Mann landet unschuldig im Gefängnis und verzweifelt an der deutschen Justiz
Donnerstag, 09.11.2017, 09:54
Er habe sich gefühlt wie ein Mann, der im nassen T-Shirt bei Eiseskälte auf die Straße gesetzt wurde, sagt Norbert Kuß. Gedemütigt, schutzlos, verlassen. Der heute 74 Jahre alte Rentner aus dem Saarland hat einen schier endlosen Alptraum hinter sich. Nun bekommt er ganz offiziell die wissenschaftliche Bestätigung: Der Staat hat beim Umgang mit ihm gravierende Fehler gemacht.
Norbert Kuß ist ein Justizopfer. Seine Pflegetochter hat ihn des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Kuß wurde verurteilt, saß knapp zwei Jahre im Gefängnis. Unschuldig. Erst durch enorme Anstrengungen und nur mit viel Glück gelang ihm, dies auch zu beweisen. Hilfe von staatlicher Seite bekam er nicht. „Ich hatte nur mich und meine Frau“, sagte er FOCUS Online.
Eine aktuelle Studie der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) beweist: Kuß ist kein Einzelfall. Justizopfer werden den Autoren zufolge nur unzureichend betreut und entschädigt, berichtete die „Welt am Sonntag“ (WamS) vorab. Die Untersuchung, die heute vorgestellt wird, zeigt demnach auch: Eine gesunde Fehlerkultur existiert in der bundesdeutschen Justiz kaum.
Der Fall:
Norbert Kuß und seine Frau Rita aus dem Städtchen Marpingen hatten bereits zwei Pflegekinder, als sie im Juli 2001 noch die Betreuung von Miriam übernahmen. Die damals 12-Jährige ist lernbehindert und psychisch instabil. Sie hatte bereits als Elfjährige im Heim ihren ersten Geschlechtsverkehr. Bei der Familie Kuß zeigte sie ein aggressives und sexuell auffälliges Verhalten, griff ihren Pflegevater in den Schritt, wie die „WamS“ berichtet.
683 Tage unschuldig im Gefängnis: Justiz-Opfer bekommt Schmerzensgeld
Donnerstag, 23.11.2017, 09:35
Urteil in Berufungsprozess über Schmerzensgeld für Justizopfer Norbert Kuß: Der 74-Jährige saß zwei Jahre unschuldig im Gefängnis. Nun hat ihm ein Gericht 60.000 Euro Schmerzensgeld von einer Sachverständigen zugesprochen, deren Gutachten ihn hinter Gitter gebracht hat. In dem Prozess ging es darum, ob sie bei ihrer Expertise grobe Fehler gemacht hatte. Nach dem Urteil umarmte Kuß seine Frau.
Saarbrücken. Weil er unschuldig im Gefängnis saß, fordert Norbert Kuß von einer Gerichts-Psychologin Schmerzensgeld. Diese holt jetzt das Homburger Institut und ihren Chef mit ins Boot, der das Gutachten ebenfalls abgezeichnet haben soll. Von Michael Jungmann
Genau 683 Tage saß der frühere Bundeswehrbeamte Norbert Kuß (74) aus Marpingen unschuldig im Gefängnis. Eine Pflegetochter hatte den Familienvater des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Eine Strafkammer des Saarbrücker Landgerichts verurteilte Kuß, der immer wieder seine Unschuld beteuerte, am 24. Mai 2004 zu drei Jahren Gefängnis. Die Richter glaubten der Gutachterin Dr. Petra Retz-Junginger vom Homburger Institut für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie. Sie hatte die Aussagen der Pflegetochter als „erlebnisorientiert“ und glaubhaft eingestuft.
Von Dirk Banse, Martin Lutz, Uwe Müller | Veröffentlicht am 04.11.2017
In Deutschland gibt es gravierende Mängel beim Umgang mit zu Unrecht inhaftierten Bürgern: Entschädigungsverfahren dauern lang, die Zahlungen gering. Doch der Staat will nun endlich handeln.
Wer in Deutschland unschuldig im Gefängnis saß, wird laut einer aktuellen Studie nur unzureichend betreut und entschädigt. Die Justizministerkonferenz von Bund und Ländern wird sich deshalb am Donnerstag kommender Woche mit Fehlurteilen in Strafprozessen und einer besseren Entschädigung von zu Unrecht Inhaftierten befassen.
„Kein System ist unfehlbar, auch nicht die Justiz“, sagte Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) der WELT AM SONNTAG und dem Bayerischen Rundfunk. Sie stehe einer Diskussion über eine Erhöhung der Entschädigung offen gegenüber. Der Vorsitzende der Konferenz, der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP), erklärte: „Der Beschlussvorschlag enthält die Forderung nach einer Anhebung.“ Bisher wird ein Hafttag pauschal mit 25 Euro entschädigt. In den Niederlanden ist dieser Satz mehr als doppelt so hoch.
Auf der Justizministerkonferenz wird die Studie der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) präsentiert. Die Gemeinschaftseinrichtung von Bund und Ländern hat alle von Ende 1990 bis Anfang 2017 verfügbaren Fehlurteile ausgewertet. 31 Personen saßen demnach zu Unrecht im Gefängnis. Sie wurden von Gerichten nach einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Dass es nur so wenige Fälle sind, liegt laut Juristen daran, dass solche Verfahren in Deutschland äußerst selten erfolgreich verlaufen.
Ein zentraler Kritikpunkt in der Studie lautet: „Die finanzielle und materielle Entschädigung für lange Haftzeiten, die oft zu einem Verlust der gesamten bürgerlichen Existenz geführt haben, wird als unzureichend eingestuft.“ So dauere ein Entschädigungsverfahren im Schnitt 15 Monate. Zu Unrecht Inhaftierte, die für die Studie befragt wurden, gaben an, das Warten auf eine Zahlung sei „gefühlt endlos“ gewesen. Sie beklagten, „künstliche Verzögerungstaktik“ staatlicher Stellen sei die Regel.
Wolfgang Neskovic, ehemals Richter am Bundesgerichtshof (BGH), nannte den Umgang des Staates mit Opfern von Fehlurteilen „ein trauriges und beschämendes Kapitel deutscher Justizpolitik“. Wenn jemand unschuldig ins Gefängnis müsse, sei das „der Super-GAU der Rechtsstaatlichkeit“.
Ein Entschädigungsbetrag von 25 Euro bezeichnete Neskovic als „beschämend gering“, und er könne „nicht verstehen, dass der Gesetzgeber über so wenig Empathie für unschuldig Verurteilte verfügt“. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, sagte: „Den Betroffenen muss bessere Hilfe gewährt werden. Es sollte auch über eine maßvolle Erhöhung der Entschädigungssätze gesprochen werden.“
Für die Studie wurden neben Strafverteidigern auch Richter und Staatsanwälte interviewt. Doch Letztere zeigten wenig Bereitschaft, zu den Fehlurteilen Stellung zu nehmen.
„Hier blieben die Anfragen zum Teil unbeantwortet beziehungsweise deren Weiterleitung wurde von vorneherein abgelehnt. Als Begründung wurde genannt, dass eine Weitergabe von Informationen aus dem Hause im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie durch inzwischen externe Personen nicht erwünscht sei“, heißt es in der Studie. Ihre Verfasser bemängeln außerdem eine eher skeptische Grundhaltung seitens der Justiz gegenüber dem Forschungsvorhaben.
„Wiederaufnahmeverfahren wie ein Sechser im Lotto“
Einer der gravierendsten Fälle, mit der sich die Autoren der Studie befasst haben, ist jener des Saarländers Norbert Kuß. Er war 2004 vom Landgericht Saarbrücken wegen eines angeblich schweren sexuellen Missbrauchs an seiner damals minderjährigen Pflegetochter verurteilt worden. Fälschlicherweise, wie das Saarländische Oberlandesgericht im November 2013 feststellte: Es sprach Kuß frei.
Sein Anwalt, der Saarbrücker Strafverteidiger Jens Schmidt, erklärte: „Ein gewonnenes Wiederaufnahmeverfahren ist wie ein Sechser im Lotto. Nur in etwa fünf von 1000 Fällen hat ein solches Verfahren Erfolg.“
Bis heute klagt Norbert Kuß gegen die Erstgutachterin, deren umstrittene Expertise mit ausschlaggebend für seine fälschliche Verurteilung gewesen war, auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 80.000 Euro. Das Urteil in zweiter Instanz soll am 23. November verkündet werden.
Norbert Kuß saß unschuldig im Gefängnis - Jetzt traf er seine Gutachterin wieder vor Gericht
Fr., 31. Oktober 2014, 03:04 Uhr
Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 80 000 Euro und etwa 38 000 Euro Schadensersatz fordert Justizopfer Norbert Kuß von einer Gerichtspsychiaterin, deren Gutachten ihn unschuldig ins Gefängnis brachte.
Richter Ulrich Hoschke und seine beiden Kollegen von der dritten Zivilkammer des Landesgerichts Saarbrücken nahmen sich viel Zeit, um die Leidensgeschichte des Justizopfers Norbert Kuß (71) aus erster Hand zu hören. Der frühere Bundeswehrbeamte aus dem Marpinger Ortsteil Alsweiler klagt gegen die Frau, die ihn nach seiner Einschätzung durch ein falsches Gutachten ins Gefängnis gebracht hat. Er fordert Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 80 000 Euro und Schadensersatz in der Größenordnung von 38 000 Euro . Die Sachverständige des Homburger Institutes für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie saß am Donnerstag im Gerichtssaal dem Kläger Kuß gegenüber.
Die Richter hatten ihr persönliches Erscheinen angeordnet. Die wortkarge Frau machte einen durchaus betroffenen, verlegenen Eindruck. Für Kläger Kuß und die Gutachterin war es das erste Wiedersehen nach zehneinhalb Jahren. Im Mai 2004 war Kuß von einer Strafkammer des Landgerichts des mehrfachen sexuellen Missbrauchs an seiner Pflegetochter für schuldig befunden und zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Kuß hatte die Vorwürfe des damals 13-jährigen Mädchens stets vehement bestritten. Basis des Urteils war das Glaubwürdigkeitsgutachten der Gerichtspsychiaterin, die in der damaligen Verhandlung die Aussagen der Pflegetochter als „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ glaubhaft und erlebnisorientiert eingestuft hatte.
Kuß und seine Familie, die wegen des Prozesses und der Inhaftierung wiederholt vor dem Ruin stand, kämpften gegen die langsamen Mühlen der Justiz. Erst das dritte Wiederaufnahmeverfahren war erfolgreich. Im November 2013 erfolgte ein Freispruch erster Klasse – aus „tatsächlichen Gründen“. Zuvor hatte ein anerkannter Sachverständiger aus Freiburg im Gutachten seiner Homburger Kollegin durchaus „gravierende methodische Mängel“ und „Fehleinschätzungen“ nachgewiesen. Daniela Lordt, Anwältin von Kläger Kuß, wirft der Gutachterin vor, sie habe „grob fahrlässig“ gehandelt. Wichtige Fakten, Erkenntnisse und Informationen nicht berücksichtigt. Deshalb sei ihr Mandant unschuldig verurteilt worden und saß 683 Tage in Haft.
Ausführlich ließen sich die Richter von Norbert Kuß schildern, was er als unschuldig verurteilter Kinderschänder hinter Gittern erlebt hatte. „Ich hatte ständig Angst, wurde verbal und körperlich angegriffen.“ Beim Hofgang wurde mit einem schweren Holzklotz nach ihm geworfen. Schlaflosigkeit, Albträume und eine Tinitus-Erkrankung (ständiges Rauschen im Ohr) plagen ihn seit der Haft, berichtete der Mann, der nach dem Urteil zwangsweise aus dem Beamtenverhältnis entfernt worden war und finanzielle Einbußen erlitt. Mittlerweile hat er wieder den Status eines pensionierten Beamten.
Richter Hoschke lässt durchblicken, dass die Argumentation von Anwalt Stephan Krempel, der die Gutachterin vertritt, mögliche Regressforderungen des Klägers seien längst verjährt, kaum Erfolgsaussichten hat. Auch mehreren Beweisanträgen Krempels will die Kammer nicht folgen.
Das Gericht will am 4. Dezember eine Entscheidung verkünden. Erwartet wird, dass ein Sachverständiger beauftragt wird. Justizopfer Kuß hat von der Verhandlung einen „positiven Eindruck“: „Ich bin zufrieden, erwarte, dass mir Schmerzensgeld zugesprochen wird.“