Der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht. Und wir kommen nun zu etwas Klassischem: Errare humanum est – irren ist menschlich.
Realitätskriterien und Warnsignale können Aussagen auf ihren Lügengehalt hin überprüfen. Aber man spricht nur von „subjektiver Wahrheit“, denn die Auskunftsperson kann sich auch geirrt haben. Und diesen Irrtum wird sie auch gegen alle Widerstände verteidigen, z.B. wenn sie etwas falsch wahrgenommen hat. Wir erkennen in Mustern und ziehen – manchmal vorschnell – Schlüsse, um welchen Gegenstand es sich handeln muß. Armin Nack, Richter am Bundesgerichtshof:
"Angenommen, Sie sehen ein Auto auf der Straße: Woran erkennen Sie, daß es ein Mercedes ist? Sie erkennen es daran, daß Sie ein Muster im Gedächtnis haben, wie ein Mercedes aussieht: Kühlergrill, Mercedesstern, äußere Form. Und wenn Sie nun eine Wahrnehmung machen, werden diese Wahrnehmungen, die Sie machen, verglichen mit den Mustern, die Sie im Gedächtnis haben. Und dann kommen Sie auf den Gedanken: 'Der sieht so ähnlich aus wie ein Mercedes. Aha es war ein Mercedes." Und der Zeuge wird behaupten, es war ein Mercedes. In Wirklichkeit war es vielleicht ein japanischer Lexus-Wagen, der so ähnlich aussieht wie der Mercedes. Und das hat diese biologischen Gründe, daß unsere Vorfahren sehr schnell erkennen mußten: Aha, das ist ein Löwe, vor dem muß ich fliehen, und diejenigen, die geflohen sind, haben überlebt und diejenigen, die nachgedacht haben, ist es vielleicht doch kein Löwe, die wurden von den Löwen später irgendwann einmal gefressen."
Aus einer Reihe von Details ziehen wir also unsere Schlußfolgerungen. Wir können nicht alles vollständig wahrnehmen. Unsere Sinnesorgane sind nicht gut genug: In der Dämmerung können wir zum Beispiel keine Farben sehen. Und auch die Flut von Reizen können wir nicht bewältigen. Die allerwenigsten registrieren wir überhaupt. Axel Wendler, Richter am Landgericht Stuttgart:
"Wir sehen nur Bruchstücke eines Geschehens, es bleiben Lücken, und diese Lücken werden unbewußt geschlossen, entweder hin zum üblichen oder zu dem was gut in den Handlungsablauf hineinpaßt oder aber auch zum Besonderen. Wenn der Beteiligte eben besonders groß war, dann wächst er noch ein bißchen. Hat er vielleicht eine auffällige Nase, hat er gar eine Hakennase mit Pickel womöglich. Da wird natürlich immer mehr übertrieben - unbewußt natürlich."
Das hat man schon oft gestestet:
„Ich erinner mich etwa an einen Verkehrsunfall, den wir geschehen ließen, ein kleiner Auffahrunfall zwischen zwei Fahrzeugen und dann sind vier Beteiligte ausgestiegen, haben miteinander diskutiert uns sind dann wieder in die falschen Autos eingestiegen und wir haben dann die unbeteiligten Zeugen beschreiben lassen, was da passiert ist und uns auch Personenbeschreibungen geben lassen. Einmal erinnerte sich ein Zeuge an die Fahrerin. Er beschrieb sie als Schwarze mit Rastalocken; tatsächlich war das aber eine Deutsche eher blassen Teints mit dunklem Haar. Tatsächlich war einer der Männer Schwarzer. In einem anderen Fall, wo wir was ähnliches getestet haben - auch ein Verkehrsunfall, gab es überhaupt keinen Schwarzen und doch wurde ein Schwarzer gesehen, oder ein Polizeibeamter sah eine Frau mit einem Turban."
Und auch wenn sie den Unfall nicht gesehen haben, wollen manche Leute im nachhinein irgendetwas wahrgenommen haben. Armin Nack kennt dieses Phänomen der Knallzeugen:
„Die drehen sich um, wenn sie den Knall gehört haben, sehen dann die Fahrzeuge in die Endstellung rollen und rekonstruieren dann, wie der Unfall gewesen ist. Und wenn dann noch ein roter Porsche dabei war, dann fuhr der besonders schnell und es gibt noch männliche Zeugen, die sehen, daß eine Frau am Steuer war daraus den Schluß ziehen, daß die Frau schuld gewesen sein muß.“
Unser Vorverständnis ist also für unsere Wahrnehmung auch mitentscheidend. Wahrnehmung wird subjektiv verfälscht. Wir nehmen das wahr, was wir wahrnehmen wollen, das was wir verstehen – und wir lassen uns beeinflussen. Durch uns selbst – denken Sie an Neugier oder brenzlige Situationen – oder auch durch andere. Ein Experiment hat das nachgewiesen. Armin Nack:
„Man hat einer Gruppe Studenten erzählt: Der Referent, der jetzt kommt, ist ein brillanter Rhetoriker, fesselnd, was er erzählt, faszinierend, wie er das vorträgt. Und der anderen Gruppe hat man erzählt: Einen solchen Langweiler von Referenten haben wir noch nie gesehen. Spröde trägt der vor, überhaupt nicht anschaulich. Und dann hat man den Referenten vor diesen Studenten vortragen lassen und dann die Studenten gefragt, wie sie denn den Referenten fanden. Diejenigen, denen er vorher als fesselnd beschrieben worden war, die fanden ihn ganz toll und die anderen fanden ihn ganz langweilig. Und auch als man die Studenten aufgeklärt hat und ihnen gesagt hat, daß man sie manipulieren wollte, blieben sie bei ihrer Einschätzung.“
Alleine in der Wahrnehmung können also Fehler auftreten, genauso bei der Erinnerung. Ein großer Feind der gespeicherten Information sind Gespräche mit anderen Beteiligten über das Ereignis. Es bildet sich dann eine gemeinsame Meinung über den Ablauf. Und diese Meinung überschreibt die wahrgenommene Information wie eine Computerdatei. Ähnliches passiert, wenn Gewaltopfern zur Identifizierung des Täters ein Fotokatalog mit Verdächtigen gezeigt wird.
Überhaupt werden nur die wenigsten Informationen in unserem Langzeit-Gedächtnis gespeichert – und dort müssen sie hin, um auch Monate später vor Gericht abrufbar zu sein. Der Filter ist auch hier unser Interesse. Das, was wir uns merken wollen, behalten wir. Routinehandlungen gehören nicht dazu. Den Herd ausmachen oder das Wasser der Waschmaschine abdrehen. Das alles machen Sie unbewußt, und wenn Sie in Urlaub fahren und im Flugzeug überlegen, ob Sie auch wirklich an alles gedacht haben: Sie können sich nicht daran erinnern, so sehr Sie sich anstrengen. Diese Informationen sind für immer weg. Es sei denn, Sie haben sich ihre Handlung bewußt gemacht. Vor Gericht ist dann folgende Situation denkbar. Jemand soll bei Rot über die Ampel gefahren sein und dadurch einen Unfall verursacht haben. Er wird sich nicht mehr daran erinnern, weil das Überfahren der Ampel zu den Routinehandlungen gehört. Vor Gericht wird er ehrlicherweise nur sagen können, daß er normalerweise nicht bei Rot über die Ampel fährt. Wenn das Gericht schlecht geschult ist, wird er den Prozeß verlieren.
Interessant ist, wie unser Gedächtnis Informationen speichert. Nicht wie ein Videoband, so daß man Filme vor seinem geistigen Auge beliebig oft abspielen könnte. Die Informationen werden mit Verknüpfungen gespeichert. Das ist ja der Effekt, den die Werbung erzielen will: Daß Sie einen Sportler mit einem Produkt in Beziehung setzen. Was man wissen muß, ist daß das Gedächtnis mehrere ähnliche Situationen nicht mehr auseinanderhalten kann. Axel Wendler:
"Etwa ein Polizeibeamter, der immer wieder an der selben Kreuzung einen Unfall aufnimmt, und in der Verhandlung meint, sich an das Geschehen genau zu erinnern, aber eben nun mehrere Unfälle zusammengezogen hat - unbewußt."
Voll überzeugt wird er dann Fakten liefern, die von einem ganz anderen Unfall sind. Und bewußt wird die Verschmelzung natürlich auch genutzt – von Lügnern. Sie werden kaum eine Phantasiegeschichte von A bis Z erfinden. Sie überlegen sich, ob sie so etwas ähnliches schon einmal erlebt haben und verändern nur wenige Details. Das ist nur über einen sorgfältigen Vergleich der Aussageteile zu knacken, also ob sich Körpersprache, Ausdrucksweise oder Detailreichtum verändern. Wenn aber etwa das Opfer die Tat einem anderen in die Schuhe schieben will und gerade mal Zeit, Ort oder gar nur den Namen austauscht, ist das die größte Herausforderung für einen Vernehmer.