Jung, weiblich, indigen, tot Jörg Michel, Edmonton 29.8.2014, 17:03 Uhr
Der gewaltsame Tod einer 15-Jährigen hat in Kanada eine Debatte über das Schicksal Hunderter vermisster und ermordeter Indianerinnen ausgelöst. Viele der Verbrechen wurden bis heute nicht aufgeklärt.
Der Tod einer 15-Jährigen hat in Kanada eine gesellschaftliche Debatte über das Schicksal von Ureinwohnerinnen ausgelöst. Vor wenigen Tagen bargen Polizisten die Leiche der jungen Tina Fontaine in einem Fluss nahe Winnipeg in der zentralkanadischen Provinz Manitoba, sie war eingewickelt in Tüten und Plasticplanen. Fontaine gehörte einem Ureinwohnerstamm an und war wie auffallend viele indigene Mädchen und Frauen in Kanada Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.
1200 vermisste Frauen
Nach einem jüngst vorgelegten Bericht der Bundespolizei gelten in Kanada seit den achtziger Jahren rund 1200 Ureinwohnerinnen als vermisst oder wurden getötet. Knapp ein Viertel dieser Fälle konnte – wie auch bis jetzt der Fall Tina Fontaines – nicht aufgeklärt werden.
Das Schicksal der jungen Frau hat eine breite Diskussion über die soziale Lage der Ureinwohnerinnen in Kanada ausgelöst, in der sich die Regierung und Vertreter der First Nations scheinbar unversöhnlich gegenüber stehen. Der sinnlose Tod der Frauen müsse ein Ende haben, verlangte der Häuptling von Fontaines Stamm der Anishinaabe, Derek Henderson, deren Angehörige etwa 100 Kilometer nördlich von Winnipeg leben. Allein in seinem Reservat sind in den vergangenen Jahren fünf Frauen getötet worden oder sind spurlos verschwunden. Die Vertreter der Ureinwohner fordern eine landesweite Untersuchung der Fälle.
Der Sonderbeauftragte der Uno für die Rechte von Ureinwohnern hat sich der Forderung angeschlossen, ebenso die kanadische Menschenrechtskommission. Deren Chef David Langtry sagte gegenüber dem Nachrichtensender CBC, die Vorfälle seien inakzeptabel für ein entwickeltes Land wie Kanada, man müsse den Ursachen endlich auf den Grund gehen.
Doch die Regierung von Premierminister Stephen Harper fürchtet die negativen Schlagzeilen und versucht eine breite Diskussion zu verhindern. Harper nannte am vergangenen Wochenende den Tod von Fontaine einen singulären Kriminalfall und «kein soziologisches Phänomen», das weiterer Untersuchungen bedürfe.
Armut als ein Auslöser
Die Zahlen der Bundespolizei sprechen eine andere Sprache: Laut ihnen fallen Frauen mit indigenen Wurzeln im Schnitt zwei bis vier Mal häufiger einem Gewaltverbrechen zum Opfer als Frauen anderer Abstammung. Indigene Frauen machen 16 Prozent aller weiblichen Mordopfer in Kanada aus, ihr Anteil an der weiblichen Gesamtbevölkerung beträgt allerdings nur rund vier Prozent.
Experten führen die hohen Opferzahlen auf Armut und fehlende Berufsperspektiven der Ureinwohnerinnen zurück. Rund ein Drittel aller indigenen Frauen in Kanada hat keinen Schulabschluss, nicht wenige verdienen ihren Lebensunterhalt mit Drogen oder Prostitution. Menschenrechtsgruppen machen auch das zerrüttete Vertrauensverhältnis zwischen Justizbehörden und Ureinwohnern mitverantwortlich. Erschwerend kommt die historisch belastete Beziehung zwischen First Nations und Weissen hinzu: Indigene Kanadier mussten sich bis vor wenigen Jahrzehnten auf Geheiss der Regierung in speziellen Internaten assimilieren lassen, dort kam es zu Gewalt und Missbrauch, vor allem gegenüber Frauen.
Auch Tina Fontaine hatte früh Schlimmes erlebt: Ihre drogenabhängige Mutter liess sie als Kind zurück, der Vater wurde ermordet. Zuletzt flüchtete sie mit 60 Dollar in der Tasche nach Winnipeg. Dort verlor sich ihre Spur. Ihr Tod hat jedoch womöglich endlich eine Diskussion darüber ausgelöst, wie man den Ureinwohnerinnen helfen kann.
INDIANISCHE WURZELN AUSTREIBEN Untersuchung deckt Missbrauch an Kanadas Ureinwohnern auf
Edmonton. Kanadas Ureinwohner wurden lange in staatlichen Internaten systematisch missbraucht und misshandelt. Das hat nach sechs Jahren Untersuchung jetzt die staatliche Wahrheits- und Versöhnungskommssion festgestellt.
Dorothy Alpine erinnert sich mit Schrecken an ihre Kindheit. Alpine war sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal in der Schule geschlagen wurde. „Ich hatte mir gerade in der Küche ein Butterbrot geschmiert, als die Nonne hereinkam, mich böse angestarrt und mir eine Ohrfeige verpasst hat. Einfach so, ohne Grund“, erinnert sich Alpine.
Danach war es für sie mit der kindlichen Unschuld vorbei. Auf die Ohrfeige folgten immer mehr und das Leben im Internat in der westkanadischen Stadt Cranbrook wurde für die junge Ktunaxa-Indianerin zum Horror: „Es war so traumatisch für mich, dass ich vor lauter Angst zur Bettnässerin geworden bin.“
Psychische Folgen
Über sechzig Jahre ist das mittlerweile her, doch die 69-Jährige kämpft bis heute mit den körperlichen und psychischen Folgen. Wie so viele Ureinwohner in Kanada, die vom Staat über Jahrzehnte zwangsweise in eigens dafür eingerichtete Indianer-Internate eingewiesen und dort systematisch erniedrigt, geschlagen und misshandelt wurden mit dem Ziel, sie ihrer Kultur zu berauben und in der weißen Gesellschaft zu assimilieren. Vor einiger Zeit hat Alpine ihre Geschichte der Wahrheits- und Versöhnungskommission erzählt, die von der kanadischen Regierung damit beauftragt worden war, die Zustände in den Internatsschulen zu dokumentieren. Die Kommission führte dazu über sechs Jahre hinweg über 6000 Interviews. Am Dienstag wurden die Ergebnisse vorgestellt. Tödliche Quälereien
Der Abschlussbericht legt in schockierender Offenheit eines der dunkelsten Kapitel der kanadischen Geschichte schonungslos offen. Laut Kommission mussten zwischen 1883 und 1996 mehr als 150000 Ureinwohnerkinder die Zwangsinternate besuchen, die vom Staat eingerichtet und finanziert und von den Kirchen betrieben wurden. 6000 Kinder kehrten nicht zurück. Sie starben an den Folgen der Quälereien, der Erniedrigungen oder der Einsamkeit.
Der Kommissionsvorsitzende Justice Murray Sinclair sprach bei der Vorstellung des Berichts von einem „kulturellen Völkermord“, eine Einschätzung, die sich auch Kanadas Oberste Richterin Beverly McLachlin wenige Tage zuvor zu Eigen gemacht hatte. Ziel der kanadischen Politik sei es lange gewesen, „den Indianer im Kind“ zu töten und das „so genannte Indianer-Problem“ ein für alle Mal zu beseitigen, so McLachlin.
Tatsächlich listet der Bericht horrende Zustände auf. So gehörten sexueller Missbrauch und physische Gewalt in vielen Internaten zu Alltag. Knapp 32000 ehemalige Schüler wurden wegen dieser Gewalttaten entschädigt, 6000 Anträge werden noch bearbeitet. Knapp drei Milliarden Dollar hat die Regierung bislang an die Opfer ausgezahlt.
In den Schulen waren auch alle indianischen Sprachen verboten, ebenso kulturelle Bräuche und Feiern. Kontakt zu den Eltern oder anderen Familienmitgliedern war unerwünscht. Die meisten Kinder durften nur einmal im Monat Besuch bekommen – wenn überhaupt. Viele wuchsen ohne ihre leibliche Familien auf. Manchmal wurde den Kindern medizinische Hilfe verweigert, um die Taten zu vertuschen.
Selbstmorde als Folge
Nicht wenige Ureinwohner nahmen sich später aus Scham und Angst über den Missbrauch das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingetrichtert, wie schlecht wir sind und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt“, berichtet auch Dorothy Alpine. Es ist eine Gewaltspirale, die bis heute nachwirkt: In vielen Indianergemeinden Kanadas gibt es mehr Selbstmorde, Verbrechen und Drogenprobleme als im Rest des Landes.
Die kanadische Regierung hatte sich vor sieben Jahren in einer Erklärung zu ihrer historischen Verantwortung bekannt und sich für die Vorfälle entschuldigt. Auch der Papst hat die Vorfälle bedauert, eine offizielle Entschuldigung steht allerdings noch aus. Von einem „kulturellen Genozid“ aber hat die Regierung bislang nicht gesprochen. Zeit zu handeln
Bei einer Parlamentsdebatte in Ottawa am Dienstag vermied Premierminister Stephen Harper den Ausdruck erneut und sprach stattdessen von kultureller Zerstörung. Ebenso wenig wollte er sich festlegen, wie die Regierung auf den Bericht zu reagieren gedenkt.
Kommissionschef Sinclair hat in dem Bericht knapp 100 Empfehlungen vorgelegt, um das Verhältnis Kanadas zu seinen Ureinwohnern zu verbessern. „Die Zeit der Entschuldigungen ist vorbei, jetzt ist Zeit zu handeln“, betonte Sinclair. Unter anderem forderte er eine Erklärung von Königin Elizabeth II., in der die Urvölker als Nationen innerhalb Kanadas anerkannt werden.
Kommission eingesetzt Kanada untersucht Morde an indigenen Frauen Stand: 04.08.2016 14:53 Uhr
In Kanada sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Ureinwohnerinnen verschwunden und ermordet worden - ihre Zahl soll in die Tausende gehen. Die Fälle wurden so gut wie nie aufgeklärt. Die Regierung setzte nun eine Untersuchungskommission ein.
Markus Schmidt, ARD New York
Kanada untersucht Verbrechen an Ureinwohnern tagesschau24 10:00 Uhr, 04.08.2016, Markus Schmidt, ARD New York