Fall Mörderhölzli nach hundert Jahren gelöst Von Daniel J. Schüz Aktualisiert am 24.03.2015
Sandra Gatti rollt in ihrem Buch den Mord an ihrer Urgrosstante auf. Damals wie heute ein Justizskandal.
Das Opfer: Anna Müller. Foto: PD
«Kaffeebohnen!» Es ist anzunehmen, dass der Mann die kleinen braunen Dinger vom Wegrand aufgehoben und genüsslich daran geschnuppert hat. «Kein Zweifel», wird er zu seiner Frau gesagt haben. «Das sind Kaffeebohnen.»
Er hiess Wilhelm Mohler, war Wagner von Beruf, 37 Jahre alt, wohnhaft in Altikon ZH. Die Personalien seiner Gattin wurden nicht in die Ermittlungsakten aufgenommen. Vielleicht ist sie auch gar nicht befragt worden: Damals, vor 109 Jahren, wurden vorzugsweise die Aussagen männlicher Zeugen protokolliert.
Die Geringschätzung, die Frauen in jener Zeit erdulden mussten, kommt exemplarisch in jenem bestialischen Verbrechen zum Ausdruck, das durch ein paar Kaffeebohnen am Wegrand entdeckt, aber im Laufe eines ganzen Jahrhunderts nie aufgeklärt wurde.
Bis heute.
Die Frau
Jetzt ist bekannt, wer am späten Nachmittag des 13. Mai 1906 die 21-jährige Bauerntochter Anna Müller getötet hat. Sandra Gatti rollt in ihrem Buch den Fall auf. Sie weiss, wer Anna Müller getötet hat und warum: «Sie musste sterben, weil sie eine Frau war. Und weil Frauen in jener Zeit nichts galten, ist ihr Mörder nie zur Rechenschaft gezogen worden.»
Es waren die Männer in der Familie, die sie motivierten: «Mein Vater war Polizist, mein Bruder ist Polizist.» Sie selbst arbeitet als Sachbearbeiterin am Winterthurer Bezirksgericht zumindest im kriminalistischen Umfeld. «Hätte es die Möglichkeit gegeben, Teilzeiteinsätze zu leisten, wäre ich auch bei der Polizei.»
Der entscheidende Impuls kam vor drei Jahren von ihrem Sohn Manuel. «Mami», wollte er wissen, «warum heisst der Wald da oben eigentlich Mörderhölzli?» Genau diese Frage habe sie auch gestellt, antwortete sie. «Vor 35 Jahren – ich war damals so alt wie du – wollte ich von meiner Grossmutter wissen, woher dieser schreckliche Name kommt.»
«Und? Was hat sie dir gesagt?» «Sie meinte, vor sehr langer Zeit sei dort eine Frau ermordet worden – und irgendwie seien wir entfernt mit ihr verwandt . . .»
Da liess Manuel jene Bemerkung fallen, die seine Mutter sofort elektrisierte: Das könne man herausfinden, meinte er. «Man muss den Anhaltspunkt finden.»
Ein Anruf im Staatsarchiv des Kantons Zürich genügte. Ja, hiess es dort, der Mordfall «Anna Müller» sei aktenkundig. «Aber ich sags Ihnen gleich: Der Fall ist nichts für schwache Nerven.»
Unter der «Akten-Nr. P21c.6 A/B» fanden sich zwei grosse Schachteln, jede an die fünf Kilo schwer, gefüllt mit Zeugenaussagen, Ermittlungsprotokollen, Obduktionsberichten, zum Teil handschriftlich mit Tinte und Federkiel verfasst, arg vergilbt und kaum noch lesbar.
Die Ehre
Sandra Gatti meldete sich für einen Kurs an; sie wollte die alte Sütterlinschrift entziffern – und stiess auf Namen, die ihr bekannt vorkamen, oft auch «Müller», ihren eigenen Mädchennamen. Sie befragte Onkel, Tanten, die Eltern, skizzierte den Familienstammbaum – und brauchte bald nur noch eins und eins zusammenzuzählen, um zu erkennen, «dass die ermordete Anna Müller die Schwester des Grossvaters von meinem Papi war – sie war meine Urgrosstante».
Das Bedürfnis, das ungesühnte Verbrechen zu klären und die Ehre der Toten nach so langer Zeit wiederherzustellen, steigerte sich zur Obsession: «Dieses Buch wollte geschrieben werden – Anna zuliebe, aber auch um meinetwillen. Ich wusste, ich würde keine Ruhe finden, bis es gedruckt vorliegt.»
Jetzt liegt das Werk vor. Es ist weder dokumentarisches Sachbuch noch Kriminalroman, weder historische Biografie noch heimatliches Epos – und dennoch durchdrungen von all diesen Elementen. Das «Mörderhölzli» enthüllt einen Justizskandal, der zwar lägst verjährt ist, aber jetzt erst ad acta gelegt werden kann.
«Es ist schlimm genug, dass der Mörder meiner Urgrosstante nie gefasst und bestraft, seine Tat nie gesühnt worden ist», sagt Sandra Gatti. «Das Schlimmste aber ist aus heutiger Sicht die Erkenntnis, dass das ganze Dorf wusste, wer es war. Nur die Polizei tappte im Dunkeln.»
Das klärende Licht, das die Urgrossnichte des Opfers mit ihren Enthüllungen in den Fall bringt, wirft belastende Schatten auf die Behörden. Der dokumentarische Teil schildert, was wirklich war. Im fiktiven kommt Emma Bachmann ins Spiel – und macht deutlich, wie es hätte gewesen sein können.
Emma ist die Magd im Pfarrhaus und Annas Freundin. Wenn Annas Geschichte aus Emmas Perspektive erzählt wird, füllt die Autorin Lücken, welche die Aktenlage offen gelassen hat.
Was ist geschehen am 13. Mai 1906?
Es ist sommerlich warm an jenem Sonntag. Von der Kirchturmuhr in Altikon, nahe der zürcherisch-thurgauischen Kantonsgrenze, schlägt es vier Mal. Im Nachbardorf Rickenbach macht sich Anna Müller auf den Heimweg. Sie hat im Volg – der hat, weil die Bauern unter der Woche keine Zeit zum Einkaufen haben, auch am Sonntag geöffnet – für 6 Franken und 80 Rappen Spezereien gekauft: Soda, Schmierseife, Stärke.
Und Bohnenkaffee.
Der Heimweg
Ihr Weg über den Hügel führt an einem Waldstück vorbei, bis anhin als Zelgliholz bekannt. Fortan wird es Mörderhölzli heissen. Denn hier begegnet Anna Müller ihrem Mörder.
Etwa eine Stunde später stossen die Mohlers auf ihrem Sonntagsspaziergang auf Kaffeebohnen, die aus Annas Tasche gefallen sein müssen, als sie ins Unterholz gezerrt wurde. Das Ehepaar folgt der Bohnenspur und findet zunächst eine weisse Mütze. Blutverschmiert.
Die Leiche, etwas tiefer im Wald, bietet ein Bild des Grauens. Die junge Frau, so ist dem Obduktionsbericht zu entnehmen, ist mehrfach umgebracht worden – Würgemale am Hals, zwei Pistolenkugeln im Kopf, der Rachen mit Moos und Gras zugestopft, der Schädel zertrümmert. Nicht die Schnur und auch nicht die Pistole, sondern erst ein etwa fünf Kilo schwerer Stein habe endlich zum Tod geführt, hält der Bericht fest. Schliesslich habe der Täter den leblosen Körper mit einem Messer aufgeschlitzt, die Gedärme aus dem Leib gerissen und beide Oberschenkel zerschnitten. Anna Müller ist – man kann es nicht anders sagen – in einem hasserfüllten Blutrausch förmlich abgeschlachtet worden.
Bauern, die sich in der Nähe aufgehalten haben, bezeugen, dass gegen halb fünf zwei Schüsse gefallen seien. Ein anderer Zeuge will einen Mann beobachtet haben, einen «pringen» (schmächtigen) mit dunkler Kleidung und Hut, der «mit grossen Sprüngen» den Hügel heruntergerannt sei.
Die Polizei konzentriert ihre Nachforschungen auf das Messer, mit dem Annas Körper aufgeschlitzt wurde. Es soll sich laut Gerichtsmedizin um ein «Hakenmesser» handeln, das, so die landläufige Meinung, von Italienern benutzt wird, die in die Schweiz einwandern und bei der einheimischen Bevölkerung wenig Sympathie geniessen.
Die Beamten suchen italienische Immigranten auf, durchsuchen Behausungen und können keine blutverschmierte Tatwaffe finden. Auf die Idee, Ärzte oder Metzger auf Alibis zu überprüfen, kommt keiner, obwohl der Vermerk im Obduktionsbericht, das Opfer sei «kunstvoll» aufgeschlitzt worden, als Hinweis auf professionelle Fertigkeiten verstanden werden muss.
Niemand befragt die Menschen aus dem näheren Umfeld des Opfers. Die Familie sei mit dem, was geschehen ist, schon hart genug bestraft, heisst es offiziell. Man dürfe sie nicht auch noch mit polizeilichen Verhören belästigen.
Der Mann, der an jenem 13. Mai 1906 plötzlich begonnen hatte, heftig zu zittern und nie mehr damit aufgehört hat, 45 Jahre lang, bis zu seinem Tod am 10. März 1951, ist immer in die Dorfgemeinschaft eingebunden geblieben und nie polizeilich einvernommen worden.
«Sein Geheimnis», sagt Sandra Gatti, «hat er mit ins Grab genommen. Das Motiv ist ein wichtiger Hinweis auf seine Täterschaft. Eine Grosstante, die es gewusst haben muss, hat es mehr als nur angedeutet. Alles deutet darauf hin, dass Anna Müller davon wusste – ein tödliches Wissen: Anna musste sterben, bevor sie reden konnte.»
Beweisen lässt sich nach mehr als hundert Jahren nichts mehr. Doch die in amtlich registrierten Fakten und die übereinstimmenden Aussagen voneinander unabhängiger Familienmitglieder und Dorfbewohner fügen sich zu einer schlüssigen Indizienkette, die «heute ausreichen würde, um Anklage zu erheben», bestätigt Sandra Gattis Vater, der Kantonspolizist Heinz Müller, ebenso wie ihre Chefin, die am Winterthurer Bezirksgericht als Richterin amtiert.
Den Einwand, dass ohne Urteil die Unschuldsvermutung gelten müsse und der Mörder eben nur ein mutmasslicher sei, lässt Gatti gelten: «Es geht mir nicht darum, diesen Mann nach so langer Zeit an den Pranger zu stellen», sagt sie. «Ich möchte nur der Wahrheit gerecht werden. Sie gibt dem Opfer seine Würde zurück. Mein Buch ist eine späte Genugtuung für Anna Müller. Zuerst wurde sie getötet und dann totgeschwiegen.»
Gegen allfällige Klagen wegen Rufmordes an einem, der sich nicht mehr wehren kann, hat sie sich abgesichert: «Die Nachfahren des Täters haben mir ihren Segen zu diesem Buch gegeben.»
Sandra Gatti fühlt sich legitimiert, die Hintergründe aufzudecken und Namen zu nennen – als Einzige und aus gutem Grund: «Am Anfang war die Erkenntnis, dass das Opfer meine Urgrosstante war», sagt sie. «Heute weiss ich, dass ich auch mit ihrem Mörder verwandt bin.»
Sandra Gatti-Müller: Mörderhölzli – Der Lustmord an Anna Müller von 1906. WOA-Verlag, Zürich. 271 S., 33.90 Fr., gebunden. Ab heute März im Buchhandel. (Tages-Anzeiger)