BIETIGHEIM-BISSINGEN Der Mörder, der sich verplapperte
Im Juli 1915 wird im Laiernwald die Leiche einer 22-jährigen Dienstmagd gefunden. Jahre später wird der Mörder gefasst - weil er sich verplappert hat. MARTIN HEIN | 14.05.2016 2 0 0
Das Wetter soll am Wochenende nicht schlecht werden: zeitweise bewölkt, aber vorherrschend trocken und mäßig warm, so die Vorhersage für Samstag und Sonntag, den 3. und 4. Juli 1915. Die Kühe sind gemolken, die noch warme Milch in den Kannen für den Verkauf bereitgestellt. Die 22-jährige Marie Widmaier aus Pfaffenhofen ist seit längerer Zeit als Dienstmagd auf dem Fißlerhof angestellt. Sie macht sich, wie jeden Samstagabend, mit den Milchkannen auf dem Handwagen auf den Weg nach Bietigheim. Beim Bahnhof und in der Stadt verkauft die Dienstmagd Milch. Ein gutes Geschäft, denn wegen des Krieges ist die Versorgungslage angespannt. Gegen neun Uhr erledigt Maria Widmaier noch ein paar Einkäufe in der Stadt. Anschließend macht sie sich mit den leeren Milchkannen auf den Heimweg zum Fißlerhof. Dort kommt sie nie an.
Vergebens warten ihre Bauersleute auf die Rückkehr ihrer Dienstmagd. Die sonst so zuverlässige Maria ist noch Stunden später nicht da. Beunruhigt machen sich die Leute vom Fißlerhof schließlich auf die Suche. Beim Laiernwald, etwa 500 Meter vom Fißlerhof entfernt, an der Abzweigung nach Tamm steht einsam und verlassen der Handwagen mit den Milchkannen. Spuren führen in einen angrenzenden Hafer-Acker. Dort macht in der Nacht die Suchmannschaft eine grausige Entdeckung: Blutüberströmt liegt dort die vermisste Maria Widmaier. Sie ist tot. Sofort alarmieren die geschockten Männer den Bietigheimer Polizeiposten.
Die Polizisten verständigen umgehend die für Mordfälle zuständige Heilbronner Polizeibehörde, riegeln den Fundort ab und bewachen über Nacht den Leichnam. Am nächsten Morgen trifft der Untersuchungsrichter aus Heilbronn am Tatort ein und sichert Spuren. Ein eigens von der Landeszentrale in Stuttgart herbeigebrachter Polizeihund soll die Suche nach dem Täter unterstützen. Nach ersten Erkenntnissen des Heilbronner Richters wurde Maria Widmaier durch Stiche in den Hals und in die Leber getötet. Spuren am Tatort lassen erkennen, dass sich das Mädchen heftig gegen seinen Mörder zur Wehr gesetzt haben muss.
Um den Leib hat Maria Widmaier normalerweise ihre lederne Geldtasche getragen. Sie fehlte. Der Mörder hatte offensichtlich die Lederriemen durchschnitten und die Geldbörse mit den Tageseinahmen gestohlen, die Polizei vermutet etwa 32 Mark in Papier-und Silbergeld. Nach Aufnahme des Tatbestandes durch die Beamten, wird die Leiche des toten Milchmädchens ins Bietigheimer Leichenschauhaus gebracht.
Am Nachmittag des 5. Juli hat die Polizei endlich eine erste Spur. Die Ermittler finden die leere Geldtasche an der Straße zwischen Tamm und Eglosheim. Inzwischen liegen auch genauere Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung des Leichnams vor. Ein durch die linke Brust und die Leber vollständig durchgedrungener Stich und eine tiefe Wunde im Nacken, die bis zur Wirbelsäule reicht, waren laut Gerichtsmediziner tödlich.
"Es wird dringend ersucht, jede zur Ermittelung des Täters dienliche Sache der nächsten Polizeibehörde (Landjägerstelle usw.) anzuzeigen." Mit dieser Formulierung wendet sich die Polizei an die Öffentlichkeit. Der Erfolg ist mäßig.
In Bietigheim hingegen brodelt die Gerüchteküche. In der Stadt kursiert das Gerücht, wonach die Polizei den jungen Bietigheimer Ernst Maier wegen Mordverdachts verhaftet, und eine Hausdurchsuchung durchgeführt habe. Das Gerücht hält sich so hartnäckig, dass Luise Maier, die Mutter des vermeintlich Verdächtigen am 9. Juli im Enz- und Metter-Boten, einem Vorläufer der BZ, eine Anzeige veröffentlicht, in der sie gerichtliche Schritte gegenüber Personen androht, die diese falsche Behauptung weiter verbreiten (Bild links). Tatsache ist, dass an den Verdächtigungen gegenüber Ernst Maier nichts dran ist. Die Polizei kommt nicht voran. Außer der leeren Geldtasche haben die Beamten keine Spur, keinen Hinweis, nichts. Der Mord an Maria Widmaier gerät trotzdem nicht in Vergessenheit.
Ein knappes halbes Jahr später, im Januar 1916 kommt wieder Bewegung in die Ermittlungen. In der Nacht auf den 8. Januar 1916 tötet auf der Feuerbacher Heide der 18-jährige Ditzinger Leonhard Gsandner den Fabrikarbeiter Anton Wetzler und stiehlt dessen Wochenlohn (48 Mark). Die Ermittler sehen Parallelen zum Mord an dem Milchmädchen vom Fißlerhof. Nach eingehenden Vernehmungen stellt sich zwar heraus, dass Gsandner im Juli 1915 auch in Bietigheim war, für die betreffende Tatzeit hat er jedoch ein Alibi. Er kann den Mord an Maria Widmaier nicht verübt haben. Wieder stehen die Polizeibeamten vor dem Nichts. Der Mordfall kann scheinbar nicht gelöst werden. Die Akte verstaubt, es gibt keine neue Spur, die zum Täter führen könnte. Dem Mörder scheint das "perfekte Verbrechen" gelungen zu sein.
Jahre vergehen, bis plötzlich wieder Bewegung in den Fall kommt. Der Mörder wird unvorsichtig. Sein schlechtes Gewissen plagt ihn, er verplappert sich.
Im Juli 1921 melden sich Zementarbeiter aus Lauffen bei der Polizei. Ein Arbeiter macht gegenüber seinen Kollegen auf der Arbeit im Lauffener Zementwerk verdächtige Äußerungen, in denen das vor Jahren ermordete Mädchen Maria Widmaier vorkommt.
Grund genug für die Ermittler, der Spur nachzugehen. Am 15. Juli 1921 schnappen sich die Polizisten den verdächtigen 34-jährigen Zementarbeiter Hermann Kraut und verhören ihn. Es zeigt sich: Die beiden kannten sich von früher: Hermann Kraut stammt aus Güglingen, Maria Widmaier aus dem benachbarten Pfaffenhofen - und Hermann Kraut war im Juli 1915 in Bietigheim beschäftigt.
Plötzlich passt alles zusammen. Die Beamten führen den Tatverdächtigen an die Mordstelle beim Laiernwald, unweit des Fißlerhofes. Hermann Kraut leugnet zunächst die Tat. Die Polizisten bleiben hartnäckig und konfrontieren ihn mit den Aussagen seiner Kollegen. Schließlich gesteht er: Maria Widmaier kam nach seiner Aussage öfter zu einer bestimmten Abendzeit mit Milch vom Fißlerhof nach Bietigheim. Er hat sie dabei sogar immer wieder begleitet - und am 3. Juli 1915 hat er die Dienstmagd erstochen, um sie zu berauben.
35,70 Mark hat er erbeutet, etwas weniger als ein damals üblicher Wochenlohn. Der Mörder zeigt den Polizisten bei der Tatortbegehung sogar die Stelle, an der er nach der Bluttat die zunächst vermisste Geldtasche weggeworfen hat. Er gibt auch zu Protokoll, wo er nach der Tat schlief, und dass er sich am nächsten Tag in Ludwigsburg aufgehalten habe. Bei mehreren Vernehmungen in der Untersuchungshaft legt der Zementarbeiter insgesamt fünfmal ein Geständnis ab. Mehr als genügend Beweismaterial, um Hermann Kraut im Januar 1922 wegen Mordes vor Gericht zu stellen.
In der Verhandlung vor dem Heilbronner Schwurgericht nimmt er die Geständnisse zurück und versucht sich herausreden. Ein Alibi für die Tatzeit hat er jedoch keines, und den genauen Fundort des gestohlenen Geldbeutels konnte auch nur er als Täter kennen. Die Geschworenen machen sich die Urteilsfindung trotzdem nicht leicht und beraten lange, sehr lange. In den späten Nachtstunden verurteilen sie ihn schließlich am 29. Januar 1922 wegen des Mordes an Maria Widmaier zum Tode und zum "dauerndem Ehrverlust".
Hermann Kraut wird sofort nach der Urteilsverkündung in das Ludwigsburger Zuchthaus verlegt. Dem Fallbeil, mit dem zu dieser Zeit Todesurteile vollstreckt werden, entgeht Kraut um Haaresbreite. Nach einem Gnadengesuch wird am 28. März 1922 das Todesurteil umgewandelt, und der Raubmörder zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe begnadigt.
Den Rest seines Lebens verbringt Hermann Kraut mit der Häftlingsnummer 3748 im Ludwigsburger Gefängnis. Im Knast ist Kraut im so genannten Schlafzellenbau untergebracht. Kraut verhält sich zumindest als Sträfling ordentlich, und wird im Knast sogar als Reiniger beschäftigt. Im damaligen Strafvollzug eine privilegierte Tätigkeit. Reiniger sind zu der Zeit für die Sauberkeit der Flure, Gemeinschaftsräume, Bäder und Dienstzimmer der Wachtmeister zuständig.
Hermann Kraut stirbt am 27. August 1939 im Ludwigsburger Gefängnis. Sein Privatbesitz wird nach seinem Tod an seinen Neffen ausgehändigt.
Zusatzinfo Todesstrafe im Württemberg der Weimarer Republik
Gnade In der Weimarer Republik wurden laut Dr. Erich Viehöfer, Leiter des Ludwigsburger Strafvollzugsmuseums, Todesstrafen recht häufig nach Gnadengesuchen in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt.
Guillotine Die Hinrichtungen fanden normalerweise in dem Ort der Urteilsverkündung statt. Die Guillotine, die zum Einsatz kam, wurde in Stuttgart aufbewahrt, und in Kisten verpackt zum jeweiligen Hinrichtungsort verschickt.
Statistik Im Zeitraum von 1906 bis 1920 gab es keine einzige Hinrichtung. 1921 wurden acht Todesurteile vollstreckt, das letzte davon in Heilbronn. Hermann Kraut hätte es also durchaus "treffen" können. In den beiden darauffolgenden Jahren fanden jeweils zwei Hinrichtungen statt. Erst 1926 kam das Fallbeil dann wieder zum Einsatz: Dreimal.