Über 20 Jahre ist es her, jetzt haben Kriminalisten den Mordfall um Antje (17?†) und Sandy (1?†) noch einmal aufgerollt. Es gibt auch Kritik am Rechtssystem. "Des Mörders Barthaar" erzählt die Geschichte der Mädchen.
| Artikel veröffentlicht: 06. März 2016 21:53 Uhr | Artikel aktualisiert: 06. März 2016 22:11 Uhr
Torgau. Es ist ein Mord, der in Sachsen Geschichte geschrieben hat. Ein Mord, der auch heute, fast 22 Jahre nach der Tat, noch immer präsent ist. Ein Mord, von dem nur wenige wissen, dass die Kriminalisten irgendwann tatsächlich einen Mörder gefunden haben. Die Rede ist von Antje Köhler (17?†) und ihrer Cousine Sandy Hofmann (1?†). Beide verschwanden am 8. September 1994 in einem Wald bei Torgau, als Sandys Mutter Pilze suchte – drei Wochen später wurden die toten Mädchen in Norddeutschland entdeckt.
Bis heute ranken sich viele Gerüchte um diesen Fall. Auch, weil die Ermittlungen in den Jahren 2002 und 2003 in den größten DNA-Massentest der ostdeutschen Kriminalgeschichte mündeten. 15?000 Männer mussten damals Speichelproben abgeben. „Das war der entscheidende Schritt, endlich die richtige Spur zu finden“, erinnert sich der Kriminalist Hartmut Zerche (56).
Zerche hat damals die Ermittlungen geführt und ist jetzt die Hauptfigur im Buch „Des Mörders Barthaar“, das der Journalist Klaus Keck in der Reihe „Authentische Kriminalfälle“ veröffentlicht, um endlich Klarheit zu schaffen. Zerche will aufklären, ohne etwas schuldig zu sein. Denn der Doppelmord-Fall von Antje und Sandy verdeutlicht: Die Realität hat mit den „Tatort“-Spielereien nichts gemein. „Wir haben uns mit Tausenden Hinweisen aufgerieben, wir konnten lange keine Zusammenhänge erkennen“, erzählt der Kriminalist. Was wie eine Entschuldigung klingen mag, ist in Wahrheit die bittere Realität.
Wäre der Mord zu verhindern gewesen?
Bis heute quält ihn die Frage, ob das Verbrechen nicht zu verhindern gewesen wäre. Seit mittlerweile einem Jahrzehnt gibt er sich die immer gleiche Antwort: Ja, der Doppelmord wäre zu verhindern gewesen. „Das Tragische ist“, sagt er, und das Mitgefühl quillt ihm aus allen Poren, „der Täter hätte gar nicht frei sein dürfen, sondern längst für immer weggesperrt gehört.“ Kritisch sieht Zerche auch das System der Opferentschädigung: Bis heute sind die Familien von Antje und Sandy außen vor – obwohl sie weitere tragische Todesfälle erleben mussten. Deshalb widmen der Kommissar und der Autor das Buch den Familien, denen die Einnahmen daraus zugute kommen sollen.
Der DNA-Massentest hatte die Kriminalisten neun Jahre nach dem Verbrechen zu Gerhard Denkewitz geführt – einem Mann aus Roßlau (Sachsen-Anhalt), der bereits in der DDR wegen Totschlags und versuchter Vergewaltigung verurteilt worden war. Nach der Disco hatte der Maurer, Jahrgang 1958, eine junge Lehrerin überfallen. Nach der Wende kam Denkewitz im Mai 1990 durch eine Amnestie aus dem Gefängnis und tötete kurz darauf seine Lebensgefährtin in Wolfen (Sachsen-Anhalt). Das Urteil: Acht Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Was niemand wusste: Als das Gericht 1995 entschied, hatte dieser Mann bereits Antje und Sandy auf dem Gewissen. Drei Jahre später türmte Denkewitz aus der Psychiatrie, wurde wieder eingefangen.
Fall beschäftigt noch immer
„Dieser Mann hat Frauen gehasst – jede Frau. Ein tragischer Zufall führte ihn zu den beiden Mädchen nach Torgau“, sagt Zerche heute, und es ist ihm anzusehen, wie sehr ihn dieser Fall mehr als zwei Jahrzehnte später mitnimmt. Und die Frage ist auch: Wie viele Frauen hat Denkewitz möglicherweise noch ermordet? Allein von Mitte der 1990er-Jahre sind bundesweit immer noch 30 Vermisstenfälle offen, allein fünf in Ostdeutschland. „Dieser Psychopath ist 16?000 Kilometer quer durch Deutschland gefahren. Man kann sich nicht vorstellen, was alles noch passiert ist“, mutmaßt der Torgauer Kriminalist, der heute als Abteilungsleiter für Bandenkriminalität, Einbrüche sowie Rauschgift-Delikte zuständig ist und auch schon zehn Jahre in Berlin Schwerverbrecher gejagt hat.
Fragen an Denkewitz sind ausgeschlossen: Nachdem ihn zunächst ein Fingerabdruck im Doppelmord-Fall überführt hatte, erhängte er sich in seiner Psychiatriezelle. Ein Barthaar aus dem Rasierpinsel bestätigte schließlich den Verdacht: Dessen DNA war mit einer Spur identisch, die an Sachen der damals 17-jährigen Antje gefunden worden war. Bis in die späten 1990er-Jahre hatte es die Möglichkeit des Gen-Abgleichs nicht gegeben.
"Föderalismus ist hinderlich"
Mit den Möglichkeiten von heute wären ihm die Ermittler vermutlich viel früher auf die Schliche gekommen, meint Zerche – „das ist wie bei einem Puzzle, wenn ein paar Teile fehlen, kann das Bild nicht vollständig erkannt werden“. Die Datenbank des Landeskriminalamtes wurde erst vier Jahre nach dem Doppelmord eingerichtet, auch die Unterstützung des Bundeskriminalamtes war zunächst dürftig. Zudem seien nach der Wende zunächst die bewährten Ermittlungsstrukturen zerschlagen worden, um sie später wieder in ähnlicher Weise aufzubauen, sagt der Kriminalist aus Torgau, und auch, dass der Föderalismus hinderlich sei. „Wir stoßen häufig allein schon an den Grenzen der Bundesländer auf Mauern, damals wie heute. Der Bürokratismus macht uns kaputt.“
Den Job als Mordermittler hat Zerche inzwischen an den Nagel gehängt. Er hat schon zu viele Leichen gesehen. So viele, dass es irgendwann nicht mehr ging. Abgeschlossen hat er dennoch nicht mit seinen schlimmsten Fällen. Neben dem Doppelmord würde er eigentlich gern noch eine Serie von Brandopfern aus den 1990ern aufklären. „Auch daran haben wir über viele Jahre hinweg gearbeitet, ohne einen Schritt vorwärtszukommen. Doch heute fehlt einfach die Zeit, an dem Fall weiterhin dran zu bleiben.“ Bis zur Pensionierung hat Zerche noch sechs Jahre. Er hat begonnen, die verbleibende Zeit zu zählen.
Klaus Keck/Hartmut Zerche: Des Mörders Barthaar, Verlag Das Neue Berlin, 224 Seiten, 12,99 Euro