Interview: GÜNTHER EPPLE - „Die Spuren einer vermissten Person verblassen schnell“
Jeden Tag werden Hunderte Menschen als vermisst gemeldet. Das Problem für die Polizei: Wer ist wirklich in Gefahr? Interview mit Günther Epple, einem der wichtigsten Polizeiausbilder Deutschlands.
In Deutschland werden täglich Hunderte Personen als vermisst gemeldet. Wie kommt die Polizei da hinterher? Es ist ein Massenphänomen. In den meisten Fällen steckt aber nichts dahinter, weil die Vermissten schnell zurückkommen. Die Schwierigkeit ist zu erkennen, welcher Fall anders gelagert ist, welchem Vermissten auch wirklich etwas passiert ist.
Worauf kommt es da an? Der Schlüsselmoment ist das erste Gespräch auf der Polizeiwache, wenn jemand reinkommt und sagt: Mein Mann, meine Frau, mein Kind ist weg. Da wird entschieden: Dem Fall gehen wir jetzt intensiv nach. Oder eben auch nicht. Es gibt ja auch Fälle, da wollen Menschen bewusst nicht gefunden werden. Und die Polizei ist nicht dafür da, einem Mann die weggelaufene Partnerin zurückzuholen. Die Frau hat wahrscheinlich gute Gründe.
Oft heißt es ja, ein erwachsener Mensch müsse mindestens 24 Stunden verschwunden sein, bis die Polizei überhaupt reagieren darf. Das ist falsch! Das schnappt man gerne in Krimis auf.
Wie ist es denn in der Realität? Es gibt keine Frist. Sie können nach drei Minuten die Suche beginnen, Sie können aber auch drei Wochen später noch dabei bleiben, eben nicht zu suchen.
Ärgern Sie sich über das 24-Stunden-Gerücht? Ach, da müsste ich mich über vieles ärgern, was im Fernsehen kommt. Mir ist wichtig zu sagen, dass jeder unabhängig von irgendeiner Frist zur Polizei gehen soll, falls er sich Sorgen um eine verschwundene Person macht.
Was sind die wichtigsten Hinweise darauf, dass etwas nicht stimmt? Pauschal kann man das schwer sagen. Auffällig ist, wenn jemand verschwunden ist, ohne Geld, Papiere und Kleidung mitzunehmen. Dann stellen wir die Frage, ob es Hinweise auf eine persönliche Krise gibt, also ob Suizidgefahr besteht. Damit die Polizei überhaupt reagieren kann, muss es Hinweise darauf geben, dass Gefahr für Leib oder Leben desjenigen besteht. Bei Kindern zum Beispiel nehmen wir das immer an.
Das heißt, bei Kindern beginnen Sie gleich mit der Suche? Ja, da sind wir verpflichtet, gleich zu ermitteln. Je nach Fall gibt es aber natürlich Unterschiede in den Maßnahmen, die man trifft. Bei einem kleinen Kind ist der Druck besonders groß. Bei einem Jugendlichen würde man zum Beispiel schauen, ob der- oder diejenige denn in den sozialen Medien aktiv ist. Auffällig ist, wenn die Verhaltensmuster sich schlagartig geändert haben; wenn also jemand, der eigentlich minütlich bei Instagram aktiv ist, plötzlich komplett auf Social Media verstummt ist. Das kann natürlich auch damit zusammenhängen, dass sich jemand eine Internet-Auszeit genommen hat, aber in einer solchen Situation würden wir hinterhergehen.
Inwiefern haben die sozialen Medien die Dinge verändert? Die sozialen Medien geben uns sehr gute Ermittlungsmöglichkeiten. Für die Polizei ist es einfach, in diesen Netzwerken zu recherchieren, wenn es keine geschlossenen Gruppen sind. Da fragt man im Freundeskreis eben und oft löst sich das Problem schnell in Luft auf. Mittlerweile besitzen viele Polizeiwachen eigene Teams, die sich nur um Ermittlungen in dieser sogenannten „Open Source Intelligence“ kümmern. Darüber hinaus haben wir in Vermisstenfällen aber natürlich noch die klassischen Ermittlungsmöglichkeiten: Abtelefonieren von Kliniken, Taxizentralen, usw. Und wir können über die Telefonnetzbetreiber klären lassen, ob der Vermisste in letzter Zeit sein Handy benutzt hat und wo.
Wie genau können Sie das Handy orten? Die Netzbetreiber können uns mitteilen, in welchen Funkzellen ein Handy eingewählt war. Aber Funkzellen sind auf dem Land ziemlich groß, manchmal reicht der Empfang eines Masten viele Kilometer weit. In der Stadt sind die Zellen kleiner, da wissen Sie unter Umständen in welchem Straßenblock das Handy ungefähr war.
Und was ist mit GPS? Sofern derjenige seine GPS-Ortungsdienste aktiviert hat, ist das natürlich viel genauer. Dann können wir bei den App-Betreibern, also bei Google oder Facebook, die genauen GPS-Standortdaten erfragen. Das alles setzt natürlich voraus, dass es einen richterlichen Beschluss gibt, der uns das erlaubt.
Scheut die Polizei manchmal solche größeren Maßnahmen, wenn mal eine Teenagerin eine Nacht nicht zuhause war? Sie sagen ja selbst, in fast allen Fällen geht es gut aus. Es kann das Problem der falschen Routine geben. Dass ein Beamter, der vielleicht zwanzig Mal erlebt hat, dass der ganze Aufwand umsonst war, sich sagt: Dann muss ich hier jetzt doch nicht wieder so ein riesiges Rad drehen. Aber so etwas darf natürlich nicht passieren. Deswegen ist in den Polizei-Richtlinien auch festgelegt, dass in Vermisstenfällen das Vier-Augen-Prinzip gilt. Ein Beamter sollte so etwas nie nur allein bewerten und entscheiden. Gerade am Anfang kann sich eine falsche Einschätzung bitter rächen.
Warum ist diese erste Phase besonders wichtig? In Phase 1, also in den ersten Stunden und Tagen können Sie als Polizei noch leichter Spuren finden. Da erinnern sich Zeugen noch, da sind Videoaufzeichnungen noch nicht überspielt. Nach ein paar Wochen bekommen Sie nicht mehr aufgeholt, was Sie am Anfang verpasst haben. Die Spuren einer vermissten Person verblassen schnell. Im schlimmsten Fall bleibt der Mensch vermisst, aber Sie finden als Polizei keinen Ansatzpunkt mehr.
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