Am 6. März 2021 ist Waltraud Resch spurlos verschwunden. Die 74-Jährige hatte Demenz. Ihr Schicksal ist kein Einzelfall. Doch es gibt zu wenig Möglichkeiten, Demenzkranke zu schützen.
Peißenberg/Dießen - Wenn Hubert Sendl am Grab seiner Eltern in Peißenberg steht, dann denkt er an seine Schwester Waltraud. Sie lebt vermutlich nicht mehr, aber es gibt auch keinen Grabstein, der an sie erinnert. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Was ihr passiert ist, wurde nie geklärt. Hier, am Grab seiner Eltern, fühlt sich Hubert Sendl ihr oft nah. „Meine große Hoffnung ist, dass sie nicht leiden musste“, sagt er. Manchmal hat er Angst, dass er erfährt, was seiner Schwester zugestoßen ist und ihm auch noch diese Hoffnung genommen wird.
Peißenberg: Vor über einem Jahr verschwand die 74-Jährige Die 74-jährige Waltraud Resch wird vermisst. Sie leidet an Demenz und muss entsprechend betreut werden. Sie ist 158 cm groß, hat grau meliertes Haar, trägt einen weinroten Pullover, vermutlich Hausschuhe und führt eine schwarze Handtasche bei sich. Diese Vermisstenmeldung veröffentlichte die Polizei Dießen am 6. März 2021. Waltraud Resch wurde nie gefunden.
Einer der letzten Menschen, denen sie begegnete, war eine Mitarbeiterin in einem Café. Sie wollte ein Stück Bienenstich kaufen, hatte jedoch kein Geld dabei – aber Schokolade. Die tauschte sie gegen den Kuchen. Dann verließ sie das Café. Die Mitarbeiterin meldete sich später bei der Polizei, als sie erfuhr, dass nach der Seniorin gesucht wird. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es keine Spur mehr von der 74-Jährigen.
Wenn ein Kind einfach aus einer Kita verschwindet, wäre die Hölle los. Demenzkranke tun sich doch genauso schwer wie Kinder, Gefahren richtig einzuschätzen. Edith Church
„Meine Schwester litt an Demenz“, erzählt ihr 73-jähriger Bruder. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sich ihr Zustand immer mehr verschlechtert. Ihre Kinder suchten einen Platz in einem Pflegeheim für sie. Sie musste aus ihrer Heimat Peißenberg im Kreis Weilheim-Schongau nach Dießen am Ammersee umziehen. Ihre Geschwister vermuten, dass sie dachte, sie sei dort im Urlaub. Immer wieder verschwand sie aus dem Heim. Immer wurde sie kurz darauf gefunden. Nur am 6. März nicht.
Die an Demenz erkrankte Waltraud Resch verschwand immer wieder aus ihrem Heim Die Polizei suchte zwei Tage lang nach ihr – mit Spürhunden und Hubschraubern. Ohne eine Spur zu finden. Was die Ermittler aber zu spät taten: die Bilder der Überwachungskameras am Bahnhof nahe dem Café auswerten. Sie werden nur zwei Tage lang gespeichert, erklärt Sendl. Er kann sich vorstellen, dass seine Schwester zurück nach Peißenberg wollte und orientierungslos in einen Zug gestiegen ist. Ob es so war, wird er vermutlich nie erfahren.
„Ich habe immer gedacht, ein Mensch verschwindet nicht einfach spurlos“, sagt er. Die Vorstellung, seine Schwester könnte Opfer eines Verbrechens geworden sein oder gestürzt und mehrere Tage verletzt irgendwo gelegen haben, ist für ihn kaum zu ertragen. Die Suche wurde nach zwei Tagen abgebrochen. „Damals gab es nachts Minustemperaturen“, sagt er. Zwei Nächte hätte Waltraud Resch das nicht überlebt. „Schon damals hatten wir keine Hoffnung mehr, sie noch lebend zu finden“, sagt Sendl. Doch für tot erklärt wird Waltraud Resch erst fünf Jahre nach ihrem Verschwinden.
Jedes Mal, wenn Hubert Sendl oder Edith Church eine Vermisstenmeldung lesen, leiden sie mit den betroffenen Familien. Und dann kommen die quälenden Fragen zurück, was ihrer Schwester wohl zugestoßen ist. Vermisstenmeldungen werden in Bayern täglich veröffentlicht – die meisten Menschen werden wieder gefunden. Doch es gibt nicht viele Möglichkeiten, die Suche nach Demenzkranken leichter zu machen. Betroffene mit Sensoren oder GPS-Technik zu schützen, ist aus juristischer Sicht ein Eingriff in die Grundrechte.
Diese Entscheidung müsse vom gesetzlichen Betreuer oder dem Vorsorgebevollmächtigten immer sorgfältig abgewogen werden, erklärt die Betreuungsrichterin Corinna Vogler vom Amtsgericht München. „Wenn eine Maßnahme freiheitsentziehenden Charakter hat, ist eine Genehmigung des Betreuungsgerichts nötig“, sagt sie. Jeder Einzelfall müsse juristisch sorgfältig geprüft werden
Geschwister fordern: Demenzkranke müssen besser geschützt werden Edith Church kann das nur bedingt verstehen. Sie würde sich wünschen, dass die Gesetze angepasst werden und es möglich wird, Demenzkranke besser zu schützen. „Wenn ein Kind einfach aus einer Kita verschwindet, wäre die Hölle los“, sagt sie. „Demenzkranke tun sich doch genauso schwer wie Kinder, Gefahren richtig einzuschätzen.“
Sie hat damals nach dem Verschwinden ihrer Schwester an den Bundestagsabgeordneten Alexander Dobrindt (CSU) geschrieben, Weilheim ist sein Wahlkreis. Sein Büro habe ihr damals versprochen, er werde sich über die Rechtslage informieren und sich dann melden. „Ich habe nie wieder etwas gehört“, sagt Church enttäuscht. „Das Thema hat für die Politik keine Priorität.“
Sie und ihr Bruder würden sich wünschen, dass sich Familien mit ärztlichem Attest auch ohne richterlichen Beschluss für Armbänder mit GPS-Trackern entscheiden können. Und sie hoffen, dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein ändert. Hätten an jenem 6. März mehr Menschen genau hingeschaut oder Waltraud Resch angesprochen, würde sie vielleicht heute noch leben, glaubt ihr Bruder. „Es gibt so viele Demenzkranke in unserer Gesellschaft. Und es werden mehr“, betont er. Für seine Schwester kommt eine Gesetzesänderung zu spät – vielen anderen Betroffenen könnte sie helfen.