Vermisst – Was die Polizei tut, wenn Menschen verschwinden
343 Menschen gelten in Schleswig-Holstein als vermisst. Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte. Und die Polizei muss sie zusammensetzen. Wie geht sie dabei vor? Was können Angehörige bei der Vermisstensuche tun? Und was passiert mit Fällen, die sich über Jahre hinziehen?
Kiel. Es kann Stunden dauern, aber auch Jahre: Wenn die Polizei nach vermissten Menschen sucht, ist jeder Fall anders. Und doch gibt es wiederkehrende Muster und Fragen. Wo fängt man bei der Suche an? Wann wird diese ausgeweitet? Was passiert mit Fällen, die jahrelang andauern? Und wann gilt jemand eigentlich als vermisst?
Wie viele Menschen werden in Schleswig-Holstein vermisst? Am 1. Juli 2023 waren laut Landeskriminalamt (LKA) 343 Menschen in Schleswig-Holstein als vermisst gemeldet. Fast 75 Prozent waren männlich. 146 waren Jugendliche unter 18 Jahren, 43 sogar noch Kinder unter 14 Jahren. Viele von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als drei Monate verschwunden – nämlich genau 243 (56 weiblich, 187 männlich).
Ab wann gilt jemand als vermisst? Hier muss man zwischen Minderjährigen und Erwachsenen unterscheiden. „Minderjährige gelten in jedem Fall als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und ihr Aufenthalt unbekannt ist“, erklärt LKA-Sprecherin Carola Jeschke. Bei ihnen müsse grundsätzlich von einer Gefahr für Leib oder Leben ausgegangen werden, solange Erkenntnisse oder Ermittlungen nichts anderes ergeben.
Bei Erwachsenen komme es auf den Einzelfall an, erklärt Franziska Nagel, die bei der Kieler Kriminalpolizei Vermisstenfälle bearbeitet. Benötigt die vermisste Person medizinische Hilfe? Liegt eine psychische Erkrankung vor? Hat es zuvor eine Suizidandrohung gegeben? Oder liegt es nahe, dass sie Opfer einer Straftat geworden ist? Werden solche Fragen bejaht, gehe man von einer entsprechenden Gefahr aus.
Gibt es dafür aber keine Anhaltspunkte, steigt die Polizei auch nicht in die Suche ein. Erwachsene haben schließlich das Recht, sich frei zu bewegen – und einem alten Leben den Rücken zu kehren. Es komme vor, dass Angehörige jemanden als vermisst melden, der seinerseits keinen Kontakt mehr zur Familie haben will, sagt Katja Sommerschuh, ebenfalls Kripo-Beamtin in Kiel.
„Haben wir Kontakt zu der Person, und es geht ihr gut, geben wir das auch an die Angehörigen weiter. Gleichzeitig teilen wir den Angehörigen auch mit, dass ein Kontakt nicht erwünscht ist. Da muss man diplomatisch und einfühlsam vorgehen“, ergänzt Sommerschuh. Auch der neue Aufenthaltsort der Person wird den Angehörigen in solchen Fällen nicht mitgeteilt.
Wie lange bleiben Menschen in Schleswig-Holstein verschwunden? „Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich bereits mehr als die Hälfte der Vermisstenfälle innerhalb der ersten Woche erledigen. Bei einem Zeitraum von einem Monat liegt diese Quote bereits bei über 80 Prozent“, sagt LKA-Sprecherin Jeschke.
Es gebe eine Vielzahl von Vermissten, die am Tage der Vermisstenmeldung innerhalb weniger Stunden wieder auftauchten. Konkret: In Schleswig-Holstein wurden im ersten Halbjahr 2023 insgesamt 2692 Vermisstenfahndungen gelöscht. 1730 davon verschwanden bereits am Tag der Vermisstenmeldung oder einen Tag danach wieder aus der polizeilichen Datenbank.
Die Kieler Kripo-Beamtinnen haben für diese Zahlen eine Erklärung. In ihrem Alltag werden häufig Jugendliche als vermisst gemeldet, die am Wochenende nach dem Feiern verschwinden oder aus einer Jugendeinrichtung abgehauen sind. Sie tauchten in der Regel am nächsten Morgen aber wieder auf. Auch ältere Menschen mit einer Demenzerkrankung, die aus einem Altenheim verschwinden, werden meist schnell wieder gefunden. „Diese beiden Bereiche machen im Grunde die meisten Fälle aus“, sagt Polizistin Nagel.
Welche Maßnahmen kann die Polizei bei der Vermisstensuche ergreifen? Mögliche Anlaufstellen absuchen, Bekannten- und Freundeskreis befragen, oder den Vermissten direkt anrufen, wenn eine Nummer vorliegt: All dies gehört zu den Standardmaßnahmen der Polizei. Bei verschwundenen Jugendlichen habe es sich bewährt, einfach mal eine Whats-App-Nachricht zu schicken, sagt Ermittlerin Sommerschuh. Je nachdem, wie konkret Hinweise sind, werden Streifenwagen losgeschickt, um einen Ort abzusuchen. Weitere Maßnahmen wie der Einsatz von Suchhunden oder Drohne und Hubschrauber sind im Einzelfall möglich, ebenso wie die Öffentlichkeitsfahndung, um Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten.
Was können Freunde oder Angehörige tun, wenn eine Person verschwindet? Krankenhäuser abtelefonieren, Anlaufadressen abfahren, Freunde, Familie, Nachbarn oder die Schule informieren: Angehörige können selbst einiges bei der Vermisstensuche tun. Aufrufe in den sozialen Netzwerken „können hilfreich sein, dennoch sollte man sensibel vorgehen, und sich gegebenenfalls mit der Polizei absprechen“, sagt Sommerschuh.
Wie behält die Polizei Langzeitfälle im Blick? Wird jemand trotz umfangreicher Maßnahmen nicht gefunden, bleibt die Fahndung bestehen. In den polizeilichen Systemen werden vermisste Personen grundsätzlich für drei Monate zur Fahndung ausgeschrieben. Danach klärt das LKA mit den bearbeitenden Dienststellen, ob sich Fälle erledigt haben. Gilt die Person zu dem Zeitpunkt noch immer als vermisst, verlängert das LKA die Fahndung im System. Dies gilt dann für 30 Jahre – sollte der Fall nicht zuvor widerrufen werden.
Zudem klärt das LKA bei den Dienststellen ab, ob alle Daten eingeholt wurden, die für eine spätere Identifizierung der Vermissten relevant sein könnten – zum Beispiel das DNA-Profil oder das Zahnschema. Laut Polizistin Sommerschuh bearbeitet die Kieler Kripo aktuell etwa 25 Langzeitfälle. Nicht immer lassen sich diese lösen. „Manchmal haben auch wir keine Erklärung für das Verschwinden einer Person“, sagt Sommerschuh. „Natürlich ist es für die Angehörigen sehr belastend, wenn es auf offene Fragen keine Antworten gibt“, ergänzt ihre Kollegin Nagel.
Beispiele für ungeklärte Vermissten-Fälle Das jüngste Beispiel für weiterhin offene Fragen ist der Fall des 86-jährigen Seniors, der Mitte April nach zweiwöchiger Suche mit seinem Auto tot aus dem Hafen des Marinearsenals geborgen wurde. Wie er dort gelandet war, weiß bis heute niemand – auch nicht die Polizei. Er war am Abend seines Verschwindens noch beim Tischtennistraining gewesen, wurde später an einer Tankstelle gesehen und in Kiel in seinem Auto geblitzt.
Ungeklärt bleibt auch der Fall von Florian K. aus Bordesholm. Der damals 21-Jährige verschwand am 26. November 2011. Sein Wagen wurde um 1.48 Uhr mit laufendem Motor und blinkenden Warnlichtern auf einer Fahrspur auf der Holtenauer Hochbrücke entdeckt. Eine mehrtägige Suche im Nord-Ostsee-Kanal verlief ergebnislos. Die Mutter des jungen Mannes glaubte nicht an einen Suizid, weil mehrere Zeugen K. später in Hamburg und Duisburg gesehen haben wollen. Für die Polizei bleibt der Fall offen.