"Recht auf Verschwinden": Warum nicht alle Vermissten wieder auftauchen
Verschwinden Menschen, bittet die Polizei öffentlich um Hinweise – vor allem bei Kindern. Aber: Nicht jeder, der verschwunden ist, gilt auch als vermisst.
Andreas Berger 07.08.2023 | Stand: 07:41 Uhr
Junge Menschen aus dem Allgäu, die von der Polizei öffentlich gesucht werden, weil sie als vermisst gelten: Immer wieder veröffentlichten wir in den vergangenen Monaten solche Meldungen, die zuvor von der Polizei herausgegeben worden waren. Darüber haben wir mit Polizeisprecher Holger Stabik vom Kemptener Präsidium gesprochen.
Wann bittet die Polizei die Öffentlichkeit um Hinweise? Die Fälle, die von der Polizei an die Öffentlichkeit gegeben werden, weil sie Hinweise benötigt, seien nur die Spitze des Eisbergs. Denn bevor die Medien um Hilfe gebeten werden, sei schon viel passiert: Die Polizei befrage beispielsweise Familie, Freunde, Mitschüler, Kollegen. Orte würden abgesucht, an dem sich die Person aufhalten könnte, die Sozialen Medien werden nach Hinweisen durchforstet, Krankenhäuser und Busunternehmen würden kontaktiert. Wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft seien, werde sorgfältig abgewogen, ob öffentlich um Hinweise gebeten werden soll. Denn Angaben über eine Person und ein Foto von ihr seien sehr sensible Daten, die nicht leichtfertig herausgegeben werden dürften, sagt Stabik. Wann gilt eine Person als vermisst? Drei Kriterien müssen erfüllt sein: Erstens: Wenn ein Erwachsener seinen gewohnten Lebenskreis verlassen hat. Das heißt: Jemand kommt immer ungefähr zur gleichen Zeit von der Arbeit nach Hause. Eines Tages aber plötzlich nicht. Per Handy ist er nicht zu erreichen. Zweitens: Niemand weiß, wo die Person ist. Drittens: Es ist wahrscheinlich, dass die Person in Gefahr ist. Etwa, weil sie Opfer einer Straftat geworden, in einen Unglücksfall verwickelt oder auf irgendeine Weise hilflos sein könnte. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Hürde niedriger: Wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, etwa wenn sie nicht von der Schule nach Hause gekommen sind, und niemand weiß, wo sie gerade stecken, gelten sie als vermisst. Warum werden Kinder und Jugendliche öfter über die Öffentlichkeit gesucht als Erwachsene? Wenn sie als vermisst gelten, sei davon auszugehen, dass sie in Gefahr sind, sagt Holger Stabik. Er nennt ein Beispiel: Bei einem Erwachsenen, der nicht nach Hause kommt, könne im Zweifel davon ausgegangen werden, dass er eine Nacht im Freien übersteht. Bei einem Sechsjährigen nicht. Deshalb bitte die Polizei bei Kindern und Jugendlichen „nach grundlegender Abwägung der Erkenntnisse gegebenenfalls“ schneller öffentlich um Hinweise. Wie viel Kinder und Jugendliche verschwanden im Allgäu? Wie viele Kinder und Jugendliche werden pro Jahr als vermisst gemeldet? Zwischen 150 und 300. Wie viele Fälle werden aufgeklärt? 95 Prozent. Gibt es Fälle, die bisher nicht geklärt wurden? Derzeit seien drei Fälle aus den vergangenen Jahren, in denen Kinder verschwanden, ungeklärt. In einem Fall könne davon ausgegangen werden, dass ein Elternteil das Kind mit ins Ausland, in die Heimat, genommen habe. In den beiden anderen Fällen habe es sich um Kinder gehandelt, die mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet seien. Irgendwann seien die Familien nicht in die Flüchtlingsunterkunft zurückgekehrt. Vermutlich seien sie weitergereist, vielleicht zu Verwandten, haben sich aber nicht abgemeldet. Wann werden Vermisstenfälle aufgeklärt? Die meisten seien spätestens nach einer Woche geklärt. Warum verschwinden junge Menschen? Es gebe unterschiedliche Gründe. Dazu gehörten auch Fälle, in denen Jugendliche in einer pubertären Phase der Rebellion ausrissen. Andere, weil sie sich mit den Eltern gestritten haben. Was Eltern tun sollten, wenn ein Kind vermisst wird Wann sollten sich beispielsweise Eltern an die Polizei wenden? Ein „zu Früh“ gebe es nicht, sagt Stabik. Wenn ein sonst zuverlässiges Kind um 18 Uhr zuhause sein sollte, es um 18.30 Uhr aber noch nicht da ist, und die Eltern nicht wüssten, wo es steckt, könnten sie die Polizei rufen. Dann beginne sie, zu suchen. „Im Vordergrund steht das Wohlbefinden des Kindes.“ Was ist, wenn Volljährige verschwinden wollen? Es gibt ein „Recht auf Verschwinden“, sagt Stabik. Wer volljährig ist und nicht mit dem Gesetz in Konflikt steht, darf also sein bisheriges Leben verlassen. Es gebe Fälle, in denen die Angehörigen jemanden dann als vermisst melden. Werden die Gesuchten von der Polizei gefunden, können sie darauf bestehen, dass keine Informationen an die Angehörigen weitergegeben werden. Die Polizei dürfe also nicht über den Kopf einer Person hinweg entscheiden. Und es gelte auch nicht jeder, der verschwunden ist, automatisch als vermisst. Sondern nur dann, wenn unter anderem davon auszugehen ist, „dass Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann“.