurde nie gefasst Das Kind ist Michaela Eisch. Das Foto entstand kurz vor ihrem Tod vor 33 Jahren. Die Achtjährige wurde an der Braunauer Eisenbahnbrücke vergewaltigt und ermordet. Wer ihr das angetan hat, ist bis heute ungeklärt. Auch der Mörder der blonden Frau auf der Wiese konnte nie gefasst werden.
Wenn Helmut Eigner in sein Büro in der Hansastraße kommt, schaut er auf Michaela und die anderen. Für den Ermittler sind die Gesichter tägliche Mahnung: "Wir dürfen sie nicht vergessen!" Auch seine Kollegen in der Mordkommission bearbeiten neben ihrer alltäglichen Arbeit mindestens einen alten Fall. "Jeder Tote hat einen Paten", erklärt Eigner.
Die Aufklärungsquote der Münchner ist sehr hoch, weit über 90 Prozent, auch dank DNA, perfektionierter Spurensicherung und Kriminaltechnik. "Ungeklärte Morde sind mittlerweile nachweisbar sehr selten geworden", sagt Eigner.
Das war früher anders. Seit den 1960er Jahren haben sich 254 Tötungsdelikte in München und im Landkreis ereignet, bei denen die Täter davonkamen. "Die Zahl umfasst auch Versuche, Vermissungen und Unfälle, bei denen vieles für ein Verbrechen spricht."
Um in den Akten, die im Keller lagern, neue Ermittlungsansätze zu finden, braucht es viel Geduld, Akribie und Ausdauer. "Manchmal kommen auch Anfragen oder Hinweise von anderen Dienststellen oder konkrete Hinweise von einem Zeugen", sagt Eigner. Dann werden die Ermittlungen sofort wieder aufgenommen.
Handflächenabdruck brachte Klarheit Im Fall Kornelia S., die am 6. Juli 1985 in der Studentenstadt mit einer Wasserflasche erschlagen worden war, führte ein Handflächenabdruck zum Durchbruch. Er war auf einer Folie abgeheftet in einem Ordner. Der Mörder hatte sich über die 26-jährige, schlafende Frau gebeugt und sich dabei an einer Wand abgestützt. Doch damals konnte der Abdruck niemandem zugeordnet werden. "Es gab nur den direkten Vergleich", erklärt Eigner.
Als der Ermittler den Abdruck Jahrzehnte später wiederfand, ließ er ihn digitalisieren und in die polizeiliche Fingerabdruck-Datei AFIS einstellen. Heute wird das bei jedem Verbrechen gemacht.
Der Computer meldete einen Treffer. Die Spur führte zu Norbert C. Er hatte zur Tatzeit als Spüler im Aumeister gearbeitet. Auf seinem Heimweg war er mehrmals in Erdgeschoss-Wohnungen eingebrochen. Mittlerweile lebte er in NRW und fuhr Lkw.
"Wenn der Spurenverursacher feststeht, dann beginnt die eigentliche Arbeit", sagt Helmut Eigner. "Dann muss man nachweisen, dass er was mit der Tat zu tun hat. Das sind sehr aufwendige kriminalpolizeiliche Ermittlungen." Eines Tages nahmen Eigner und ein Kollege den Verdächtigen in NRW fest. Auf der Fahrt nach München gestand er ihnen den Mord. 2011 wurde C. zu lebenslanger Haft verurteilt.
Manchmal reichen Mischspuren nicht aus: Freispruch! Doch nicht immer landet der ermittelte Täter auch im Gefängnis. "Wenn die Tat lange zurückliegt, gibt es das Problem der Verjährung. Totschlag verjährt zum Beispiel nach 20 Jahren", erklärt Eigner. Manchmal reichen aber auch die Indizien nicht. Der Ermittler erinnert sich an einen Strichermord an einem homosexuellen Geschäftsmann aus der Schweiz im Bahnhofsviertel. Helmut Eigner ist sich sicher, den Täter zu kennen.
Der Mörder hatte die neuen Schuhe des Opfers gestohlen und seine alten, ausgelatschten zurückgelassen. Im Labor der Spurensicherung im Polizeipräsidium konnte eine Mischspur an den alten Asservaten gefunden werden. Die Spur führte zu einem älteren Mann mit krimineller Vergangenheit. Seine DNA passte zur Mischspur, sein Fußabdruck zu Schweißabdrücken in den Schuhen. Doch der Verdächtige stritt alles ab – und kam wieder frei. "Es hat nicht gereicht für eine Anklage. Damit muss man leben", sagt Eigner.
Leben müssen die Altfall-Ermittler auch damit, dass sie alles stehen und liegenlassen müssen, wenn aktuell ein Mord geschieht. Dann bleiben die "Cold Cases" wieder liegen – im schlimmsten Fall monatelang.
Da haben es die Ermittler der neuen Spezialeinheiten in Hamburg oder NRW besser: Sie können sich ausschließlich um die Verbrechen von früher kümmern. Die aktuellen bearbeiten andere.