Erich O. hätte es sicherlich weit gebracht, der Junge hatte alle Anlagen dazu. Aufgeweckt und neugierig, ein spitzbübisches Lachen und hellblonde Haare. Doch er hatte keine Chance. Er wurde vor rund 60 Jahren in Großsachsenheim ermordet und in einem Erdloch verscharrt.
Für Sonntag, den 22. Juni 1952, hatte der Wetterdienst „wolkig mit zeitweiligen Auflockerungen“ gemeldet. Tatsächlich schien nach einem verhangenen Morgen am Mittag die Sonne vom stahlblauen Himmel herab. In Kleinsachsenheim fanden bei schönstem Wetter die Sportwerbetage des TSV statt, erfolgreich verlief am gleichen Tag auch das große Gau-Kindertreffen mit mehr als 1300 Beteiligten in Löchgau. In Großsachsenheim freute man sich ebenso über den Sonnenschein, die Heimatvertriebenen aus Siebenbürgen feierten am Mittag im Stadtwald.
Der damals 12-jährige Schüler Erich O. machte sich gegen 12.30 Uhr von Zuhause aus zum Festplatz in Richtung Sersheim auf, es sollte der letzte Tag in seinem Leben sein. Eine Jacke war überflüssig, dem Jungen genügten eine schwarz/weiß-karierte Hose, hellblaues Oberhemd und rote Sportschuhe. Unterwegs schlug er sich vom Feldweg aus mit einem Freund in die Büsche, um Erdbeeren zu pflücken.
Dieser Freund wurde kurz darauf von der Mutter zurückgerufen. Erich blieb allein im nahen Wald zurück und traf aller Wahrscheinlichkeit nach dort kurz darauf auf seinen Mörder. Erich kam nicht mehr zum Fest, nicht mehr nach Hause, erst 17 Tage später sollte seine schnell im Dreck verscharrte Leiche gefunden werden.
Wie Hohn mutet eine Veranstaltung an, die nur vier Tage vor Erichs Verschwinden in Ludwigsburg stattfand. Dort hielt Oberregierungsrat Haas, Leiter des Landesamtes für den Kriminalerkennungsdienst im Südwesten, einen Vortrag zum Thema „Kriminalistik und Verbrechensbekämpfung“. Haas sagte, dass etwa 90 Prozent aller Mord- und Totschlagsverbrechen aufgeklärt werden, wichtig seien die Unterstützung der Bevölkerung bei der Spurensicherung und sachdienliche Hinweise. Auf den Großsachsenheimer Mordfall Erich O. traf dies bis heute nicht zu.
Nachdem der Junge spurlos verschwunden war, liefen bereits Suchaktionen an. Eine größere Abteilung der Landespolizei wurde von zahlreichen Großsachsenheimer Bürgern unterstützt, um auf Feld und Flur, im Wald und an Gewässern eine Spur des Vermissten zu entdecken. Eingesetzt waren auch die obersten Klassen der Volksschule.
Hoffnung setzte man in diesen Stunden in vieles.
So begann die Großsachsenheimer Feuerwehr damit, einen Steinbruchsee im „Täle“ abzupumpen, in den ständig Grundwasser drückte und der den Kindern im Sommer als Freibad diente.
Steinbruchsee im „Täle“ abgepumpt. Aber Erich wurde nicht gefunden.
Man vermutete, Erich sei in diesem See ertrunken, absichtlich, so die Ermittlungen und Vermutungen der Polizei, war der blonde Junge nicht von zu Hause weggelaufen.
Im Ort machte sich inzwischen sehr schnell ein undurchdringlicher Dunst aus der Gerüchteküche breit, ein Rätseln und Raten begann. Vermutet wurde unter anderem eine Entführung. In der Sachsenheimer Bevölkerung erinnerte man sich noch lebhaft an den Fall Monika Gwinner, ein siebenjähriges Mädchen, das im Juni 1950 in Ludwigsburg spurlos verschwand. Herangezogen wurde auch die Verschleppung von zwei Jungen in Erichs Alter, die bei Affalterbach morgens von zwei Männern ins Auto gezerrt und erst mittags in Niefern wieder freigelassen wurden. „Von den Tätern fehlt jede Spur“, hieß es nüchtern bürokratisch im Polizeibericht. Und die unruhige Ungewissheit über den Verbleib des Großsachsenheimer Schülers blieb weiterhin bestehen.
Der Polizeiapparat lief zunächst langsam, aber dann mit voller Wucht an. Am 6. Juli 1952, zwei Wochen nach dem Verschwinden von Erich O., wurden zunächst an allen öffentlichen Plätzen und Straßen Fahndungsplakate ausgehängt und eine Belohnung in Höhe von 2000 Mark ausgesetzt. Am Montag, 7. Juli, waren dann Kriminal- und Landespolizei mit über 300 Mann im Großeinsatz. Mit allen verfügbaren Kräften, von Vaihingen bis Ludwigsburg zusammengezogen, den besten Polizeihunden und der Einbindung aller Dienststellen, bis hinauf zur Landespolizei, wurde das Gebiet zwischen Großsachsenheim, Flugplatzgelände und Sersheim systematisch durchkämmt. Meter um Meter, Reihe um Reihe gingen die Hundertschaften voran. Nichts sollte unversucht gelassen werden, um Licht in den ungeklärten Fall zu bringen und Erich O. zu finden.
Die Suchaktion brachte nach 17 Tagen Ungewissheit schließlich die schreckliche Gewissheit: Der Junge wurde tot aufgefunden. Nicht weit entfernt vom elterlichen Haus und dem Festplatz der Siebenbürger, etwa drei Meter neben einem Feldweg im Gebüsch des Waldrandes in einem Loch verscharrt. Einem Unterwachtmeister aus Göppingen war der eigentümliche Geruch der stark zersetzten Leiche in die Nase gestiegen, der ihn dazu veranlasste, an dieser Stelle noch genauer zu suchen. Außerdem schaute ein Stück Hosenträger aus der notdürftig über der Leiche zusammengescharrten Erde hervor. Ein Indiz, das den Suchtrupps vorher entgangen war.
Nach der Obduktion von Erich O. im damaligen Kreiskrankenhaus Vaihingen/Enz gab es nur noch mehr Fragen, aber überhaupt keine Antworten über die Todesursache. Die Leiche wies weder Würgespuren noch andere äußerliche Verletzungen auf. Die Mordkommission zog auch in Betracht, dass dem Jungen vielleicht Nase und Mund zugehalten wurden, um einen Schrei zu verhindern. Neben diesem fiktiven Erstickungstod zog man auch einen Giftmord in Betracht – alles ohne Ergebnis.
Am Donnerstag, dem 10. Juli 1952, wurde Erich O. unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt. Vor der Predigt von Pfarrer Günzler sangen die Mitschülerinnen und Mitschüler Choräle, Hand in Hand stand man am Grab des Jungen. Der stellvertretende Schulleiter Schweinberger sprach im Namen von Lehrern und Schülern tief erschüttert die Abschiedsworte und legte einen Kranz nieder.
Der Mord war damals eine „furchtbare Sensation“, erinnert sich eine Schulkameradin. In der Klasse sei die Bank von Erich plötzlich leer geblieben, nach dem Verbrechen hätten es die Schulkinder vermieden, mit Fremden zu sprechen.
Der Mörder des Jungen wurde trotz aller Anstrengungen nicht gefunden, obwohl die Polizei fieberhaft an der Aufklärung arbeitete. Ende Juli 1952 brachte man das Verbrechen mit einem 38-jährigen Exhibitionisten in Verbindung, der schon jahrelang sein Unwesen trieb. Er gestand bei den Vernehmungen offenherzig 35 Fälle, bei denen er sich durch unsittliches Verhalten gegenüber Mädchen und Frauen strafbar gemacht hatte, der Mörder des Großsachsenheimer Jungen war dieser Mann jedoch nicht.
Die örtliche Zeitung „Enz- und Metter-Bote“ berichtete laufend über das Verschwinden und die Suche nach Erich O.
Epilog: 1960, acht Jahre nach der Tat, erinnerte man sich in der örtlichen Zeitung „Enz- und Metter-Boten“ noch einmal an den Sachsenheimer Mordfall. Spekuliert wurde über den Sachverhalt des Verbrechens, ohne den Anspruch auf Wahrhaftigkeit zu erheben. So schrieb man den Mord jetzt einem Täter zu, der nicht im Kreis sittlich-krimineller Männer zu suchen sei. Weiter vermutete man, das Opfer sei gar nicht auf dem Weg zum Fest ermordet, seine Leiche an einem anderen Ort versteckt und erst in der Nacht an der Fundstelle im Wald verscharrt worden. Vermutungen, die auch mehr als 60 Jahre später nicht geklärt sind. Der Mörder von Erich O. wird sein schreckliches Geheimnis inzwischen mit ins eigene Grab genommen haben – oder auch nicht.
1952 wurde der 12-jährige Erich O. in Großsachsenheim getötet. Auf dem Foto die Mädchen und Jungen aus der Klasse von Erich O. (Pfeil), Großsachsenheim. Das Foto wurde einige Jahre vor dem Mord aufgenommen.
Im Rahmen meiner Forschungen zur Kriminalhauptstelle Nordwürttemberg habe ich die Originalermittlungssakte im Fall Erich Oelke ausgewertet. Ihre Sachverhaltsdarstellung ist insofern nicht ganz korrekt, dass sich der Hinweis auf das angebliche Erdbeerensammeln gemeinsam mit einem anderen Jungen, kurz vor der Tat, schon im Rahmen der ersten polizeilichen Ermittlungen als falsch erwiesen hat, auch wenn es die Zeitungen so berichten. Erichs Begleiter hatte sich getäuscht, eine Nachvernehmung ergab, dass das Erdbeerensammeln schon am Vormittag, gg. 9 Uhr, stattgefunden hatte. Wesentlicher ist, dass man intenensiv nach einem verdächtigen Radfahrer gefahndet hat, der eine Woche zuvor versucht hatte, in der Nähe ein Kind in den Wald zu locken. Leider liefen die diesbezüglichen Ermittlungen ins Leere