Unschuldig hinter Gittern: Spektakuläre Justizirrtümer in Deutschland
Auch in einem modernen Rechtsstaat wie Deutschland landen immer wieder Menschen zu Unrecht im Gefängnis. Falschaussagen, Ermittlungsfehler, mangelhafte Gutachten: Die Gründe für Fehlurteile sind vielschichtig.
VON JENS VOSS VERÖFFENTLICHT AM 21. AUG. 2023, 12:08 MESZ
Die Beweisführung war löchrig, der gesamte Prozess eine Farce. Immer wieder hatte Josef Jakubowski seine Unschuld beteuert. Doch es half alles nichts. Am Februar 1926 senkte sich im Altstrelitzer Gefängnis das Handbeil des Scharfrichters über dem vermeintlichen Kindsmörder. Zwei Jahre nach seiner Enthauptung wurden die wahren Täter überführt.
Heute erinnert ein Gedenkstein am Verwaltungsgebäude des Gefängnisses an Jakubowskis Schicksal – und an einen der fatalsten Justizirrtümer der deutschen Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Fast 100 Jahre sind seitdem vergangenen. Das heutige deutsche Rechtssystem gilt als eines der besten der Welt. Doch kein System ist unfehlbar.
Immer wieder ist es in der Geschichte der Bundesrepublik zu spektakulären Justizirrtümern gekommen, die für Schlagzeilen sorgten und das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit erschütterten. Hier sind sieben solcher erschütternder Fälle aus den vergangenen 25 Jahren.
SIEBEN BEKANNTE JUSTIZOPFER DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Der Fall Gustl Mollath Der Fall Günther Kaufmann Der Fall Ulvi Kulac Der Fall Holger Hellblau Der Fall Harry Wörz Der Fall Norbert Kuß Der Fall Manfred Genditzki
Der Fall Gustl Mollath
2.747 Tage saß Gustl Mollath zu Unrecht in einer psychiatrischen Anstalt – bis er im August 2013 endlich freikam. Mollath wurde fälschlicherweise in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem er Korruptionsvorwürfe gegen seine Ex-Frau und die Bank, bei der sie arbeitete, erhoben hatte. Er wollte Schwarzgeldgeschäfte aufdecken. Doch Mollath wurde als psychisch krank abgestempelt. Viel später erst kam ans Licht, dass er die Wahrheit gesagt hatte. 2019 endete das letzte Verfahren.
Der Fall Günther Kaufmann Günther Kaufmann war ein Star. Der Schauspieler spielte für Kultregisseur Rainer Werner Fassbinder in Filmklassikern wie „Götter der Pest“ oder „Die dritte Generation“. Auch vor Gericht bewies er schauspielerisches Talent. Aufgrund eines falschen Geständnisses wurde er 2002 wegen schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge zu 15 Jahren Haft verurteilt. Kaufmann wollte damit seine kranke Ehefrau schützen, die drei Männer zu der Tat angestiftet hatte. 2005 wurde er in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.
Der Fall Ulvi Kulac Der geistig behinderte Ulvi Kulac wurde 2004 wegen Mordes an der neunjährigen Peggy Knobloch zu lebenslanger Haft verurteilt. Grundlage war ein Geständnis, das allerdings nicht aufgezeichnet wurde und das Kulac später widerrief. Es gab weder eine Leiche noch Spuren oder belastende Zeugenaussagen. Rund zehn Jahre später hob das Landgericht Bayreuth die Verurteilung auf. Im Juli 2016 werden Teile von Peggys Leiche in einem Wald in Thüringen gefunden. Wer die Tat begangen hat, ist immer noch unklar.
Der Fall Holger Hellblau Fünf Jahre verbrachte Holger Hellblau unschuldig im Gefängnis. Er war 2006 vom Landgericht Neuruppin zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er den Liebhaber seiner Frau heimtückisch im Schlaf erstochen haben sollte. Neue Beweise und eine DNA-Analyse brachten seine Unschuld ans Licht. 2010 wurde Hellblau in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Der wahre Täter konnte bis heute nicht ermittelt werden.
Der Fall Harry Wörz Harry Wörz wurde 1998 wegen versuchter Erdrosselung seiner Ehefrau verurteilt. Erst nach fast fünf Jahren Haft wurde seine Unschuld bewiesen. 2009 wurde er wegen gravierender Ermittlungsfehler freigesprochen. Wörz‘ Ehefrau konnte sich nicht mehr zu dem Fall äußern. Sie hatte durch den versuchten Totschlag schwere Hirnschäden erlitten und ist seitdem ein Pflegefall.
Der Fall Norbert Kuß 683 Tage war Norbert Kuß unschuldig hinter Gittern, weil er angeblich seine Pflegetochter sexuell missbraucht haben sollte. Ein mangelhaftes Gutachten brachte ihn im Jahr 2004 ins Gefängnis. Später stellte sich heraus, dass das Mädchen eine Falschaussage gemacht hatte. Erst 2013 wurde Kuß in einem Wiederaufnahmeverfahren aufgrund eines neuen Glaubwürdigkeitsgutachtens nachträglich freigesprochen.
Der Fall Manfred Genditzki Manfred Genditzki wurde 2010 wegen der vermeintlichen Ermordung einer Rentnerin in einem Indizienprozess zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht war zu dem Schluss gekommen, dass er die alte Frau in ihrer Badewanne ertränkt habe. Mehr als 13 Jahre saß er dafür im Gefängnis, bevor er im August 2022 freikam. Grund waren neue Gutachten, die untermauerten, dass die Frau bei einem Unfall in der Badewanne starb und nicht Opfer eines Verbrechens wurde.