Ein Ex-Häftling schildert in einem Buch schwere Missstände in der Strafanstalt Pöschwies. Ist er glaubwürdig? SonntagsBlick hat ihn getroffen.
Im Knast gelten keine Gesetze
Das Buch heisst «Im Knast. Ein Bericht». So schlicht der Titel, so irritierend sein Inhalt: Auf 170 Seiten schildert der Autor, der sich Simon Volkart nennt, das Innenleben des grössten Schweizer Gefängnisses, der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies.
Da ist etwa die Geschichte über Volkarts afrikanischen Mithäftling. Er nennt ihn John. John habe während Monaten über höllisches Bauchweh geklagt. Der zuständige Gefängnisarzt jedoch sei untätig geblieben. «Er tat die Schmerzen mit der Diagnose Luft im Bauch ab. Er teilte den Werkmeistern mit, es handle sich um einen Simulanten.» Zwei Wochen später sei John gestorben – an einem fortgeschrittenen Krebsgeschwür in der Magengegend.
Gefangene nennen die Ärzte «Veterinäre». Zuvor habe man ihn nach einem Kollaps ins Spital gebracht. Dann liess die Anstaltsleitung John frei, um ihm, wie sie mitteilte, ein würdiges Ableben zu ermöglichen. Die wahre Absicht allerdings war, so behauptet Volkart, weniger edel: «Der Grund war wohl eher, dass der Tote auf diese Weise nicht im Jahresbericht erwähnt werden musste.»
Volkart war lange im Knast. Seit einiger Zeit ist er ein freier Mann. Insgesamt sass er mehr als ein Jahrzehnt hinter Gittern – wegen eines Tötungsdelikts, das er mit knapp 20 Jahren begangen hatte. Nun zeichnet er das Bild einer Parallelwelt, in der die Gesetze von draussen nicht gelten.
Der Leser erfährt von einem angeblich sadistisch veranlagten Gefängnispsychologen: Der «arbeite in einer Psychiatrie und geniesse seine Macht, indem er Patienten ausquetsche und quäle». Beim Sex mit einem Stricher sei er «derart brutal gewesen und habe derart perverses Zeug durchziehen wollen», dass der Liebesdiener ihn fortan gemieden habe.
Weiter erfährt das Publikum von der chronischen Überbelegung im Erweiterungsbau, von schikanierenden Aufsehern und dem Totschlag in einer Zweierzelle, den die Anstaltsleitung zumindest in Kauf genommen habe – die Verantwortlichen hätten die beiden Streit-hähne, so Volkart, trotz mehrfacher Warnung in eine gemeinsame Zelle gesteckt. Mit anderen Worten: Von Kuscheljustiz kann, wenn man dem Autor glaubt, keine Rede sein. Er hat auch einiges über seine Mitdelinquenten gelernt: «Diamanten kommen häufiger vor als zuverlässige Verbrecher.»
Schnell konnte er zwischen «aufgeblähten Kröten» und «wirklichen Gangstern» unterscheiden: «Die Kröten waren kriminell aus Schwäche, weil es einfacher war, einen Hunderter zu stehlen oder zu rauben, als ihn ehrlich zu verdienen. Die überzeugten Kriminellen waren dies aus Prinzip. Sie glaubten wirklich, im Recht zu sein. Sie waren in gewissem Sinne sogar gerecht. Sie hielten sich an einen Ehrenkodex und würden nie davon abweichen.»Kann man Volkarts Erzählungen glauben? Kann er seine teils heftigen Anschuldigungen belegen? Oder ist hier einer auf Rache an seinen ehemaligen Aufpassern aus?
Geplant war ein Roman
SonntagsBlick traf den Autor am Zürcher Hauptbahnhof. Der Mann widerspricht jedem gängigen Knacki-Klischee: kein tätowierter Anker auf dem Arm, keine Narben im Gesicht, nein. Stattdessen erscheint ein gross gewachsener, gut aussehender Mann. Er spricht eloquent und wirkt selbstsicher. Die Jahre hinter Gittern sind ihm nicht anzusehen; da ist nicht die geringste Unsicherheit zu spüren, nachdem er so viele Jahre in Freiheit verpasst hat.
Er habe, beteuert er, das brillant formulierte Buch selbst geschrieben, ohne Ghostwriter. Im Gefängnis habe er eben viel gelesen, «sicher tausend Bücher». Zu seinen Lieblingen gehören die russischen Klassiker. So bewundert er, mit welchem Gespür Dostojewski die Seelen von Verbrechern erkundet.
Ursprünglich habe er einen Roman schreiben wollen, sagt Volkart. Doch dann sei vom Verlag die Anregung gekommen, seine Erlebnisse zu dokumentieren.
Wie Volkart unumwunden zugibt, enthält das Buch auch fik tive Passagen: Die Deliktgeschichte und der Prozess des Ich-Erzählers sind erfunden. «So will ich meine Identität schützen», sagt er. Hauptsächlich im Interesse seiner Familie. Und schliesslich habe er seine Strafe verbüsst.
Die Personalien des Mannes sind SonntagsBlick bekannt: Er war beileibe kein Chorknabe. Seine Tat hatte er als junger Erwachsener begangen, wofür er um die Jahrtausendwende wegen Mordes verurteilt wurde. «Aber die Vorfälle im Pöschwies haben sich so ereignet», beteuert er.
Und doch: Dass Volkart detailreich eine Geschichte spinnt – der Protagonist im Buch hat im Streit einen «zwielichtigen» Kredithai erstochen –, kennzeichnet zumindest sein Talent für die Erzeugung künstlicher Realitäten. Dazu werden die Anschuldigungen ohne Namensnennung erhoben. Entsprechend hält sich die Zürcher Justizdirektion auf Anfrage bedeckt.
Sie hat durch SonntagsBlick vom Buch erfahren. «Es ist für uns unmöglich, auf den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung zu reagieren, wenn ein geschildertes Ereignis derart weit zurückliegt, wir nicht einmal den Namen des Gefangenen kennen und viele der damaligen Mitarbeitenden gar nicht mehr für uns tätig sind», teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit.
Publiziert am 16.12.2017 | Aktualisiert vor 14 Minuten