09.06.2015 (Aktualisiert 07:30 Uhr)Kerstin Conz Der Taximörder bleibt im Kopf
Fünf Jahre nach dem schweren Verbrechen in Hagnau – Überfallopfer leidet bis heute und hat noch kein Schmerzensgeld erhalten
Singen/Friedrichshafen sz Kein anderes Verbrechen in der jüngeren Vergangenheit hat die Bodenseeregion derart in Angst und Schrecken versetzt, wie der sogenannte Taximord. Vor genau fünf Jahren – am 9.Juni 2010 – ersticht Andrej W. in Hagnau eine Taxifahrerin aus Friedrichshafen.
Einen Tag zuvor hatte er in Singen die 44-jährige Fahrerin Heidi F. vergewaltigt und schwer verletzt auf einem Feld liegen lassen. Der Richter am Konstanzer Amtsgericht lässt ihn in die Psychiatrie einweisen. Für Heidi F. sollte nach dem Prozess ein neues Leben beginnen.
Dem Tag der Urteilsverkündung hat Heidi F. lange entgegengefiebert. Der Vorsitzende Richter am Konstanzer Landgericht, Jürgen Bischoff, beginnt gerade mit der Urteilsverkündung, da öffnet sich noch einmal die Türe. Heidi F. fährt leise surrend mit ihrem Elektrorollstuhl durch den Saal und nimmt als Nebenklägerin Platz. Seit dem Überfall ist sie einseitig gelähmt, auf der anderen Seite hat sie kein Gefühl. Dennoch: Sie ist froh, dass sie den Überfall überlebt hat, sagt ihr Sohn.
Dem Täter in die Augen blicken Andrej W. hat die Taxifahrerin für seinen Mordversuch von der Straße dirigiert, vergewaltigt und schwer verletzt nachts liegen lassen. Erst am Morgen wird Heidi F. gefunden. Offenbar hatte der Täter versucht, ihr den Hals umzudrehen. Wie bei einem schlimmen Motorradunfall sei sie zugerichtet gewesen, sagte ihr Arzt im Prozess aus.
Die dunkelhaarige, gepflegt wirkende Frau hätte ihrem Peiniger, der im Prozess sein Gesicht mit einer schwarzen Motorradmaske verborgen hat, nicht gegenübertreten müssen. Doch sie will ihm wenigstens in die Augen blicken.
Eine Stunde lang fixiert sie ihn, blickt fast durch ihn hindurch. Doch keine Spur von Reue. Regungslos nehmen Täter und Opfer das Urteil zur Kenntnis: Lebenslange Freiheitsstrafe mit Unterbringung in einer Psychiatrie.
Für die getötete Fahrerin Zana O. aus Friedrichshafen verfolgen Angehörige den Prozess. Sie hinterlässt zwei Kinder. Der Ältere ist inzwischen volljährig und mittlerweile weggezogen. Der Kleine geht aufs Gymnasium. „Ihm geht es gut“, heißt es beim zuständigen Jugendamt.
Heute erinnert eine kleine Gedenkstätte am Campingplatz in Hagnau an den Mord an ihrer Mutter. Eine ehemalige Kollegin kümmert sich darum. „Sie war der netteste Mensch, den ich je kennengelernt habe“, sagt ihr ehemaliger Kollege Sebastian Froming. Fleißig und strebsam sei die 32-Jährige gewesen, ergänzt Kollege Dieter Göttle. Um noch mehr für die beiden Kinder da sein zu können, habe sie sich nebenher weitergebildet. Sie wollte einen Bürojob mit festen Arbeitszeiten.
Seelische Abartigkeit Bei ihr ist der Täter besonders heimtückisch vorgegangen, sagt der Oberstaatsanwalt damals. Trotz des Überfalls am Vorabend war das Opfer „bis zuletzt völlig ahnungslos“. Der Täter hatte sich die Frau offenbar gezielt um 9 Uhr morgens ausgesucht und sich von ihr von Friedrichshafen mit der Fähre zur Insel Mainau fahren lassen. Dann ging es wieder zurück. Vor dem Campingplatz Hagnau hat er sie dann erstochen, offenbar um sich an der Toten zu vergehen.
Das Gutachten bescheinigte dem Täter seelische Abartigkeit. Er gilt als nekrophil, das heißt: Er hat einen Hang zu Sex mit Toten. Doch der junge Mann war mit der Technik des Wagens offenbar überfordert. Als der Alarm ausgelöst wird, flüchtete er. Zunächst zu Verwandten bei Friedrichshafen. Schließlich nimmt ihn die Polizei in der Gartenlaube seiner Oma in Brandenburg beim Fußballschauen fest.
Und warum? Der Angeklagte schien es selbst nicht zu wissen. Angeblich wollte er sich an seiner Mutter und seiner Ex-Freundin rächen. In den 40 Stunden dauernden Vernehmungen mit dem Psychiater gab er zu, im Singener Rathaus nach weiteren Opfern gesucht zu haben. „Ich wollte ein neues Opfer suchen. Eine Bürofrau. Rein, abschließen, Sex machen und raus“, lautete sein Plan. Sogar eine Pistole habe er sich kaufen wollen. „Ich hätte mehr als zehn Frauen umbringen können“, sagte Andrej W. dem Gutachter. Eine Krankenschwester, in die er sich im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg verliebt hatte, wollte er ebenfalls töten. Eine Schulfreundin, die ihn in Russland verspottet hat, zerstückeln. Der Ravensburger Anwalt Jürgen Caillet, der damals die Hinterbliebenen der Ermordeten vertrat, hat die Geschichte nie geglaubt und forderte eine Sicherungsverwahrung, also die Unterbringung in einem besonders sicheren Gefängnis. Andrej W. sei weder schuldunfähig noch debil, so der Anwalt. Sowohl eine besondere Schwere der Schuld als auch eine Gefährdung der Allgemeinheit sei gegeben.
Stattdessen kam Andrej W. in die Psychiatrie nach Wiesloch. Einer seiner Zellennachbarn war der Attentäter von Wolfgang Schäuble.
„Wiesloch ist der sicherste Ort Baden-Württembergs“, beruhigte der Verteidiger Klaus Frank – ein folgenschwerer Irrtum. Denn keine drei Monate nach seiner Einlieferung in Wiesloch hat Andrej W. genug. Er habe einfach nur nach Hause gewollt. Ab nach Russland – über Nürnberg, Berlin und Polen. Gesagt – getan. Fluchtfahrzeug war ein geklautes Rad. Möglich machte die spektakuläre Flucht ein drei Zentimeter langer Nagel, den der verurteilte Mörder in seiner Zelle gefunden hatte. Damit öffnete er sich bei einem Toilettenbesuch während seines Hofgangs die Fußfesseln. Die knapp vier Meter hohe Mauer überwand er mit einer ausgehängten Toilettentür.
Auch den fünf Meter hohen Stacheldrahtzaun des Hochsicherheitstrakts konnte er überwinden. Weder Schleusensysteme, Bewegungsmelder, Spezialzäune oder Videoüberwachung konnten ihn daran hindern.
Die Klinik selbst gibt sich dieser Zeitung gegenüber zugeknöpft. Die Situation heute sei allein aufgrund eines Neubaus eine völlig andere. Außerdem habe das Land Sicherheitsexperten vorbeigeschickt und bei den Sicherheitsvorkehrungen aufgerüstet.
36 Stunden auf der Flucht Am Bodensee versetzte die Flucht Polizei und Taxiunternehmen in Alarmbereitschaft. Allein im Bodenseekreis waren 40 Beamte zusätzlich im Einsatz. Das Singener Taxiunternehmen ließ nur männliche Mitarbeiter fahren. Besonders schlimm war die Flucht für Heidi F., erinnert sich ihre ehemalige Chefin. Heidi F. habe unter Polizeischutz zu Hause in ihrem Rollstuhl gesessen. Knapp 36Stunden nach seinem Ausbruch wurde der damals 29-Jährige gefasst.
Fünf Jahre nach dem brutalen Überfall bekommt Heidi F. den Täter immer noch nicht aus dem Kopf. Immer wieder muss sie an ihn denken. Nicht täglich. „So viel Aufmerksamkeit hat er nicht verdient“, lässt die 49-Jährige über ihre Anwältin Christine Thurau ausrichten. Für Hass fehlt die Kraft. Heidi F. braucht alle Energie um ihren Alltag zu bewältigen. Die Schmerzmittel haben starke Nebenwirkungen. Zudem musste sie sich als Folge ihrer Behinderung einen Bandscheibenvorfall operieren lassen, sagt die Ravensburger Anwältin.
Zu den gesundheitlichen Folgen kommen finanzielle Sorgen. Rente und ein Ausgleich der Landesstiftung Opferschutz reichen nicht aus, um die Mehrkosten durch die Behinderung zu decken. Theoretisch steht ihr ein hohes Schmerzensgeld zu, doch mehrere Vollstreckungsversuche scheiterten. „Das ist doppelt bitter“, sagt Thurau. „Beim Täter ist nichts zu holen.“ Monatelang hat Heidi F. dem Urteil, das der Start in ihr neues Leben sein sollte, entgegengefiebert. Heute geht es ihr eher schlechter, sagt ihre ehemalige Chefin. Weshalb die Fahrerin in der verhängnisvollen Nacht den Alarmknopf in ihrem Taxi nicht ausgelöst hat? Ihre Chefin weiß es bis heute nicht. „Ich war vor Angst wie gelähmt“, hat das Überfallopfer damals gesagt.
HAGNAU Sogenannter "Taxi-Mord" jährt sich zum zehnten Mal Vor genau zehn Jahren sorgten die Taten des sogenannten "Taximörders vom Bodensee" weit über die Region hinaus für Entsetzen. Ein damals 28-Jähriger vergewaltigte und ermordete eine Taxifahrerin in Hagnau, eine zweite in Singen überlebte nur knapp. Die heute 54-jährige Frau sitzt seit der Tat im Rollstuhl. Die Großfahndung nach dem Täter dauerte damals vier Tage. Spezialkräfte nahmen ihn schließlich in Brandenburg fest. Das Landgericht Konstanz verurteilte den Mann zu einer lebenslangen Haftstrafe. Wegen verminderter Schuldfähigkeit kam er in die Psychiatrie. Von dort gelang ihm nach wenigen Monaten die Flucht, die die Polizei aber nach einem Tag beendete.
Nach dem Mord an einer Taxifahrerin in Hagnau am Bodensee glauben vier niederländische Radtouristen, den Gesuchten gesehen zu haben. Ihre Täterbeschreibung deckt sich mit den Angaben eines anderen Zeugen.
ach dem Mord an einer Taxifahrerin in Hagnau am Bodensee sucht die Polizei weiter nach dem Täter. Die Suche konzentriere sich Polizeiangaben zufolge auf Friedrichshafen und Umgebung, da der Tatverdächtige am Mittwoch am Stadtrand von Zeugen gesehen worden sein soll. „Die Kollegen gehen verstärkt Streife und durchsuchen mögliche Verstecke in Schrebergärten oder Grünanlagen“, sagte ein Sprecher.
Die Sonderkommission „Taxi“ sei um zehn auf 40 Beamte aufgestockt worden. Die Ermittler befassen sich mit mehr als 80 Spuren oder Hinweisen aus der Bevölkerung. Eine heiße Spur gebe es allerdings nicht, sagte ein Polizeisprecher. „Wir haben keinen gezielten Hinweis darauf, wo sich der Tatverdächtige aufhalten könnte.“ Deshalb gebe es auch keine konkreten Suchaktionen mit großem Polizei-Aufgebot.
Blut oder Schmutz an der Hose
Die Sonderkommission arbeitet unterdessen an einem Phantombild des Gesuchten, das anhand von Zeugenaussagen erstellt werden soll. Vier niederländische Radtouristen hatten behauptet, den mutmaßlichen Täter am Mittwoch in Friedrichshafen gesehen zu haben. Ihnen waren Blut oder Schmutz an der Hose des Mannes aufgefallen. Als die Urlauber den Mann darauf ansprachen, habe er sie weggestoßen und sei mit einem Fahrrad geflüchtet. Auch nach dem Fahrrad des Tatverdächtigen wird nun gesucht.
Gefahndet wird nach einem 20 bis 25 Jahre alten Mann, der am Mittwoch in Hagnau eine 32 Jahre alte Taxifahrerin erstochen haben soll. Er hat kurzes dunkles Haar, trug verwaschene Jeans, ein dunkelblaues Halbarmhemd, eine dunkle Baseballmütze und hatte eine schwarze Laptop-Tasche dabei. Der Mann wird zudem verdächtigt, am Dienstag in Singen (Kreis Konstanz) eine andere, 44 Jahre alte Taxifahrerin ebenfalls mit einem Messer schwer verletzt und vergewaltigt zu haben. Die Orte liegen etwa 55 Kilometer voneinander entfernt.
Messerstiche am Hals
Zum genauen Tatablauf in Hagnau konnte die Polizei noch keine Angaben machen. Ein Passant fand die blutüberströmte 32 Jahre alte Fahrerin gegen 11.45 Uhr in ihrem Wagen auf dem Strandbad-Parkplatz in Hagnau, der mit laufendem Motor und eingeschaltetem Warnblinklicht dort stand. Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Die Polizei fand die Tatwaffe, ein Messer, im Auto. Die Taxifahrerin hatte Stich- und Schnittverletzungen im Hals erlitten. Ein weiterer Zeuge sah zur Tatzeit einen Mann in der Nähe des Taxis. Seine Beschreibung stimmt mit der der niederländischen Urlauber überein. Die Leiche der Taxifahrerin wurde am Mittwoch obduziert. „Wir warten auf das Ergebnis der Obduktion“, sagte der Sprecher. Anders als ihre schwer verletzte Kollegin sei sie nicht vergewaltigt worden.
Das Opfer in Singen wird weiter im städtischen Klinikum behandelt. Die 44 Jahre alte Frau liege auf der Intensivstation und sei gegenwärtig nicht ansprechbar, sagte ein Sprecher der Polizeidirektion Konstanz. Lebensgefahr bestehe jedoch nicht.