Aktenzeichen Mumpf: ungeklärt – Chronologie eines Mordes: «Heute würden wir ihn aufklären»
Im Fricktal gibt es drei ungeklärte Tötungsdelikte. Eines spielte sich auf dem A3-Rastplatz ab. Die Chronologie eines Mordes. Thomas Wehrli 10.06.2018, 05.00 Uhr
Es ist ein eher kühler Tag, der 24. August 1981. Das Thermometer kratzt am Mittag gerade einmal an der 20-Grad-Marke. Das kümmert Georg Heckendorn wohl wenig, wie er sich kurz nach 13 Uhr in Riehen (BS) von seiner Mutter verabschiedet. Wie jeden Mittag hat der Elektriker bei ihr gegessen, sagt, dass er heute erst spät nach Hause kommt. Heckendorn wohnt noch immer im Elternhaus.
Georg Heckendorn, 49, unverheiratet. Er führt ein unscheinbares Leben – und trägt doch so manch ein Geheimnis mit sich herum. Eines entdeckt die Aargauer Kriminalpolizei wenige Tage später: Heckendorn hat «gewisse homophile Neigungen», wie es im TV-Beitrag in «Aktenzeichen XY ... ungelöst» vom 11. Dezember 1981 heisst.
An diesem 24. August, einem Montag, hebt Heckendorn auf der Post 2000 Franken von seinem Konto ab, wie er es stets am Monatsende tut. Er klaubt das Portemonnaie aus seiner linken Gesässtasche, steckt die 20 Hunderternoten hinein. Dies ist eine weitere Besonderheit des Baslers: Er führt zwei Geldbeutel mit. Im einen verstaut er die grossen Beträge, im anderen, das in der rechten Gesässtasche steckt, das Kleingeld. Auf der Arbeit fällt seinen Kollegen an diesem Tag zweierlei an Heckendorn auf: Erstens, dass er schicker angezogen ist als sonst. Zweitens, dass er seinen VW-Campingbus dabei hat. Sprüche fallen. Heckendorn reagiert unwirsch. Im VW-Bus nach Kilchberg
Nach der Arbeit steigt Heckendorn in seinen VW-Bus, fährt nach Kilchberg am Zürichsee. Rund eineinhalb Stunden braucht er für die 100 Kilometer lange Strecke; die Autobahn A3 durch den Bözberg gibt es damals noch nicht. In Kilchberg trifft er Peter, einen knapp 17-Jährigen, der früher in Riehen gewohnt hat und mit dem Heckendorn gut befreundet ist. Heckendorn sei für Peter ein «väterlicher Ratgeber», sagt die Offstimme im TV-Beitrag. Die beiden besprechen eine Reise nach Kanada und Alaska, die Heckendorn im Jahr darauf mit Peter machen will. Dieser reagiert zurückhaltend, weil er seit kurzem eine Freundin hat. Heckendorn passt dies nicht sonderlich, er fürchtet, die Zuwendung von Peter zu verlieren.
Kurz vor 22 Uhr verabschieden sich die beiden vor dem Restaurant, Heckendorn steckt Peter noch etwas Geld zu. Während Peter auf seinem Motorrad davontuckert, steigt Heckendorn in seinen VW-Bus – beige-weiss, Pandakleber an der Beifahrertür, BS 68 455 – und fährt los. Auf dem Autobahn-Rastplatz in Mumpf hält er an. Es ist kurz nach 23 Uhr.
Ob Heckendorn anhielt, weil er sich hier verabredet hatte – der Parkplatz war damals als Kontaktstelle für homosexuelle Beziehungen bekannt – oder ob der Stopp eher zufällig war, ist bis heute unklar.
Ein Mann nähert sich auf der Beifahrerseite dem Bus, zückt eine Pistole, drückt ab. Einmal, zweimal. Glas splittert. Sein Kollege öffnet die Fahrertüre, Heckendorn fällt heraus. Weitere Schüsse fallen. Dann schleppen die Täter den 49-Jährigen in das Gebüsch neben dem Parkplatz. Ob er zu diesem Zeitpunkt noch lebt, können die Ermittler nicht sagen. Einer der Täter zieht Heckendorn das Portemonnaie aus der Gesässtasche. Der rechten. Die Geldbörse mit den 2000 Franken finden sie nicht.
Am nächsten Morgen entdeckt ein Autofahrer den Bus, sieht die zerborstene Scheibe, sieht das Blut am Boden, folgt der Blutspur, findet Heckendorn. Die Kantonspolizei Baselland, die damals verkehrspolizeilich für den Autobahnabschnitt zuständig ist, rückt aus. Sie stellt schnell fest: Das ist kein natürlicher Todesfall, bietet die Aargauer Kollegen auf. Urs Winzenried rückt aus
Dienstagmorgen, Polizeikommando Aargau. Urs Winzenried, 31, seit zwei Jahren Kripochef, nimmt den Anruf entgegen, rückt nach Mumpf auf. Auf dem Rastplatz, der heute noch genauso aussieht wie vor 37 Jahren, kümmert er sich «kriminaltechnisch um den Toten». Er bietet den Pathologen auf. Sein Befund: bekleidete, männliche Leiche, mehrere Einschüsse im Kopf und Oberkörper.
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Urs Winzenried, der in seiner 35-jährigen Laufbahn als Kripochef bis zu seiner Pensionierung 2014 an die 160 Tötungsdelikte untersucht hat, und sein Team ermitteln in allen Richtungen. Schnell ist der Name des Opfers bekannt, auch, dass er kaum Bezugspersonen hatte – und dass er im homosexuellen Milieu verkehrte. Doch dann harzen die Ermittlungen. Zum einen, weil das Tatbild in kein bekanntes Schema passte. Es war kein Serientäter. Zum anderen harzt es, weil die Ermittlungstechnik – aus heutiger Sicht – Anfang der 1980er-Jahre noch in den Kinderschuhen steckte. Die Möglichkeiten, Spuren zu sichern, seien «rudimentär» gewesen, sagt Winzenried. Die DNA-Analyse gab es erst in den USA, von Handys – und damit von Antennensuchläufen – noch keine Spur. Ein nationales oder gar internationales Informationssystem? Fehlanzeige. «Wir mussten mühsam andere Polizeistellen abtelefonieren und nachfragen, ob ihnen ein ähnlicher Fall bekannt ist.»
Die Ermittler wenden sich an «Aktenzeichen XY ... ungelöst». Am 11. Dezember 1981 wird der Beitrag ausgestrahlt. Konrad Toenz präsentiert im Aufnahmestudio in Zürich, wo auch Winzenried sitzt, eine spezielle Schildmütze. Blau-weiss gesprenkelt, grüner Schild, Grösse 58, wenig gewaschen, Firmenaufdruck. Von dieser Mütze wurden nur wenige hergestellt – und als Werbegeschenk abgegeben. Sie wurde auf dem Rastplatz gefunden – und könnte einem der Täter gehören. Denn ein anderer Automobilist sah kurz vor der mutmasslichen Tatzeit zwei Autostopper rund einen Kilometer vom Rastplatz entfernt. Neben Winzenried wird am Bildschirm das Signalement der beiden Autostopper eingeblendet. Zirka 25, 180, schlank, schulterlange, blonde Haare. Blue Jeans, bunte Hemden, Tramperrucksäcke orange und blau. Einer habe einen blonden Vollbart gehabt, sagt Winzenried in die Kamera.
Schnitt. Toenz kommt ins Bild. Hinweise erhoffe sich die Polizei auch von einem blauen Kugelschreiber, der in der Jackentasche von Heckendorn gefunden wurde, ihm aber nicht zugeordnet werden könne, sagt er. Auf dem Kugelschreiber ist ein «J» eingeritzt.
Die Kamera schwenkt zurück auf Winzenried. Heckendorn sei «vermutlich Opfer eines Raubüberfalls», sagt er, spricht vom Portemonnaie mit dem auffälligen Ornament einer Moschee, das dem Toten geklaut wurde, spricht vom Inhalt der Geldbörse. Bargeld, Identitätskarte, Jahreskarte für den Basler Zoo. Für Hinweise wird eine Belohnung von 20 000 Franken ausgesetzt. Entscheidender Hinweis bleibt aus
Ein entscheidender Hinweis geht bei der Kripo Aargau nie ein. Sie ermittelt weiter, doch die heisse Spur findet sie nicht. Nach rund einem Jahr werden die Ermittlungen zurückgefahren. Man habe in solchen Fällen die Ermittlungen jeweils dann wieder aufgenommen, wenn es neue Hinweise gab, erzählt Winzenried. Diese gab es im Fall von Georg Heckendorn nicht. «Von diesem Fall habe ich später nie mehr etwas gehört.»
Natürlich habe es ihn als damals noch jungen Kripochef gewurmt, dass das Tötungsdelikt unaufgeklärt blieb. Ehrgeiz gehört zum Job. «Es belastete auch – vor allem die Frage, ob wir wirklich alles gemacht haben, was wir machen konnten.»
37 Jahre ist seit dem Mord in Mumpf vergangen. Wie Winzenried in seiner Wohnung hoch über Aarau davon erzählt, könnte man meinen, es sei gestern gewesen. Er lacht, wie ich ihn darauf anspreche. «Ich weiss zwar viele Namen nicht mehr. Aber ich kann von fast jedem Tötungsdelikt die Bilder abrufen», sagt er. Diese hätten sich bei ihm eingebrannt.
Winzenried verstummt kurz, blickt über die Dachterrasse in Richtung Staffelegg. «Heute würden wir den Mord aufklären», ist er überzeugt. Dank Spurensicherung, DNA-Analyse und Handy-Antennensuchläufen. Er glaubt, dass es sich bei der Tat nicht um einen geplanten Mord gehandelt hat, sondern um eine Zufallsbegegnung, wohl zwischen Heckendorn und den beiden Trampern. «In einem solchen Fall stellt niemand das Handy ab», ist er überzeugt. Oder dann, wenn es – ermittlungstechnisch – zu spät ist. Nach der Tat.
Es ist ein eher kühler Tag, dieser Dienstag, 25. August 1981. Das Thermometer zeigt rund 18 Grad, als sich Kripochef Urs Winzenried auf dem Rastplatz in Mumpf ein Bild vom Tatort und der Tat macht. Es ist der Anfang einer Geschichte ohne Ende.