25.10.2019 06:01 | NACHRICHTEN > ÖSTERREICH GROSSE DUNKELZIFFE
Totgeschwiegen: Jeder 2. Mord bleibt unentdeckt Bei Morden beträgt die Aufklärungsquote stolze 95 Prozent - ein Erfolg! Allerdings gibt es laut Gerichtsmedizinern auch eine erschreckende Dunkelziffer: Jeder zweite Mord bleibt unentdeckt.
Laut dem Kriminalbiologen Mark Benecke geht es bei dieser bedenklichen Zahl aber keinesfalls um schlampige Polizeiarbeit, sondern schlicht und einfach darum, dass viele der Gewalttaten nicht als Tötungsdelikte erkannt werden. Beleuchtet man die Dunkelziffer, bzw. hinterfragt man, woran die Österreicher wirklich sterben, erhellt dies die These von den vielen totgeschwiegenen Morden.
130 Mordversuche und 60 Morde im Vorjahr angezeigt
Im Vorjahr kamen 83.975 Österreicher ums Leben: 32.684 an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 20.574 an „bösartigen Neubildungen“ (Krebs), 5546 an Krankheiten der Atmungsorgane, 4492 an Vergiftungen und Verletzungen, 2799 an Erkrankungen der Verdauungsorgane. Allerdings wurden auch 17.880 Verstorbene aller anderen Todesarten aufgelistet, wobei „nur“ 130 Mordversuche und 60 Morde angezeigt wurden.
Publizist Thomas Trescher (39) ging dem Phänomen nach. Er kommt in seinem aktuellen Buch zum Schluss: „Jeder zweite Mord bleibt unentdeckt, da viele Morde nur durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erkannt werden. Aber diese finden immer seltener statt.“ Traurigerweise allein deshalb, weil extrem gespart wird!
„Durch Einsparungen bei Obduktionen entstehen falsche Grundannahmen“
Trescher stieß bei seinen Recherchen, warum die Zahl der Verstorbenen mit unbekannter Todesursache Jahr für Jahr steigt, „auf zahlreiche (fast) nicht entdeckte Tötungsdelikte“: etwa den Fall eines Mannes, der sich selbst in den Kopf geschossen haben soll, obwohl er seine Arme nicht heben konnte, oder einen Toten mit Serienrippenbrüchen, dem ein natürlicher Tod diagnostiziert wird. Benecke kommt im Vorwort des Buches „Tot Geschwiegen“ (Edition QVV, Addendum) zu dem Schluss, dass durch bedenkliche Einsparungen bei Obduktionen falsche Grundannahmen entstehen.
Gerichtsmedizin als Fall für die Pathologie
Tatsächlich werden immer weniger Verstorbene obduziert. In den meisten Fällen, auch in manch bedenklichen, untersucht nicht mehr der Gerichtsmediziner, sondern ein Pathologe den Leichnam. Selbst in der Geschichte sorgten geschönte oder gefälschte Autopsien dafür, dass Dinge verdreht wurden: Aus Morden wurden Selbstmorde, aus Anschlägen Unfälle, aus Mordversuchen Hoppalas ...
Rechtshänderin schoss sich in die linke Schläfe
In Österreich sorgte der „Liebestod“ des verheirateten Kronprinzen Rudolf (30) und seiner 17-jährigen Geliebten Mary Vetsera für einen der wohl bedenklichsten Kriminalfälle. Dass Rudolfs Selbstmord auf „seinen abnormen Geisteszustand“ zurückgeführt wurde, damit er in der Kaisergruft begraben werden konnte, sei dahingestellt. Kurios mutet allerdings die Selbstmordtheorie an, wonach sich Mary Vetsera als Rechtshänderin mit der Pistole in die linke Schläfe geschossen haben soll. Fakt ist: Nach dem Drama wurde dem Leichnam des Mädchens ein Hut aufgesetzt, in den Rücken steckte man ihr einen Stock, setzte es in einen Fiaker und brachte es vom Tatort im Jagdschloss weg. Einen Kronprinzen des Mordes zu bezichtigen ging denn doch wohl zu weit!
Blättert man die Liste der übersehenen Bluttaten, des Versagens bei Totenbeschauungen, Kurzschlusshandlungen überforderter Spitalspfleger - sprich die makabersten Fälle - durch, läuft einem der kalte Schauer über den Rücken. Denn hier tun sich Abgründe der menschlichen Seele auf.
Tragödie um die Lainzer Todesengel
So etwa die Tragödie um die Lainzer Todesengel: 1991 wurden vier Stationsgehilfinnen des Wiener Krankenhauses zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, weil ihnen das Gericht 27 Morde und 28 Mordversuche nachgewiesen hatte. „Die Fälle wären beinahe unerkannt geblieben, da es im Todespavillon keine ordentlichen Obduktionen gab“, so Wiens „Columbo“ Max Edelbacher. Er leitete die Ermittlungen im Fall der mörderischen Schwestern.
„Schwarze Witwe“ Elfriede B.
Dem damaligen Chef der niederösterreichischen Mordgruppe, Leopold Etz, wiederum gelang es, den Fall der „Schwarzen Witwe“ zu klären: Der spielsüchtigen Elfriede B. wurden 1997 drei Giftmorde nachgewiesen. Erst Exhumierungen und gerichtsmedizinische Untersuchungen belegten, dass sie in der Wachau drei Männer - mit schwer nachweisbaren Medikamenten - getötet hatte.
Sturz von der Terrasse war brutaler Totschlag
Vor zwei Jahren versuchte ein Wiener (48) den Tod seiner Frau als Suizid darzustellen.
Sie wurde schlussendlich obduziert - er wegen Totschlag verurteilt …
NEUES BUCH WIRFT VOR: „Staat hat kein Interesse, alle Morde aufzuklären“
95 Prozent aller Morde in Österreich werden aufgeklärt. Das sieht auf den ersten Blick nach einer recht positiven Statistik aus. Tatsächlich ist es aber so, dass jeder zweite Mord erst gar nicht entdeckt wird. Die Hintergründe zu diesem Thema hat Autor und Publizist Thomas Trescher in seinem neuen Buch „Tot Geschwiegen - Warum es der Staat Mördern so leicht macht“ recherchiert. Moderatorin Damita Pressl hat sich im krone.at-Talk mit ihm darüber unterhalten. Das Buch erscheint am 31. Oktober.
Die Idee für das Buch hatte Trescher durch eine Studie aus dem Jahr 1997. Damals hat sich ein deutscher Gerichtsmediziner Fälle angesehen, die zuerst „als natürliche Todesfälle klassifiziert wurden. Nach einer erneuten Obduktion ist man bei über einem Viertel dieser Fälle draufgekommen, dass es sich dabei nicht um einen natürlichen Tod gehandelt hat“, so der Autor. In seinem neuen Werk beschreibt der Autor auch einige aufgeklärte Fälle, bei denen zuerst ein vermeintlich natürlicher Tod festgestellt wurde.
Auch in Österreich sei die Zahl der Obduktionen (die Obduktionsrate beträgt aktuell ca. zehn Prozent) in den vergangenen Jahren gesunken, sodass man Deutschland und Österreich in dieser Hinsicht durchaus vergleichen könne.
Staat zeige „kein allzu großes Interesse“
Das Grundproblem sei laut Trescher, dass der Staat „kein allzu großes Interesse“ daran habe, wirklich alle Morde aufzuklären: „Wenn man jetzt mehr Morde aufklären will und findet diese auch, dann steigt auch die Mordstatistik. Folglich wird es für den Innenminister schwer zu erklären sein, dass zwar gute Arbeit geleistet wird, die Mordrate aber trotzdem steigt.“ Das würden auch einige ehemalige Gerichtsmediziner aus Österreich bestätigen. Einer der Gründe, warum der Staat nicht alle Verbrechen aufklären wollen würde, sei die Überlastung in der Justiz.
Verdacht, dass einiges übersehen wird
Zurückgegangen seien vor allem die „sanitätspolizeilichen Obduktionen“. Dabei handelt es sich um unklare Todesursachen. Zum Beispiel, wenn jemand tot auf der Straße gefunden wird und man nicht genau wisse, „ob etwa eine Überdosis daran schuld sei oder nicht. Das nährt den Verdacht, dass man gerade bei diesen Fällen einiges übersieht.“
Für eine genauere Aufklärung bräuchte man auch mehr Gerichtsmediziner. Dieser Mangel an Fachkräften liege daran, dass sich weder die Universitäten noch die Justiz finanziell dafür zuständig fühlten, solche Menschen auszubilden. Auch die Ärzte für die Totenbeschau würden immer schlechter ausgebildet und bezahlt, sodass es oft nicht einmal zu einer Obduktion komme.