Die "Tylenol-Toten" 1982 in Chicago von Dr. Florian Scharr
Die Ereignisse Frühmorgens am 30. September 1982 erwacht die zwölfjährige Mary Kellerman in einem Vorort Chicagos mit Halsschmerzen. Ihre Eltern geben ihr eine Kapsel des Schmerzmittels "Tylenol Extrastark" und schicken sie zurück ins Bett. Kurz darauf ist das Kind tot.
Insgesamt sieben Menschen sterben am 30. September und 1. Oktober 1982 durch die Einnahme von "Tylenol Extrastark" – von Kapseln, die mit dem über zehntausendfachen einer tödlichen Dosis des Atemgiftes Zyanid gefüllt worden waren.
Eine Woche darauf hat Tylenol 87 Prozent seines Marktanteiles verloren. Der Börsenwert des Pharmakonzernes Johnson & Johnson, dessen Tochtergesellschaft McNeil Consumer Products Tylenol produziert, ist um mehr als eine Milliarde US-Dollar gefallen. Experten gehen davon aus, dass über die Marke Tylenol das Todesurteil gefällt worden ist.
Erste Phase der Krisenbewältigung: Eindämmung James E. Burke, zur Zeit der Vergiftungen Vorstandsvorsitzender von Johnson & Johnson, beruft sofort ein Team, das sich ausschließlich auf die Bewältigung der Krise konzentrieren soll. David Collins, Vorstandsvorsitzender von McNeil Consumer Products, wird zum "Krisenkapitän" ernannt. Collins stellt drei Prioritäten auf:
1. Die Todesfälle sofort beenden! 2. Die Ursache der Todesfälle herausfinden! 3. Die Betroffenen unterstützen!
Gemäß der Vorgabe mit oberster Priorität ergreift Johnson & Johnson von Anfang an die Initiative – und genau das kann als entscheidender Erfolgsfaktor der schnellen Krisenbewältigung angesehen werden.
Schon am Nachmittag des 1. Oktober 1982 werden sämtliche 93.400 Tylenol-Flaschen aus den betroffenen Läden entfernt, die Werbung für und die Produktion von Tylenol vollständig eingestellt. Zudem hält das Unternehmen am 1. Oktober 1982 Videokonferenzen mit allen großen Agenturen, Zeitungen, Fernseh- und Radiosendern des Landes ab. Die Presse wird so zu einem engen Partner, um die Öffentlichkeit auf dem laufenden zu halten.
Weiter werden noch am 1. Oktober 1982 eine halbe Million Telegramme an Ärzte, Krankenhäuser und Händler versendet, um sie vor der Gefahr zu warnen. Eine eigens eingerichtete Krisentelefonauskunft wird im Verlauf der Krise über 30.000mal kontaktiert, auch jeder der 3.000 eingegangenen Briefe mit Fragen zur Krise wird individuell beantwortet.
Gemeinsam mit dem Konzern findet die Polizei schließlich heraus, dass ein externer Täter die Vergiftungen in verschiedenen Supermärkten im Großraum Chicago herbeigeführt hatte. Johnson & Johnson setzt am selben Tag ein Kopfgeld von 100.000 US-Dollar auf den Mörder aus - das übrigens bis zum heutigen Tage niemand einfordern konnte.
Am darauf folgenden Dienstag, den 5. Oktober 1982, ruft Johnson & Johnson landesweit sämtliche Tylenol-Kapseln zurück - nicht nur aus der Region, in der die Vergiftungen aufgetreten sind, sondern aus den gesamten Vereinigten Staaten. 31 Millionen Flaschen "Tylenol Extrastark" mit einem Marktwert von mehr als 100 Millionen US-Dollar werden aus den Regalen des Handels entfernt und vernichtet. Es ist anzunehmen, dass keine von ihnen Zyanid enthält.
Erneut macht Johnson & Johnson nach außen deutlich, dass das Unternehmen Kosten als zweitrangig ansieht, wenn es um die Sicherheit seiner Kunden geht. Von der Presse wird der Konzern für seine Übernahme sozialer Verantwortung und vorbildliches Verhalten gepriesen, beispielsweise prangt auf der ersten Seite der Washington Post eine große Überschrift: "Johnson & Johnson sets example in crisis".
Zweite Phase der Krisenbewältigung: Rückkehrkampagne Am 11. November 1982, weniger als sechs Wochen nach den Todesfällen, gibt Johnson & Johnson auf einer Pressekonferenz in New York die Rückkehr von Tylenol in den Markt bekannt. Die Kernaussage des Vorstandes ist, man wolle den Mörder nicht gewinnen lassen. Jeder Reporter erhält eine der neuen, dreifach versiegelten Tylenol-Packungen, die ab Dezember im Handel erhältlich sein werden. Die Konferenz wird per Satellit in 30 Städte übertragen und erreicht so mehr als 3.000 Journalisten.
Außerdem bedankt Vorstandsvorsitzender Burke sich auf der Konferenz bei den Medien für die faire Berichterstattung und dafür, dass sie geholfen hätten, Leben zu retten. Diese Danksagungen wirken sich positiv auf die Darstellung der Rückkehr von Tylenol in der Massenpresse aus, wieder übernehmen die Journalisten einen Anteil der Werbung für das Unternehmen.
Weiter rufen 2.259 Verkäufer im November 1982 Millionen von Medizinern, Apotheken und Krankenschwestern an, die Tylenol wieder ihren Patienten und Kunden empfehlen sollen - wie bei der erfolgreichen Ersteinführung in den siebziger Jahren. Dazu werden etwa 50 Millionen Gratiskapseln an Mediziner versendet. Patienten, die diese von den Ärzten ihres Vertrauens erhalten, sehen sich darin bestätigt, dass man Tylenol wieder beruhigt einnehmen kann. Händlern werden Rabatte in Höhe von 25 Prozent angeboten, wenn sie dieselbe Menge Tylenol wie vor der Krise bestellen.
Die Kosten, die durch die Tylenolkrise entstanden sind, summieren sich auf über 500 Millionen US-Dollar. Aber das Ergebnis der Krisenbewältigung ist genau jenes, das Johnson & Johnson wollte: Die Verluste werden langfristig durch die Erhaltung des Markennamens kompensiert.
Sechs Monate nach der Krise ist der Umsatz um weitere 24 Prozent gestiegen, was zeigt, dass die Krisen-PR des Unternehmens nicht nur die alten Kunden zurückgewinnen konnte, sondern dass viele Menschen von der Kampagne und der dreifach versiegelten Packung so überzeugt wurden, dass sie von Konkurrenzprodukten zu Tylenol wechselten.
Johnson & Johnson konnte eine Krise also zur Verbesserung seiner Marktstellung nutzen. Burke zog folgendes Resümee: "We've gotten strength from this, no weakness."
Autor Dr. Florian Scharr In den Eichen 101 D-65835 Liederbach E-Mail: fscharr@web.de
Cold Case: Die Tylenol-Morde Oliver Armknecht Dokumentation Krimi Netflix Serie USA Dienstag, 3. Juni 2025 Cold Case Die Tylenol Morde Netflix Streamen online „Cold Case: Die Tylenol-Morde“ // Deutschland-Start: 26. Mai 2025 (Netflix) Inhalt / Kritik Credits Bilder Trailer Weitere Netflix Titel Kaufen / Streamen
Was wäre Netflix nur ohne die zahlreichen True-Crime-Produktionen, mit denen das Publikum vor die Bildschirme gelockt werden soll? Dann und wann gibt es in dem Zusammenhang fiktionalisierte Fassungen mit echten Schauspielern und Schauspielerinnen wie etwa kürzlich bei Die Schwarze Witwe um eine Frau, die ihren Mann brutal töten ließ.
Vor allem aber lässt der Streamingdienst regelmäßig Dokumentationen produzieren, welche die Geschichten alter Verbrechen erzählen. Kürzlich war da etwa Tödlich: Eine amerikanische Ehe über einen tragischen Familienfall mit tödlichem Ausgang. Schockierend war Fred und Rose West: Eine britische Horror-Story, das an ein besonders sadistisches Paar erinnerte. Wer diese Fälle schon durch hat und nach etwas Neuem sucht, kann es einmal mit Cold Case: Die Tylenol-Morde versuchen.
Ein bekannter ungelöster Fall Wobei man hier schon sehr großzügig sein muss, um überhaupt das Wort „neu“ in den Mund zu nehmen. So liegt der zugrundeliegende Fall nicht nur mehr als 40 Jahre zurück. Er ist auch alles andere als unbekannt: 1982 starben mindestens sieben Menschen durch den Gebrauch des Schmerzmittels Tylenol, das jemand mit Zyanid angereichert hatte. Die Morde waren dabei nicht nur heimtückisch, sondern auch rätselhaft. Wer könnte die Flaschen derart präpariert haben? Und aus welchem Grund? So genau weiß man das bis heute nicht. Zwar gab es Verdächtige. Mehr als Indizien fand man aber nicht, weshalb der Fall – der Titel Cold Case: Die Tylenol-Morde nimmt es bereits vorweg – bis heute ungelöst ist.
Für die Opfer und deren Angehörigen ist das natürlich katastrophal. Es bedeutet aber auch, dass sich die Geschichte für Spekulationen anbietet und immer wieder von Interesse ist. Nicht ohne Grund haben sich in den letzten Jahren bereits andere dieser Geschichte angenommen. Das wiederum wirft unweigerlich die Frage auf: Hat Cold Case: Die Tylenol-Morde etwas zu bieten, was sonst noch niemand hatte? Gibt es neue Erkenntnisse, welche eine erneute Dokumentation rechtfertigen würde? Nicht wirklich. Man sollte sich das hier nicht anschauen in der Erwartung, etwas Neues zu erfahren, weder im Hinblick auf Theorien noch Beweise. Es gibt eigentlich nur das, was zumindest ein informiertes Publikum bereits aus anderen Quellen weiß.
Kompetent umgesetzt Für Zuschauer und Zuschauerinnen, die bislang noch nichts darüber wussten, könnte sich ein Blick aber lohnen. So ist die Geschichte, so grausam sie natürlich ist, noch immer spannend. Cold Case: Die Tylenol-Morde zeichnet dabei die Ereignisse des Verbrechens ebenso nach wie die Ermittlungen. Zu dem Zweck gibt es den üblichen Mix aus historischen Aufnahmen und aktuellen Interviews. Ein Höhepunkt dabei sind sicherlich die Gespräche, die man mit James William Lewis geführt hat, dem Hauptverdächtigen. Das hat schon seine ganz eigene Stimmung, wenn er zurückblickt auf die damaligen Zustände. Das Publikum darf bei seinen Ausführungen auch immer grübeln, ob der Mann nun die Wahrheit sagt oder doch nur ein Spiel spielt.
Aber auch sonst sind die Interviews insgesamt gut. Wo andere True-Crime-Dokus gern mal auf die Tränendrüse drücken und ganz zynisch das Leid der Menschen ausschlachten, ist man hier stärker an den Informationen interessiert sowie einer Wiedergabe der damaligen Stimmung. Wie war das eigentlich, als damals die Morde begangen wurden und die Angst umging? Schließlich konnte niemand sicher sein, dass nicht auch andere Medikamente vergiftet werden. Zumindest ein Stück weit ist Cold Case: Die Tylenol-Morde damit auch ein Zeitporträt. Hätte es das alles gebraucht? Das vielleicht nicht. Wer aber Interesse an solchen Geschichten hat, kann hier einmal reinschauen und sich an das Grauen von von damals erinnern lassen – und im Anschluss hemmungslos spekulieren.
„Cold Case: Die Tylenol-Morde“ erinnert an den bis heute ungelösten Fall um Medikamente, die mit Zyanid vergiftet wurden. Die Dokumentation hat nichts Neues zu bieten, fasst die Erkenntnisse und Abläufe aber kompetent zusammen. Wer gern spekuliert, kommt auf seine Kosten.