Seit 30 Jahren Unheimlich: Auf kanadischem Highway verschwinden Frauen 11.06.12, 09:51 Uhr
Prince George - Highway des Schreckens: Auf einem einsamen Highway in der kanadischen Provinz British Columbia verschwinden regelmäßig junge Frauen. Treibt dort ein irrer Serienkiller sein Unwesen?
Laut der britischen Zeitung "Daily Mail" verschwanden dort in den letzten 30 Jahren 43 Frauen. Rätselhaft: Niemals fand die Polizei eine Spur von ihnen. Auch gibt es bisher nicht einen einzigen Verdächtigen.
Viele Kanadier sind fest davon überzeugt, dass ein verrückter Mörder auf der einsamen Straße Jagd auf junge Frauen macht. Beweise haben sie nicht.
Wieder andere behaupten, die Frauen wären Opfer der rauen und abgeschiedenen Gegend geworden. Sie hätten sich verirrt und nie wieder den Weg nach Hause zurück gefunden. An vielen Stellen gebe es nämlich kein Mobilfunknetz.
Der letzte Fall stammt aus dem Jahr 2011. Im Mai kehrte die 20-Jährige Madison nie von einer Party zurück. Die Polizei fand zwar ihr Auto, doch von Madison keine Spur. Ihre Familie ist verzweifelt.
Überall am "Highway of Tears", wie einheimische die Straße nennen, sind mittlerweile Warnschilder angebracht: "Mädchen, geht nicht trampen! Mörder auf freiem Fuß!"
Der Polizei sind die Hände gebunden. Die Beamten hoffen täglich auf Hinweise, die zur Aufklärung der mysteriösen Verschwinden beitragen können.
Die kanadische Pazifikprovinz British Columbia ist von den Mordfällen und Vermisstmeldungen indianischer Frauen besonders betroffen. Zahlreiche von ihnen verschwanden entlang des Highway 16, der vom Küstenort Prince Rupert ins Landesinnere führt und inzwischen als „Highway of Tears“ traurige Berühmtheit erlangt hat.
Die Liste der verschwunden und ermordeten Frauen in British Columbia steht beispielhaft für das Schicksal der indianischen Frauen in Kanada.
Seit Jahrzehnten werden auf einem kanadischen Highway junge Frauen umgebracht. Die meisten Opfer sind indianischer Abstammung. Eine heiße Spur nach den Tätern gibt es bis heute nicht. Doch erst jetzt geraten die Behörden unter Druck. Und es gibt auch noch andere Verbrechen mit einem ähnlichen Muster. Von Ansgar Graw
Es war ein Abschied wie an einem ganz normalen Schultag. "Bye, Mammi", sagte die 15-jährige Ramona Wilson. "Bye, Baby", antwortete Matilda Wilson. Der letzte Wortwechsel zwischen Tochter und Mutter. Der allerletzte. Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren brach auf zur Schulabschlussfeier im Nachbarort, 18 Kilometer entfernt. Ramona hatte um Geld für den Bus gebeten. Aber das Portemonnaie der Mutter war leer. Darum stellte sich das Mädchen an den Highway 16 in der kanadischen Provinz British Columbia, um zu trampen. Wie so oft.
Doch dieser 11. Juni 1994 war nicht normal. Ramona kam auf der Party nie an. Sie kehrte auch nicht heim. Sie war einfach verschwunden. Die Polizei zeigte zunächst wenig Bereitschaft, nach dem Mädchen zu suchen. "Teenager hauen ständig ab", bekam Mutter Wilson nach ihrer Erinnerung auf der Wache zu hören, "wahrscheinlich hat sie sich gelangweilt wegen der fehlenden Möglichkeiten hier in der Gegend".
Am 10. April 1995, zehn Monate nach dem letzten Bye-bye, fanden zwei Radfahrer Ramona. Ihre mumifizierte Leiche lag unter einem Holzstapel, ganz in der Nähe des Highways 16 und dicht am Flughafen des Ortes Smithers, von dem aus sie zum Trampen aufgebrochen war. Reste der braunen Haare lagen noch um die Schultern des indianischen Mädchens.
Der Highway der Tränen
724 Kilometer lang ist der Highway 16, der die Ortschaften Prince Rupert nahe der Grenze zu Alaska und Prince George im Osten verbindet. Es ist der Highway der Tränen. Ramona Wilson ist nur ein Name in einer langen Reihe junger Mädchen und Frauen, die entlang dieser Straße verschwanden. In den letzten 38 Jahren sollen es mindestens 30 gewesen sein. Mindestens 18 Fälle werden aktuell untersucht. Und es gibt in anderen Teilen Kanadas Verbrechen an Frauen, die dem Muster der Highway-16-Taten entsprechen.
Polizei und Behörden ließen es oft an Eifer fehlen, weil die meisten Opfer indianischer Abstammung seien, behaupten die Angehörigen von Opfern. Um Gerechtigkeit und eine intensivere Untersuchung der Fälle zu fordern, sind die Organisatoren eines "Walk4justice" im Mai und Juni mit bis zu 1000 Gleichgesinnten rund 1500 Kilometer durch Kanada und entlang des Highways der Tränen marschiert. Im ganzen Land, so sagt Gladys Radek, Mitinitiatorin des "Marschs für Gerechtigkeit", seien gar 3000 Frauen aus indianischen Familien verschwunden oder ermordet worden, ohne dass es Verhaftungen gegeben habe.
Die Behörden bestreiten ein reduziertes Aufklärungsinteresse vehement. Aber Erfolge können sie entlang dem Highway der Tränen auch nicht vorweisen. Es gibt Phantomzeichnungen von zwei Männern, die sich am Highway und auf Frauentoiletten verdächtig verhalten haben. Doch es ist nicht einmal klar, ob die 18 verschwundenen Frauen auf das Konto eines Serienmörders gehen.
Eine heiße Spur gibt es bis heute nicht
Aleiah Saric-Auger war erst 14, als sie am 2..Februar 2006 zuletzt von ihrer Familie gesehen wurde. Ihre Leiche wurde acht Tage später in einem Bachbett am Highway 16 gefunden, rund 15 Kilometer von Prince George entfernt. 37 Polizisten wurden für die Fahndung eingesetzt. Eine heiße Spur haben sie bis heute nicht.
Auf das Schicksal von Lana Derrick, die als 19-Jährige am 7..Oktober 1995 verschwand, gibt es bis heute überhaupt keinen Hinweis. Die Studentin wurde zuletzt mit ihrem Auto an einer Tankstelle bei Terrace auf dem Highway 16 gesehen. Ebenso spurlos blieb das Verschwinden von Nicole Hoar. Die 25-jährige Baumzüchterin wollte am 21..Juni 2002 per Anhalter von Prince George zum Flughafen von Smithers gelangen. Hoar ist unter den 18 aktuell untersuchten Fällen die erste Frau nicht indianischer Herkunft. Mit ihrem mysteriösen Schicksal kam der Begriff vom Highway der Tränen auf.
Die Angehörigen der Verschollenen oder Ermordeten versuchen regelmäßig, auf ihre Schicksale aufmerksam machen. Zum Beispiel am 17. September 2005, als sie entlang dem gesamten Highway in nahezu allen Orten identische Protestaktionen durchführten. "Wir holen uns den Highway zurück", lautete ihr zentraler Slogan. Immerhin schien Optimismus angebracht. Der damals aktuellste Fall, der von Nicole Hoar, lag immerhin drei Jahre zurück. Endlich schien Ruhe auf dem Highway der Tränen eingekehrt zu sein.
Die Illusion hielt vier Tage. Dann, am 21. September, beobachteten Zeugen die 22-jährige Tamara Chipman, die auf dem Highway 16 in der Nähe des Industrieparks von St. Rupert trampte. Seitdem ist Tamara spurlos verschwunden.
Brenda Wilson hat auf dem, Highway Nummer 16, dem Highway of Tears, ihre Schwester Ramona verloren. Gut 20 Jahre ist das her. Aber bis heute hat sie ihren Tod nicht überwunden. Wir begeben uns mit ihr auf eine Reise zurück in den Schmerz, in die Wut und in die Schuld: "Ich bin nach dem Tod meiner Schwester völlig zusammengebrochen. Ich bin damals zur Alkoholikerin geworden , ich fühlte mich mitschuldig. Ich habe sie doch mit großgezogen und nun hatte ich nicht genügend auf sie augepasst", sagt Brenda Wilson.
Polizie reagierte nicht Brenda Wilson.Brenda Wilsons Schwester Ramona wurde ermordet. Am 11. Juni 1994 war Ramona Wilson von zu Hause aufgebrochen, um im Nachbarort tanzen zu gehen. Öffentliche Verkehrsmittel gab es an dem Highway 16 nicht, sie gibt es bis heute nicht. Also trampte sie. Was dann geschah, ist bis heute nicht aufgeklärt. Der Grund dafür könnte an ihrer Hautfarbe liegen. Ramona ist eine von 43 Frauen, die auf dieser Strecke verschwunden sind, fast alle diese Frauen waren nicht weiß , sie waren Kinder aus First-Nation-Familien, so nennen die Kanadier ihre Ureinwohner.
Es hatte damals Tage gedauert, bis die Polizei die Vermisstenanzeige im Fall Ramona ernst nahm. "Als wir die Polizei alarmiert haben, da haben die einfach nicht reagiert, da gab es keine klaren Vorschriften, wie sie mit Vermisstenanzeigen umzugehen haben", erzählt Brenda Wilson. Mordrate vier Mal höher als bei weißen Frauen
Matilda Wilson.Die Erinnerungen bringen den Schmerz zurück: Matilda Wilson, Ramonas Mutter. Ortswechsel. Vancouver – 100 brechen zum Protestmarsch auf, so wie jedes Jahr. Überall im Land marschieren sie und halten die Bilder der ermordeten und vermissten Frauen hoch. Der Highway of Tears ist überall in Kanada: In den letzten 25 Jahren sind 1.181 Frauen von den First Nations verschwunden , die Mordrate liegt bei ihnen vier Mal höher als bei weißen Frauen und die Aufklärungsrate der Polizei geht gegen Null. "Das Vertrauen zwischen uns und der Polizei ist zerstört – seit langem und es wird sehr lange dauern, bis dieses Vertrauen wiederhergestellt ist", sagt Brenda Wilson.
Sie bringt uns zu ihrer Mutter Matilda. Sie lebt heute in ärmlichen Verhältnissen. Sie hat die Gedichte herausgeholt, die Ramona als junges Mädchen geschrieben hatte . Die Wände sind gespickt mit Erinnerungen an die verlorene Tochter. Ramona war außergewöhnlich klug, sie wollte Psychologie studieren. Ihre Mutter – ein Leben lang alkoholkrank – hatte die Erziehung weitgehend Brenda , der zwölf Jahre älteren Schwester, überlassen Die Gedichte bringen den Schmerz wieder hoch, und die Erinnerung, dass Ramona damals darum gebeten hatte, mit dem Auto zum Tanzen gebracht zu werden und keiner Zeit für sie hatte. "Sie war so fröhlich und lebensfroh, mit ihr ist die Freude aus unserem Leben verschwunden", sagt Matilda Wilson. Am Flughafen von Smithers, unweit der Stelle, wo sie verschwunden war, fand man acht Monate später ihre Leiche. Die Polizei, mit den vielen Mordfällen an dem Highway Nummer 16 völlig überlastet, stellte die Ermittlungen bald ein.
Überforderte und rassistische Polizei Ray MichalkDer ehemalige Polizist Ray Michalko ist heute Privatdetektiv. Ray Michalko war lange Jahre Polizist. Heute ist er Privatdetektiv. Das offensichtliche Versagen bei der Aufklärung der vielen Mordfälle an jungen Frauen ließ ihm keine Ruhe . Er fing an, selber zu ermitteln und stieß auf den erbitterten Widerstand bei den alten Kollegen. Die Polizeiführung, so sagt er, sei überfordert und rassistisch: "Mathilda Wilson hat einmal gesagt, wie hätte die Polizei ermittelt, wenn die Tote blauäugig und blond gewesen wäre und sie hat leider vollkommen recht. Das ging von ganz oben in der Polizeiführung aus."
Brenda ist den Highway 16 entlang gelaufen – immer wieder als Therapie. Sie hat ihre Alkoholkrankheit überwunden, sie ist zu einer Aktivistin geworden, Sie hält die Erinnerung an ihre ermordete Schwester und all die anderen Opfer wach. Vielleicht gibt es ja doch noch Spuren, die zu den Tätern führen. Und deshalb arbeitet sie heute direkt mit der Polizei zusammen, besucht die Familien der Opfer und baut Brücken. Das Mißtrauen dort sitzt tief, die Erfahrungen schmerzen. Aus Sicht der First-Nation-Familien agiert die Polizei seit Jahrzehnten offen rassistisch
"Wir haben und geändert" "Ja, wir haben Fehler gemacht und dafür sollten wir uns entschuldigen. Die Familien sollten wissen, kein Mordfall verjährt. Wir haben uns geändert und sind heute für sie da. Eine Entschuldigung wäre ein erster, ein großer Schritt , um das Verhältnis zu verbessern", sagt Polizist Jason Gilles. Ramona liegt in Smithers begraben – unter Apfelbäumen Mathilda und Brenda halten ihr Andenken aufrecht . Der Tod der Schwester hat Brendas Leben eine Richtung gegeben . Er hat sie zu einer Kämpferin gegen Gewalt und Rassismus gemacht: "Das bin ich meiner Schwester schuldig, stark zu sein. So kann ich den Schmerz überwinden, in dem ich zeige, zu was ich fähig bin."