Obdachloser in Bielefelder Villa erschlagen: Wiederaufnahme nach über 50 Jahren Eine neue Abteilung der Bielefelder Kripo greift 42 ungelöste alte Fälle auf. Dazu gehört auch der Fall von Harald S.. In der aktuellen Podcastfolge geht es um den Fall des Mannes, der erschlagen in der ehemaligen Dürkopp-Villa gefunden wurde.
von Jens Reichenbach 01.02.2024 | 01.02.2024, 10:20
Bielefeld. Als Architekt und Fachhochschuldozent Hugo Cronjäger am Samstagmorgen, 15. April 1972, seine im Bau befindliche Dachgeschosswohnung an der Dornberger Straße aufsuchte, fand er in dem noch unbewohnten Neubau – nicht zum ersten Mal – einen wohnungslosen Mann vor. Cronjäger war in solchen Sachen locker, hatte ein Herz für Bedürftige. Doch an diesem Tag war alles anders. Als ihn der gelernte Zimmermann mit den Worten „He Kumpel, es ist Zeit aufzustehen" wecken wollte, blieb der 25-Jährige reglos auf dem Holzfußboden liegen. Dann die schockierende Entdeckung: Jemand hatte den Schädel von Harald S. mit einem Kantholz zertrümmert.
In der aktuellen Episode von "OstwestFälle” sprechen wir über den Cold Case vom Bielefelder Harald S., der in der ehemaligen Dürkopp-Villa tot aufgefunden wurde.
Vier Jahre lang beschäftigten sich die Bielefelder Mordkommission und Justiz mit dem ungewöhnlichen Fall, es gab Festnahmen, ein Geständnis, eine Anklage, eine heiße Spur nach Italien und einen langen Prozess. Trotzdem konnte der Schuldige nie gefunden werden. Das wollen nun Mordermittler in Bielefeld nachholen. Der Fall von Harald S. ist einer von sechs Bielefelder Cold Cases (ungelösten Fällen), die von der neu geschaffenen Kripo-Abteilung für ungelöste Fälle wieder aufgerollt werden sollen.
Harald S. in Bielefelder Villa getötet - Alle Fakten im Überblick Am 15. April 1972 wird Harald S. in einer leerstehenden, weil renovierten Villa an der Dornberger Straße tot aufgefunden. Sein Schädel wurde mit einem Kantholz zertrümmert. Der 25-Jährige war wohnungslos und verkehrte im damals so genannten Homosexuellen-Millieu. In einer Bielefelder Schwulen-Gaststätte wurde er zuletzt gesehen. Rund 200 Personen werden damals befragt, es werden sogar Belohnungen von über 3.000 Mark ausgelobt. Nach einiger Zeit stoßen die Ermittler auf einen 22-Jährigen. Er gibt an, S. nach einem Streit in der Villa mit einem Holzstück am Kopf getroffen zu haben, widerruft sein Geständnis jedoch. Der 22-jährige Udo G. bringt schlussendlich einen Italiener ins Spiel, der sich zum Todeszeitpunkt ebenfalls in der Villa befunden haben soll. Dieser gibt wiederum weitere Hinweise, die sich ebenfalls verlaufen. Vor einiger Zeit nahm die Kripo den Fall wieder auf. Zuletzt gesehen in der Gaststätte „Dorian Gray"
Der Tote, der gelernte Maurer Harald S. (25), war wohnungslos, verkehrte im Homosexuellen-Milieu, wie es damals hieß, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und war auch bei der Polizei bekannt. Zunächst suchten die Ermittler im Umfeld der Bielefelder Schwulen-Gaststätte „Dorian Gray" an der Friedrich-Ebert-Straße, in der S. zuletzt gesehen worden war. Rund 200 Personen – vornehmlich aus dem Obdachlosenmilieu – werden von der Kripo befragt. Um Anreize zu schaffen, wird eine Belohnung über 3.000 Deutsche Mark ausgelobt. Insgesamt 93 Spuren werden verfolgt.
Spur Nr. 10 bringt dann Anfang Mai anscheinend den Durchbruch. Die Ermittler erfahren von dem 22-jährigen Bielefelder Udo G. (Name geändert), dass er Harald S. den Wohnungsschlüssel seiner Eltern überlassen habe, damit dieser dort nächtigen könne. Als S. Mitte April den Schlüssel zurückverlangte, gehen beide in die ehemalige Dürkoppsche Villa an der Dornberger Straße. Doch den Schlüssel erhält der 22-Jährige dort nicht zurück. S. hält ihn lediglich hin.
Die Kripo-Ermittler benötigen nur noch das Geständnis des Verdächtigen Als der betrunkene Harald S. einschläft – später werden 1,76 Promille in seinem Blut nachgewiesen –, habe Udo G. seine Taschen durchsucht, doch der Schlüssel sei nicht zu finden gewesen. Stattdessen weckte er den Schlafenden damit auf und geriet mit ihm in Streit. Der 22-Jährige berichtet, dass er Harald S. am Kopf getroffen habe – mit einem Holzstück. Er habe aber nie in Tötungsabsicht gehandelt.
Die Mordermittler sind sich sicher, endlich den Täter zu haben. Zwar passt seine Schilderung nicht mit dem Obduktionsergebnis überein: Der Täter muss mehrfach von der Seite zugeschlagen haben. Die Rechtsmediziner registrieren mehrere Schädelbrüche. Und auch das einwandfreie Alibi des Verdächtigen stört zunächst – bis bei „der Überprüfung des Obduktionsberichtes die Tatzeit um 36 Stunden vorverlegt" wird.
Das direkt nach der Festnahme folgende Verhör sollte später im Prozess vor dem Bielefelder Landgericht von großer Bedeutung werden. Denn zum Prozessauftakt widerruft der wegen Totschlags angeklagte Udo G. dieses Geständnis. „Mehrere Beamte haben immer auf mich eingeredet, ich war so durcheinander, ich habe schließlich nur noch ’ja, ja, ja’ gesagt", berichtet er vor dem Landgericht. Er sei einfach nur froh gewesen, dass alles zu Ende war. Er unterschrieb sogar noch das Vernehmungsprotokoll. „Es waren so viele Beamte bei mir, da habe ich dann einfach unterschrieben."
Der Kriminaldirektor höchstpersönlich führt eine „unzulängliche" Vernehmung Erst in der Zelle sei G. klargeworden, was er gesagt und gemacht habe. In der U-Haft sitzenden hoffte er darauf, dass sich die Sache schon aufkläre. Auf die Frage, warum er keine Beschwerde eingelegt habe, sagt G.: „Ich bin kein Mensch, der gleich so Rabatz macht." G. muss bis zum Prozessauftakt im Februar 1973 warten, bis sich etwas tut.
Erst im Gerichtssaal wird deutlich, dass sogar der damalige Kriminaldirektor – also der Chef der Kripo – in das Verhör eingriff. Er habe den Eindruck gehabt, der Beschuldigte fühle sich gehemmt. Also habe er ein Gespräch „von Mann zu Mann" geführt, auf einer menschlicheren Ebene. Mit einem Kopfnicken und einem leisen ’Ja’ habe Udo G. schließlich die Tat gestanden.
Der Richter machte dem Kripochef deutlich, dass diese Art der Vernehmung unzulänglich war. Der Kriminaldirektor habe das selbst bemerkt und sie deshalb abgebrochen, bestätigte dieser. Dass er dem Angeklagten aber Antworten in den Mund gelegt haben soll, verneinte der hochrangige Beamte entschieden.
Eine neue heiße Spur führt die Bielefelder Mordkommission nach Italien Trotzdem wird der Prozess unterbrochen: Denn Udo G. beschreibt vor Gericht einen Italiener, der sich noch bei Harald S. im Neubau des Hauses befand, als er sich – ohne den Schlüssel – entfernt habe.
Das führt zu einer überraschenden Wende: Am Freitag, 16. Februar 1973, wird Udo G. nach neun Monaten aus der Haft entlassen. Den Justizbehörden war es gelungen, den jungen Italiener (19) ausfindig zu machen, den Udo G. ins Spiel gebracht hatte. Und dieser kommt tatsächlich aus seiner italienischen Heimatstadt Trentinara zurück nach Bielefeld, um vor Gericht zu schildern, dass ihm ein Landsmann (22) bei der Rückreise in den Süden den Mord an Harald S. gestanden habe. Demnach habe er den Deutschen im Streit erschlagen und müsse deshalb schnell das Land verlassen. Ein zweiter Landsmann bestätigt später vor Gericht diese Schilderung.
Udo G. steht vier Jahre unter Totschlagsverdacht Die Ermittlungsbehörden stellen einen internationalen Haftbefehl auf den 22-Jährigen aus und bitten die italienischen Behörden bei der Suche nach dem Mordverdächtigen um Amtshilfe. Im Januar 1974 ermittelt Interpol, dass sich der Gesuchte bei Varese (Oberitalien) aufhalten soll. Doch der erhoffte Erfolg bleibt aus. Denn die Behörden werden des neuen Hauptverdächtigen auch zwei Jahre später immer noch habhaft. In der Neuen Westfälischen ist zu lesen: „Interpol konnte ihn weder in Italien aufspüren noch in der Schweiz, wo er nach Angaben seiner Eltern, arbeite."
Udo G. steht in dieser ganzen Zeit weiterhin unter Totschlagsverdacht. Erst im Februar 1976 wird er endgültig freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft betont zwar, dass der Angeklagte weiterhin als Täter in Frage komme und der Vorsitzende Richter Paul Pieper erklärt, dass das Schwurgericht weder sicher sei, dass er der Täter war, noch, dass er es nicht war.
Strafverteidiger des Angeklagten rügt „Fehlurteil um Haaresbreite" Weiter hieß es: „Aber jeder Beschuldigte hat Anspruch darauf, dass sein Verfahren in angemessener Zeit zu Ende gebracht wird", heißt es in der Urteilsbegründung. Deshalb musste das ausgesetzte Verfahren nun zu Ende gebracht werden.
Ewald Kaiser, damaliger Strafverteidiger von Udo G., kritisiert die Kripo scharf, die viele wichtige Spuren nicht intensiv genug ausgeleuchtet habe. Stattdessen hätten die Beamten seinen Mandanten so „lange bearbeitet", bis er zu allem nur noch „ja" gesagt und mit dem Kopf genickt habe. „Um Haaresbreite wäre ein Fehlurteil ergangen und ein junger Mensch für viele Jahre unschuldig hinter Gitter gelandet", wettert er.
Der Mord an dem 25-jährigen Wohnungslosen Harald S. indes bleibt bis heute unaufgeklärt.
Wer Hinweise zum Mordfall Harald S. geben kann, meldet sich bei der Polizei Bielefeld unter Tel. 0521 5450.