Vor 44 Jahren machte ein Bundeswehrsoldat bei einem Manöver eine schreckliche Entdeckung: Im Wald in Stangenrod stieß er auf eine unbekleidete, stark verweste Leiche. Bis heute gibt der Fall Rätsel auf.
Grünberg - In Zeiten des Kalten Krieges ein gewohntes Bild, gerade in den grenznahen Ausläufern des Vogelsbergs: Immer wieder zur Herbstzeit, als die Felder abgeerntet waren, probten Nato-Truppen den Ernstfall. Auch im Herbst 1976. Eines jener "Reforger"-Manöver, mit denen nicht zuletzt die "Rückkehr" von US-Truppen nach Europa geübt wurde. Unter dem Namen "Gordian Shield" machten sich in der ersten Septemberwoche 1976 rund 40 000 Soldaten rund um Alsfeld bereit, den Angriff von Truppen des Warschauer Paktes abzuwehren. Den "Feind" erwarteten sie aus Richtung Kassel.
Zu der Gefechtsübung befohlen war auch das 4. Panzergrenadier-Bataillon 152 der Bundeswehr, stationiert in Westerburg. Für einen der Soldaten sollte gleich der erste Manövertag eine grausige Entdeckung bereithalten: In einem Waldstück in Stangenröder Gemarkung, nahe eines Weges, fand er eine nur mit Ringelsocken bekleidete Leiche.
Grünberg: Verwesungsprozess weit fortgeschritten Wie die Gießener Allgemeine damals den Polizeisprecher zitierte, war der Verwesungsprozesses sehr weit fortschritten. So weit, dass ohne gerichtsmedizinische Untersuchung nicht mal das Geschlecht des Leichnams erkenntlich war. Offen blieb am Tag eins der Entdeckung zudem, ob es sich um ein Gewaltverbrechen oder einen Freitod gehandelt hatte.
Wie es in der ersten Meldung dann noch hieß, sei das Manöver bisher ohne schwere Zwischenfälle und mit nur leichten Verkehrsunfällen verlaufen. "Auch die Manöverschäden hielten sich, begünstigt durch das anhaltend schöne Wetter, in vertretbaren Grenzen."
Opfer eines Kapitalverbrechens Die Frage nach der Todesursache zumindest sollte bereits am 8. September 1976 geklärt werden. Die Obduktion ergab, dass der Schädel des Toten zertrümmert worden war. Zwar könne auch ein Unfall nicht gänzlich ausgeschlossen werden, "mit großer Wahrscheinlichkeit" aber sei der Unbekannte Opfer eines Kapitalverbrechens geworden.
Die Gerichtsmediziner stellten auch fest, dass es sich vermutlich um den Leichnam eines 15 bis 18 Jahre alten Mannes handelte, etwa 1,60 Meter groß und schlank, mit mittel- bis dunkelblonden Haaren. Die Liegezeit des Toten gaben die Pathologen mit vier bis sechs Wochen an.
Der grausige Fund und die mysteriösen Umstände boten damals natürlich jede Menge Stoff fürs Dorfgespräch. Davon zu berichten weiß Rudolf Hausmann aus Stangenrod. Lange Jahre bei der Stadt Grünberg beschäftigt, kann der 78-Jährige den Fundort lokalisieren. Danach handelte es sich um das Flurstück "In der Zäunbach", östlich der Landesstraße, die von Atzenhain nach Lehnheim führt. Auch unter den Dorfbewohnern habe bald die Annahme vorgeherrscht, die Täter seien von der nahen Autobahn abgebogen und hätten die Leiche im Wald abgelegt. Was die Identität des Opfers angeht, machten auch Gerüchte über eine angebliche Sexualstraftat die Runde. Wie so oft: Belastbare Belege gab es keine.
Mord bei Grünberg: Keine heiße Spur Keine belastbaren Ergebnisse sollte aber auch die Fahndung der Kriminalpolizei Gießen erbringen. Daran änderten weder Aufrufe an die Bevölkerung, die Bitte um Hinweise auf vermisste Personen oder um verdächtige Fahrzeuge nahe des Tatorts.
Drei Monate später, im Dezember 1976, war die Polizei keinen Schritt weiter. Die Beamten waren zu diesem Zeitpunkt rund 20 Hinweisen und Spuren nachgegangen, die Ermittlungen waren inzwischen aufs gesamte Bundesgebiet ausgeweitet worden, samt der Überprüfung ähnlich gelagerter Fälle. Nur: Eine heiße Spur hatte sich nicht aufgetan.
Dass ein Bürger der zivilisierten Bundesrepublik verschwinde, ohne dass dies der Polizei gemeldet werde, bezeichnete der leitende Ermittler gegenüber der Presse als "höchst ungewöhnlich". Ausnahmen seien allenfalls in Kreisen illegal eingereister Ausländer, alleinstehender Strafentlassener, bei Angehörigen sozialer Randgruppen oder Vollwaisen, die aus einem Heim entlassen wurden, oder bei Patienten psychiatrischer Kliniken denkbar.
"Es gibt keine Superverbrecher, der keinen Fehler macht" Die Nähe des Fundorts zur A 5 nährte bei der Kripo den Verdacht, der junge Mann könnte ein Ausländer gewesen sein, "der auf der Durchreise ermordet wurde". Dass von Gießen aus Interpol eingeschaltet worden sei, so die Vermisstendateien europaweit überprüft würden, merkte der Kripo-Chef an. Durchaus denkbar sei daher, dass so doch noch die Identität des Toten entschleiert werde. In der Hoffnung, daraus neue Ermittlungsansätze zu gewinnen.
Keineswegs habe man den Fall bereits zu den Akten gelegt. Die Recherchen auf internationaler Ebene liefen weiter. Auf die Nachfrage des damaligen GAZ-Kollegen, ob es sich hierbei womöglich um den "perfekten Mord" handeln könnte, antwortete der Chef-Ermittler: "Es gibt keinen Superverbrecher, der keinen Fehler macht." Gerade bei Mord sei der Täter in einer stark belastenden psychischen Ausnahmesituation, von der auch der eiskalte Killer nicht gänzlich unberührt bleibe. "Hier werden immer Fehler gemacht. Perfekt ist ein Verbrechen niemals."
Grünberg: Weder Identität des Opfers noch Täter ermittelt Allerdings sei auch die Polizei nicht immer perfekt, was die Aufklärung einer Tat, zusammen mit verhängnisvollen Umständen, erschweren könne. Manchmal, sagte der Kripo-Chef, dauere es Jahrzehnte, bis ein Mord aufgeklärt werden könne. Nur ganz selten kämen die Täter davon.
Offensichtlich zählt der gewaltsame Tod des jungen Mannes in der Stangenröder Fichtenschonung dazu. Wie Nachfragen bei Polizei und Staatsanwaltschaft ergaben, konnten bis heute weder die Identität des Opfers geklärt noch die Täter ermittelt werden. Für Jörg Reinemer, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelhessen, stützt dies die These, dass die Täter tatsächlich von der Autobahn abgebogen waren, die Leiche abgelegt hatten und auf gleichem Weg verschwunden waren.