Eltern verzweifeln an Ungewissheit: Wieso musste unser Sohn (10) sterben?
Im Juni wurde ein Junge (10) von einer U-Bahn erfasst und schwer verletzt. Er starb in der Klinik. Wie es zu dem Unfall kam, wissen die Eltern bis heute nicht. Nun suchen sie Zeugen.
Frankfurt - Dieser Freitag sollte ein besonderer Tag werden. Nur noch drei Wochen bis zum Beginn der Sommerferien waren es, für die Viertklässler der Ebelfeldschule stand ein Theaterbesuch statt Unterricht auf dem Stundenplan. Der zehnjährige Mihai freute sich auf diese Abwechslung. In drei Wochen würde er die Grundschule hinter sich lassen und nach den Sommerferien aufs Gymnasium gehen. Der aufgeweckte Junge hatte so viele Interessen, Talente, und er hatte Träume.
Nun ist Mihai tot. Er starb an den schweren Verletzungen, die er erlitt, als er an jenem 7. Juni, einem hellen, sonnigen Sommertag, um 8.30 Uhr an der U-Bahnstation "Hausener Straße" von der U7 erfasst wurde. Gut zwei Wochen lang kämpften Ärzte im Klinikum Höchst um das Leben des schwer verletzten Kindes. Vergeblich. Mihai starb am 24. Juni im Krankenhaus. Es war ein Montag.
Eltern des Jungen verzweifelt: Jede Wahrheit weniger schwer erträglich als quälende Ungewissheit
Die Eltern Georgiana und Cosmin Cojoc sind untröstlich. Mihai war ihr einziges Kind. Tag und Nacht hatten sie in der Klinik am Bett des Jungen gesessen, der mit schweren Kopfverletzungen im Koma lag. 17 Tage lang, die angefüllt waren von Bangen und Hoffen. Sie hatten ihren kleinen Sohn gestreichelt und seine Hand gehalten, hatten gehofft, dass Mihai sie spüren würde, dass er wieder gesund, dass wird. Aber nichts wurde gut. Auch heute, viele Wochen nach dem Unfall, ist der Schmerz nicht weniger geworden. "Weil wir nicht wissen, was genau passiert ist", sagt Georgiana Cojoc.
Nicht zu wissen, wie genau es geschah, dass die U-Bahn Mihai erfasste, wie er stürzte und sich so schwer verletzte, das sei unerträglich. Jede Wahrheit und Gewissheit, sagt die Mutter, sei weniger schwer erträglich als die sie quälende Ungewissheit. Geradezu rätselhaft sei es, dass es bis heute keine Zeugen des Unfalls gebe, die der Polizei Angaben zu dem Hergang des Geschehens machen könnten.
Deshalb haben die Eltern nun die Initiative ergriffen und in der Stadt Flugblätter verteilt mit dem bewegenden Appell "Die Familie bittet um Ihre Mithilfe. Wir wollen wissen, was passiert ist, dass unser einziger Sohn sterben musste."
Junge von U-Bahn erfasst und schwer verletzt – Was geschah an dem warmen Sommertag im Juni?
Wie ist es möglich, dass es keine Zeugen gibt? Der 7. Juni war ein sonniger, warmer Sommertag. Um 8.30 Uhr war der Bahnsteig "Hausener Straße" keineswegs menschenleer. Im Gegenteil. Um diese Uhrzeit geht es dort lebhaft zu. Es warten Berufstätige, Schüler, Studenten auf den Zug, der hier oberirdisch fährt und sie Richtung Innenstadt bringt. Einige lesen Zeitung, viele daddeln auf ihren Handys, manche warten einfach.
Die Polizeimeldung über Mihais Unfall liest sich nüchtern: "Heute Morgen (7.6.2019) kam es an der U-Bahn-Haltestelle "Hausener Weg" zu einem Unfall. Dabei wurde ein zehn Jahre altes Kind schwer verletzt. Die U-Bahn fuhr gegen 8.30 Uhr an der Haltestelle ein. Plötzlich kollidierten die Bahn und der 10-jährige Junge. Sofort eilten an der Haltestelle wartende Personen zur Hilfe und alarmierten sofort die Rettungskräfte. Der 10-Jährige wurde umgehend in ein Krankenhaus verbracht. Nach bisherigen Erkenntnissen hat er sich schwere Verletzungen zugezogen."
Wieso hat niemand der Wartenden bemerkt, wie der Unfall geschah?
An der Haltestelle hatten Wartende also sofort geholfen - glücklicherweise, hatten sie Rettungskräfte herbeigerufen. Wieso hat niemand der Wartenden bemerkt, wie der Unfall geschah? Eine Nachfrage beim zuständigen Polizeirevier 11 (Rödelheim) bringt wenig Klarheit. Revierleiter Reiß bestätigt: "Beamte unserer Dienststelle haben die Erstaufnahme des Unfalls vorgenommen." Er selbst sei nicht dabei gewesen. Erstaufnahme bedeutet: Feststellung der Sachlage, Feststellung der Personalien beteiligter Personen und von Zeugen. Anschließend, erklärt Reiß, ermittelt eine Spezialabteilung im Polizeipräsidium, um den Hergang des Unfalls aufzuklären.
Nachfrage im Polizeipräsidium: "Die Akte ist noch aktiv", erklärt Polizeisprecher Alexander Kießling. Es wird noch ermittelt: die Blackbox, die jede U-Bahn an Bord hat, wird ausgelesen, die Ampelschaltung zum Zeitpunkt des Unfalls ermittelt, Zeugen werden gehört. Kießling spricht von "zehn oder elf Zeugen", die aktenkundig seien, hinzu käme der Zugführer. Es werde ermittelt, ob er schuldhaft oder fahrlässig gehandelt habe. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, gehe die Akte an die Staatsanwaltschaft zur weiteren Bearbeitung.
Polizei gibt keinen Auskunft zu aktuellen Stand der Ermittlungen – Eltern hoffen auf Gewissheit
Über den aktuellen Stand der Ermittlungen will Kießling keine Auskunft geben. Fest steht nur, dass der Junge in Höhe eines Fußgängerüberwegs, der bis auf eine Ampelanlage ungesichert ist, von der U7 erfasst wurde. Ob er versucht hat, die Gleise zu überqueren oder an der Ampel wartete, wird noch zu klären sein. Mihais Eltern verzweifeln an der Unwissenheit. Sie haben sich nun Rechtsbeistand geholt. "Aber die Anwältin erfährt auch nicht mehr als wir", sagt Georgiana Cojoc. "Wenn die polizeilichen Ermittlungsarbeiten noch nicht abgeschlossen sind, gibt es keine Akteneinsicht für Anwälte", erklärt Polizeisprecher Kießling.
Bei der Aufklärung des Unfalls wollen die Eltern nun auch aktiv werden. "Wir, die Eltern, bitten jeden, der etwas gesehen hat, Kontakt zu uns aufzunehmen", bitten sie auf dem Flugblatt. Hinweise nehmen sie per E-mail entgegen: unfall.hausenerweg@yahoo.com oder das 11. Polizeirevier unter Telefon (0 69) 7 55-1 11 00.