Die Tote am Stinkberg Ein Leichenfund bei der Abfalldeponie Riet in Oberwinterthur gibt der Polizei ein grosses Rätsel auf. Die Spurensicherer finden kaum Blut, obwohl Ursula F. durch gewaltige Hiebe auf den Kopf getötet wurde.
Monica Müller Stefan Hohler Polizeireporter 27.12.2012
Am 4.?Oktober 2005 fährt ein Werkarbeiter gegen 9??Uhr mit dem Traktor die Deponiestrasse entlang. Sie führt zur Abfalldeponie Riet, im Volksmund Stinkberg genannt. Er entdeckt eine Handtasche am Strassenrand, hält an und steigt aus – dann sieht er sie: Auf dem nassen Boden im Unterholz liegt eine zierliche blonde Frau. Sie trägt hellbraune Stiefeletten, blaue Jeans, einen dunkelroten Rollkragenpullover und eine hellbeige Jacke. Erst auf den zweiten Blick wird dem Arbeiter klar, dass die Frau im schmalen Birkenwäldchen tot ist. Ihr Kopf ist zerschmettert.
Einen Raubmord schliesst die Kantonspolizei Zürich schnell aus. In der Handtasche ist das Portemonnaie des Opfers mit sämtlichen Papieren. Am folgenden Tag gibt die Polizei die Identität des Opfers bekannt: Ursula F., 53-jährig, Deutsche. Die Frau war alleinstehend und wohnte in der deutschen Gemeinde Überlingen am Bodensee. Bruchstückweise gelangen in den nächsten Wochen und Monaten Details aus dem Leben der gelernten Hauswirtschaftsgehilfin ans Tageslicht: Die Frau war seit Jahren schwer drogensüchtig und verkehrte in Winterthur am Rondell beim Stadtgarten, wo sich damals Drögeler und Randständige trafen. Als sie ermordet wurde, stand sie unter Methadon, einem Heroin-Ersatzstoff.
Kein typischer Junkie
Ursula F. entsprach nicht dem Bild des ungepflegten Junkies. Laut Bekannten war sie sehr ordentlich, staubsaugte ihre Zimmer zweimal täglich und lebte zurückgezogen in einer Wohnung ihrer inzwischen verstorbenen Eltern. Mit den Nachbarn hatte sie kaum Kontakt. Die letzten Jahre vor ihrem Tod arbeitete sie teilzeitlich in der Altenpflege in Überlingen. Nett und hilfsbereit sei sie gewesen, erinnert sich eine ehemalige Mitarbeiterin. In der idyllisch gelegenen 22'000-Einwohner-Gemeinde mit der mittelalterlichen Altstadt wussten nur wenige von ihrer Drogensucht. Den Stoff beschaffte sich die 53-Jährige stets in Winterthur am Rondell.
Eines ist für die Polizei rasch klar: Der Leichenfundort am Stinkberg war nicht der Tatort. In der Erde finden die Spurensicherer kaum Blut, obwohl die zierliche Frau durch die gewaltigen Hiebe auf den Kopf viel Blut verloren hatte. Ihre Leiche war vermutlich mit einem Auto zu dem schmalen Birkenwäldchen an der Deponiestrasse nahe der Autobahnausfahrt Oberwinterthur transportiert worden.
Ex-Freund als Mörder vermutet
Die Polizei rekonstruiert den letzten Tag der Verstorbenen. Am Nachmittag des 3.?Oktober 2005 verliess Ursula F. ihre Wohnung nahe den Bahngeleisen in Überlingen und fuhr mit dem Ortsbus nach Meersburg am Bodensee. Um 17.45 Uhr sah sie der Buschauffeur. Die Polizei vermutet, dass die Frau mit der Fähre nach Konstanz/Kreuzlingen fuhr und von dort im Zug weiter nach Winterthur. Für diese Version gibt es aber keine Zeugen, die Polizei findet bei der Toten auch kein Bahnbillett. Sicher ist: Am späten Abend um 22.55 Uhr versuchte Ursula F. einen Bekannten anzurufen. Die letzte Verbindung ihres Handys mit einer Antenne war circa drei Kilometer vom Leichenfundort in Oberwinterthur entfernt.
Noch am Tag des Leichenfunds verhaftet die Polizei einen 40-jährigen Mann, ihren Ex-Freund. Einige Tage später erhält die Polizei zwei anonyme Schreiben, die beide den Ex-Freund als «Mörder» bezichtigen. Der Ostschweizer ist der Polizei als drogen- und alkoholabhängiger Mann bekannt. Wie seine Freundin verkehrte er am Winterthurer Rondell. Der 40-Jährige streitet die Tat ab und wird in Untersuchungshaft gesetzt. Knapp drei Wochen später entlässt ihn die Staatsanwaltschaft, weil sie ihm die Tat nicht nachweisen kann.
Auf eine zweite heisse Spur verweisen Taschentücher, welche die Polizei bei der Toten findet. An ihnen haften DNA-Spuren einer Frau aus der Ostschweiz. Die Frau und ihr Ehemann gehörten zum Umfeld der Ermordeten. In der Mordnacht versuchte Ursula F., den Ehemann auf dem Handy zu erreichen. Das Telefonat um 22.55 Uhr war ihr letzter Anruf. Ursula F. hatte Teilzeit in der Pension des Ostschweizer Ehepaars gearbeitet. Anfang Dezember 2005 verhaftet die Polizei die Schweizer Eheleute, die dann etliche Monate in Untersuchungshaft verbringen. Die Staatsanwaltschaft muss das Ehepaar aber wieder auf freien Fuss setzen, weil sie ihnen den Mord nicht anlasten kann.
Eine dritte Mordtheorie skizziert ein von der Zürcher Polizei beigezogener externer Kriminalpsychologe und Profiler. Er vermutet ein «gruppendynamisches Tötungsdelikt mit mehreren Tatbeteiligten», wenn er sagt: «Der Schädel wurde mit grosser Wucht zertrümmert; es muss ein grosser Hass geherrscht haben.» Die Art und Weise, wie die 53-Jährige am Fundort hingelegt wurde, habe eine Symbolik, die auf ein Beziehungsdelikt hinweise. Bei der Toten fand die Polizei eine Handschaufel mit ihrer DNA. Wollte sie mit der Schaufel Drogen vergraben? Hatte sie ein krummes Ding gedreht oder jemanden verpfiffen? Hatte sie Feinde in der Drogenszene?
«Ursel hatte zwei Gesichter»
Ein Bekannter der Getöteten demontiert das Bild der anständigen und freundlichen Drogensüchtigen. «Die Ursel hatte zwei Gesichter. Sie konnte scheissfreundlich sein, aber auch unglaublich brutal.» Geistig und verbal sei sie allen überlegen gewesen, und sie habe ihr Umfeld stets manipuliert, um das zu bekommen, was sie wollte. Immer wieder musste die Polizei ausrücken, weil Ursula F. oder Nachbarn die Notfallnummer wählten. Aus Angst, ihr damaliger gewalttätiger und x-mal vorbestrafter Freund könnte sie totschlagen. Obwohl der 13 Jahre jüngere Mann ihr physisch überlegen war, habe sie ihn in der Hand gehabt, sagt der Bekannte: «Die Ursel konnte die Leute zur Weissglut treiben.» Der Bekannte vermutet, dass beide gedealt haben und sie das Geld verwaltete. Das Paar ging schliesslich getrennte Wege.
Ursula F. begann ihre Drogenlaufbahn schon sehr früh – mit 12, 13 Jahren, verlautet aus dem Umfeld der Familie. Mit 18 Jahren kam sie in München erstmals mit harten Drogen in Kontakt. Als Jugendliche machte sie eine Entziehungskur nach der anderen. Mit dem Methadon-Programm kehrte in den letzten Jahren vor ihrem Tod etwas Ruhe in ihr Leben ein. Sie hatte über ein Integrationsprojekt den Sprung in die Arbeitswelt als Pflegerin alter Menschen geschafft. Trotzdem fuhr sie immer wieder in die Schweiz nach Winterthur, um sich dort Drogen zu beschaffen und einen Kick zu besorgen.
Am 17. November 2005 wird der Fall der ermordeten Deutschen in der Sendung «Aktenzeichen XY?… ungelöst» im ZDF vorgestellt. Die Polizei sucht in der Sendung einen wichtigen Zeugen: Einer Bekannten hatte Ursula F. erzählt, sie wolle mit einem Schweizer im Wohnmobil nach Spanien reisen. Aber auch die Lösung dieses Rätsels bringt die Polizei nicht weiter. Der gesuchte Mann – es war ein Deutscher und kein Schweizer – kannte Ursula F. von früher. Kurz vor der Tat waren sie im September zusammen im Wohnmobil nach Frankreich gefahren. Aber nach vier Tagen kehrten die beiden bereits wieder zurück: «Es war mir zu viel geworden mit ihr», sagte der Mann.
Nach der Sendung meldet sich eine Zuschauerin telefonisch bei der Polizei und bringt einen neuen Verdächtigen ins Spiel – ihren eigenen Ex-Freund. Dieser habe sie gezwungen, sich in der Nähe des Leichenfundortes zu prostituieren. Er sei ein Waffennarr und äusserst brutal. Die Polizei verhaftet den Mann, doch auch diese Spur bringt die Ermittlungen nicht weiter.
Mögliche Mitwisser in Gefahr
Anlässlich des zweiten Jahrestags des Tötungsdelikts bittet die Kantonspolizei Zürich erneut Zeugen, sich zu melden. Diesmal konzentriert sie sich explizit auf die dritte Mordtheorie, die von einem gruppendynamischen Tötungsdelikt ausgeht. Die Polizei warnt mögliche Mitwisser oder Beteiligte, dass auch sie sich in Gefahr befinden könnten und rät ihnen, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen. Doch der Zeugenaufruf bleibt ebenso erfolglos wie die anderen zuvor.
Die Kantonspolizei Zürich hat, oft zusammen mit den deutschen Kollegen, rund 100 Personen als Verdächtige überprüft oder als Zeugen oder Auskunftspersonen befragt. Doch sie kommt nicht weiter. Auch die hohe Belohnung von 10'000 Franken bringt keine brauchbaren Hinweise. Der Mordfall bleibt ungelöst.
Ursula F. ist im Friedhof Überlingen beigesetzt. Eine unauffällige Namenstafel aus Marmor ziert ihr Urnengrab.
Hinweise zum Fall nimmt die Kantonspolizei Zürich (044 247 22 11) entgegen. (Tages-Anzeiger)
Am 4. Oktober 2005 wurde Ursula F. mit zertrümmertem Schädel an einem Strassenrand in der Nähe der Mülldeponie, auch Stinkberg genannt, in Oberwinterthur gefunden. Ein Unbekannter hatte die Leiche dort entsorgt.