Der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht. Nun zu unserem letzten Teil.
Wenn die Auskunftsperson richtig wahrgenommen hat und sich an alles korrekt erinnert, dann bleibt immer noch eine große Fehlerquelle: die Widergabe. Die Bilder müssen richtig übertragen werden – vom Kopf des Zeugen in den des Richters. Was dabei passiert, haben wir in einem Experiment zusammen mit Axel Wendler getestet. Wir haben einem Studenten eine Strichzeichnung gezeigt. Er sollte sich das Bild einprägen und dann dem nächsten erzählen. Dieser wiederum machte sich sein eigenes Bild und schilderte das einem Dritten usw. Was auf dem Bild zu sehen ist, beschreibt Axel Wendler:
"Auf dem Bild, das unsere erste Person zu sehen bekommt, sieht man eine Seite einer Straßenbahn oder U-Bahn. Da sitzen im Hintergrund fünf Personen, zwei Frauen und drei Männer, einer schläft, einer liest in einem Buch, der andere in einer Zeitung. Eine der Frauen hat ein Kind auf dem Schoß und im Vordergrund stehen zwei Männer: ein schwarzer in einem Anzug gekleideter und ein weißer, kahlköpfiger, der in einer aggressiven Körpersprache auf den schwarzen deutet, so daß der Eindruck eines Streitgespräches zwischen den beiden entsteht."
Und der erste erkennt darin ein Muster, nimmt also subjektiv wahr.
„Und das eine könnte ein Schaffner oder so sein. Hat irgendwie so eine Art Uniform an.“ „Sehen Sie eigentlich Farben?" „Nein.“
Die zweite Mitspielerin hat die vollständige Beschreibung gehört und wird nun ihrerseits ihr eigenes Bild beschreiben. Uns interessiert natürlich vor allem, wie sich die verschiedenen Bilder voneinander unterscheiden werden. Axel Wendler.
„Mit Sicherheit - davon gehe ich jedenfalls aus, wird unsere nächste Teilnehmerin Farben sehen. Ich habe diese Frage ja ausdrücklich an den ersten diese Frage gestellt und er war nun verhaftet an das Bild, das er tatsächlich gesehen hat. Sie aber schaut sich nur ihr eigenes Bild an, das sie in ihrem eigenen Kopf macht. Und das hat natürlich Farben. Und sie wird uns sicherlich die Kleidung in Farben beschreiben können:" "Die hat so ein Kleid an, ein bißchen so ein Oma-Kleid mit Blümchen drauf. Der Mann neben ihr hat eine Jeans an und ein Hemd." "Dann haben wir noch die zwei Exponierten. Wie sehen die denn aus?" "Das sind ganz normale Fahrgäste. Bei einem fällt mir auf, daß er weiße Socken trägt." "Jetzt meinte ich noch die zwei Gestikulierenden." "Also der eine scheint ein Schaffner zu sein, der ist uniformiert. Der andere ist farbig." "Und was hat der an?" "Der hat so ein kanariengelbes Poloshirt an." "Und der Schaffner - die Uniform?" "Die ist dunkelblau und er hat so eine Schaffnermütze mit so einem roten Band rum an."
Das Ursprungsbild war eine Strichzeichnung, nun hat es schon Farbe bekommen. In das Bild des nächsten kommt sogar Bewegung:
„Und der andere ist wohl schwarzer Hautfarbe und gestikuliert ganz wild und brüllt wohl auch, also ich sehe seine Mundbewegungen und der Schaffner geht relativ gut auf ihn ein, so scheint es, hält aber auch gut dagegen.“
Und eine wichtige Erkenntnis ist auch, daß bei der Umsetzung von Worten in eigene Bilder Erfahrungen und Vorverständnis eine bedeutende Rolle spielen. Worunter stellt sich ein Schwabe einen Straßenbahnwaggon vor?
"Der Straßenbahnwaggon ist so ein typischer, wie er in Stuttgart früher eingesetzt wurde, mit roten Kunstlederbezügen."
Und die Wahrnehmung wird auch von äußeren Umständen beeinflußt. Das zeigt uns die vierte Mitspielerin, die uns in einem heißen Raum ihr Bild beschreibt:
"Die Fahrgäste sind alle leicht bekleidet, weil es heiß ist im Waggon und die Tür vorne ist offen."
Und auch der Trend, das Bild immer mehr zu erweitern, wird fortgesetzt. Auf der Strichzeichnung war nur eine Momentaufnahme aus einer Straßenbahn zu sehen, nun haben wir eine ganze Szene:
"Um die Haltestelle rum ist ein Park und auf der anderen Seite sehe ich Häuser, also Wohnblock und Leben."
Was läßt sich aus einem solchen Spiel lernen? Axel Wendler:
„Daß wir gezwungen sind, aufgrund von mit Worten, die wir hören Bilder uns zu machen und daß wir uns im klaren darüber sein müssen, daß diese Bilder oft weit entfernt von demjenigen, das der andere gerade vor seinem geistigen Auge hat. Ich denke, es ist ganz wichtig, sich klarzumachen, daß wir alle sehr viel beitragen, sowohl die Sender, wenn sie uns was berichten als auch wir Empfänger, wenn wir etwas hören. Daß wir immer weiter weg gehen, von dem, was wirklich passiert ist."
Und wenn wir uns nochmal klar machen. Damit eine Aussage zuverlässig ist, muß das Ereignis erst richtig wahrgenommen, dann richtig erinnert, außerdem wahrheitsliebend geschildert und schließlich richtig verstanden werden. 50 % aller Zeugenaussagen sind unzuverlässig, haben wir gehört – mindestens.