Berlin Unaufgeklärte Morde: Der stille Geschäftsmann
26.03.2001 00:00 Uhr Von Katja Füchsel
Vogelgezwitscher, das Rauschen der Blätter im Wind, zuweilen auch mal ein Auto. Aber dieser Knall, der am späten Nachmittag in der Zehlendorfer Nebenstraße die Stille zerriss, passte nicht zu der hier üblichen Geräuschkulisse. Die Menschen mögen in ihren 30er-Jahre-Villen kurz aufgeschaut und sich dann gesagt haben: natürlich, eine Fehlzündung. Jeder andere Schluss lag zu fern. "Keiner der Nachbarn konnte den Knall richtig zuordnen", sagt auch Norbert Preuschoff, Chef der neunten Mordkommission.
Es war der Moment, als Piotr Blumenstock zwischen den Bäumen des kleinen Parks zusammenbrach. Eine Kugel hatte dem Zehlendorfer am 6. Mai 1999 auf seinem Heimweg den Kopf durchschlagen. Als eine Radfahrerin wenig später den schwer Verletzten entdeckte, war es für ihn bereits zu spät: Blumenstock starb drei Tage später im Krankenhaus. Er war ein stiller, höflicher Geschäftsmann gewesen, der bei seinen deutschen Partnern einen untadeligen Ruf genoss. "Blumenstock hat niemand übers Ohr gehauen, eher im Gegenteil", sagt Norbert Preuschoff und zieht das Foto des Opfers aus der Akte: dunkles Haar, Fransenpony, die dunklen Augen blicken freundlich in die Kamera.
Ein umgänglicher Mensch
Piotr Blumenstock lebte mit seiner dreiköpfigen Familie seit Jahren in der 30er-Jahre-Hufeisensiedlung an der Albigerstraße. Auf der Wiese im Hof der Siedlung treffen sich die Nachbarn auch heute noch im Sommer, um gemeinsam zu grillen, zu essen und zu feiern. "Da haben wir auch mit Piotr die ein oder andere Tasse gehoben", sagt einer der Wohnungseigentümer.
Blumenstock, der in Warschau geboren wurde und seit Jahrzehnten die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, sei ein umgänglicher Mensch gewesen, auch, wenn er "immer einen etwas dubiosen Eindruck" vermittelt habe. Mit seiner Firma, den regelmäßigen Fahrten in den ehemaligen Ostblock und mancher Gepflogenheit. "Piotr trug beispielsweise kein Portmonee, sondern die Geldscheine dick gebündelt in der Hosentasche", erzählt ein Nachbar. Außerdem seien dem Geschäftsmann vor dem Mord mehrmals die Reifen seines Mercedes-Geländewages zerstochen worden.
Blumenstock handelte mit Pharmazeutika, das Firmenbüro lag ebenfalls in der Hufeisensiedlung. Seine Ware kaufte der Unternehmer in Westdeutschland an, zum Verkauf transportierten er oder sein Angestellter die homöopatischen Mittel mit einem Lastwagen nach Osteuropa. Das Geschäft schien gut zu laufen, so gut, dass Piotr Blumenstock nicht jedes Mal auf fristgerechte Auszahlung angewiesen war. Preuschoff: "Zum Zeitpunkt seines Todes standen bei seinen osteuropäischen Partnern erhebliche Summen offen, mehrere hundertausend Mark."
Vielleicht weigerte sich einer von Blumenstocks Schuldnern zu zahlen. Vielleicht wurde der Unternehmer erpresst. Vielleicht wollte ein Konkurrent aber auch seinen lukrativen Markt übernehmen. Blumenstocks Frau wusste nichts über die Geschäfte ihres Mannes. "Sie verdächtigte die Schwester des Opfers", sagt Preuschoff. Weil die Geschwister nach den Angaben der Witwe seit Monaten bitterlich gestritten hatten, zögerten die Ermittler nicht: Noch am Abend des 6. Mai nahmen sie die Schwester, ihren Lebensgefährten und Mitbewohner fest - allerdings nur für die Dauer einer Nacht. Denn die Ermittler konnten bei Festgenommenen nichts Verdächtiges finden: keine Waffe, keine Schmauchspuren, auch die Alibis klangen glaubhaft.
In anderen Wohngegenden wären Preuschoff und seine Leute bei den Von-Haus-zu-Haus-Befragungen leer ausgegangen, die Zehlendorfer Anwohner hingegen hatten Interessantes zu berichten. Einige von ihnen hatten in den Wochen vor dem Mord einen weinroten Passat bemerkt, der immer mal wieder mit einem Fremden am Steuer am Straßenrand parkte. Die Nachbarn beschrieben übereinstimmend einen Mann mit Basecap im Fond, die angefertigten Phantombildzeichnungen halfen aber nicht weiter. "Da sah jede Zeichnung anders aus", sagt Preuschoff.
Ein anderer Nachbar erwies sich als hilfreicher: Er hatte sich das Kennzeichen des verdächtigen Passats notiert. Die Polizei fand den als gestohlen gemeldeten Wagen wenige Tage später in der Nähe des Olivaer Platzes. Verlassen, aber nicht leer. "Wir haben Spuren des Verdächtigen sichern können", sagt Preuschoff. Zu dem entschlüsselten genetischen Fingerabdruck fand sich bislang allerdings kein Pendant in der Datenbank.
Blumenstocks damals 42-jährige Witwe sagte der Polizei, dass ihr Mann dem Attentäter geradezu arglos entgegengetreten sein muss. Sie und der 13-jährige Sohn jedenfalls hatten an Piotr Blumenstock damals nichts Außergewöhnliches bemerkt. Sie wussten von keiner Erpressung, keiner Drohung und erinnerten sich lediglich an ein paar mysteriöse Anrufe: Zwei Russen hatten sich bei der Ehefrau mehrmals nach ihrem abwesenden Mann erkundigt, meldeten aber zur verabredeten Zeit nicht wieder. Eine Banalität, die erst durch den Mord an Bedeutung gewann.
Der Fremde im Passat, die Anrufe, der Kopfschuss im Park: Alles deutet daraufhin, dass Blumenstock Opfer eines sorgfältig geplanten Auftragsmordes wurde. Preuschoff vermutet die Hintermänner in Warschau, Lettland oder Litauen. Ein Rechtshilfeersuchen ist gestellt, den Behörden jenseits der Grenze fehlt aber offenbar die nötige Entschlossenheit.
Ein winziger Trost bleibt dem Chef der "Neunten": Sollte es der Mörder damals tatsächlich auf Blumenstocks Einnahmequelle abgesehen haben, dürfte er leer ausgegangen sein: "Seine ehemaligen Partner aus Westdeutschland wickeln den Handel jetzt über eine Firma in der Schweiz ab."
Soko Blumenstock - Am 6. Mai 1999 wird in Berlin Zehlendorf der Arzt Piotr Blumenstock auf dem Weg von seiner Garage nach Hause in einer kleinen Grünanlage erschossen. Der 45-jährige Deutsche polnischer Herkunft betrieb eine Firma, die pflanzliche Medikamente ins osteuropäische Ausland wie Litauen, Polen, Lettland exportierte. Er plante eine Ausweitung der Geschäfte auf Russland und Tschechien. Das Opfer wurde vor der Tat über mehrere Wochen aus einem gestohlenen Pkw heraus beobachtet. Das Auto sowie die Insassen fielen den Anwohnern auf. Das Fahrzeug der Täter, ein gestohlener VW Passat, wurde kurz nach dem Mord am Olivaer Platz in Berlin sichergestellt.
Auftragsmord in Zehlendorf Zwei Schüsse in den Kopf Von Rolf Kremming
Mysteriöser Mord: zwei Schüsse im Kopf
Christof Lehmkühler von der 5. Mordkommission hat die Hoffnung nicht aufgegeben, den Fall Blumenstock doch noch lösen zu können.
Erstmals seit sieben Jahren ist die Zahl der erfassten Straftaten in Deutschland leicht gestiegen. Das belegt die vor drei Monaten vorgestellte „Polizeiliche Kriminalstatistik“ 2011. Längerfristig gesehen, seit 1993, gibt es weniger Kriminalität (minus 11,3%) und mehr Aufklärung (plus 10,9%). Es sind unter den ungelösten Fällen Verbrechen und Schicksale, die selbst hartgesottene Ermittler nicht loslassen. In einer 6-teiligen Serie stellt der KURIER sechs Fälle aus Berlin vor. Und Sie können vielleicht helfen, einen zu lösen.
Das Geräusch gehörte nicht hierher. Da war sich Frau Blumenstock sicher. Ein Knall, und noch einer, so als hätte ein Moped eine Fehlzündung gehabt. Irritierend, nicht beunruhigend. Wenig später laute Motorengeräusche. Neugierig schaute sie aus dem Fenster und sah, wie ein Rettungshubschrauber zu landen versuchte.
Ein Mann war erschossen worden in der kleinen Parkanlage Von-Luck-Straße/Im Mittelbusch in Zehlendorf. Der Täter hatte offenbar hinter einem Busch oder einem Baum gelauert. Zwei Schüsse in den Kopf. Frau Blumenstock konnte nicht ahnen, dass es ihr Mann war, der wenige Meter von ihr entfernt auf dem Rasen lag. Und dass ihr elfjähriger Sohn diesen Mann als seinen Vater erkannte. Erst als ein paar Minuten später ihr Sohn und eine Nachbarin vor der Tür standen, spürte sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
„Mein Sohn schrie immer wieder: Mama, ruf Papa an, bitte, ruf ihn an, du wirst sehen, er geht nicht ans Telefon!“, erzählte Frau Blumenstock in einem Interview mit RTL, bei dem sie weder ihr Gesicht zeigte noch ihren Vornamen nannte. Sie hat Angst.
Dr. Piotr Blumenstock (45) starb drei Tage später, am 9. Mai 1999, im Krankenhaus, ohne sein Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Einige Wochen zuvor: Der ältere Herr mit dem Pudel lief zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde an dem aubergine-farbigen VW Passat Variant in der Von-Luck-Straße vorbei und wunderte sich. Auch anderen Anwohnern war das Auto schon aufgefallen. Mal saßen zwei Männer drin, mal wieder ein Pärchen. Keiner dachte sich ernsthaft etwas dabei. Erst als das Verbrechen vor ihrer Haustür geschehen war, meldeten sie ihre Beobachtungen der Polizei.
Christof Lehmkühler, Sachbearbeiter der 5. Mordkommission, und sein Team ermittelten: Der Passat war gestohlen und nach der Tat am Olivaer Platz abgestellt worden. Bei den Blumenstocks waren die Wochen vor dem für sie so furchtbaren 6. Mai ernst. Saß die Familie früher oft gemeinsam am Abendbrottisch und redete über Schule, Arbeit und den alltäglichen Kram, so schwieg Piotr Blumenstock jetzt oft.
„Piotr und ich haben sonst oft abends zusammengesessen, ein Glas Wein getrunken, uns unterhalten, gespielt oder ferngesehen: Das alles hatte ich in der letzten Zeit vermisst“, berichtete seine Frau. „Genau an dem Tag, an dem das Verbrechen geschah, habe ich ihn darauf angesprochen und gefragt, was mit ihm los sei und ob ich ihm helfen könne. Gesagt er nichts, aber er ist in den Keller gegangen und hat eine Flasche Wein geholt, und wir haben ein Glas getrunken. Dann klingelte das Telefon. Ich glaube, er führte das Gespräch nicht in deutsch. Aber genau weiß ich es nicht mehr. Dann sagte er, er wolle sich im Motorradladen ein Halstuch kaufen und ging.“
Das war um 16.10 Uhr, die Schüsse fielen um 17.40 Uhr – dazwischen 90 unerklärliche Minuten. Christof Lehmkühler: „Wir haben Motorradläden abgeklappert und das Foto von Herrn Blumenstock gezeigt. Doch keiner hatte ihn gesehen. Auch fanden wir keine Zeugen, die ihn woanders gesehen hatten. Wir nehmen an, dass er sich mit jemandem getroffen hat, der auch nicht wollte, dass andere davon erfahren.“
Die Strecke von Dr. Piotr Blumenstocks Garage bis zu seiner Wohnung lief Lehmkühler schon oft ab, hoffend, eine neuen Anhaltspunkt zu finden. „Einige Wochen vor dem Mord hatten Unbekannte innerhalb einer Woche mehrmals die Reifen seiner Autos zerstochen. Deshalb mietete er die Garage, die allerdings zehn Minuten Fußweg entfernt lag.“
Dr. Piotr Blumenstock war ein wohlhabender Mann. Als Arzt praktizierte er nicht mehr. Er handelte mit Medikamenten, kaufte von deutschen Firmen pflanzliche Heilmittel, übersetzte die Beipackzettel, lieferte die Ware mit einem kleinen Transporter direkt nach Polen und in die baltischen Staaten. Die Geschäfte liefen wunderbar. Liegt darin das Motiv für den Mord: Steckt eine osteuropäische Pharma-Mafia dahinter?
Christof Lehmkühler: „Meine Professionalität schreibt mir vor, in alle Richtungen zu ermitteln. Blumenstocks Mitarbeiterin sagte aus, dass es in den Wochen zuvor mehrere Anrufe von russisch sprechenden Personen gegeben hatte. Unsere Ermittlungen ergaben, dass diese Telefonate aus zwei Telefonzellen in der unmittelbaren Umgebung des Blumenstock-Hauses geführt worden waren.“
Erfahrungsgemäß sind die ersten sechs Wochen nach einem Verbrechen die entscheidenden. Danach kommen selten Neuigkeiten hinzu. „Nach ungefähr drei Jahren hatten wir das Gefühl, der Fall Blumenstock wäre ausermittelt, aber in meinem Job habe ich gelernt, mit Niederlagen zu leben und trotzdem nicht aufzugeben“, sagt Lehmkühler. „Nun liegen die Akten zwar nicht mehr auf meinem Schreibtisch, aber im Kopf sind alle Einzelheiten noch präsent. Bei der letzten Durchsicht der Akten habe ich mit Erschrecken festgestellt, dass ich bald so alt bin, wie es der Ermordete damals war. Es ist eben viel Zeit vergangen. Doch ich gebe nicht auf.“
Es habe da einen Verdacht gegeben, der direkt nach Warschau führte, sagt Lehmkühler. Doch darüber möchte er nicht weiter sprechen. Nur so viel: Sein Team sei an dieser Spur noch dran.