Der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht. Wie gut eine Vernehmung ist, hängt nicht nur von den Zeugen, sondern auch - im hohen Maße sogar - vom Vernehmenden ab. Axel Wendler:
"Das Wichtigste ist, sich klarzumachen, daß wir von den Zeuginnen und Zeugen etwas wollen, nämlich möglichst viel Auskunftsmaterial, das wir dann analysieren können. Die Richter/Richterinnen, Polizeibeamten/Polizeibeamtinnen, Staatsanwaltschaft, wollen etwas von den Zeugen, sie müssen sich deshalb um sie bemühen. Sie dürfen sich nicht auf ihr hohes Roß setzen und nun einfach jemanden laden und sich das von dem schildern lassen, sondern sie müssen auch entsprechende Vorleistungen treffen. Wenn da eine Anreise von mehreren 100 Kilometern ansteht, dann denke ich, kann ich nicht jemanden auf 9 Uhr morgens laden."
Axel Wendler bietet Zeugen am Landgericht Stuttgart auch an, vorher den Gerichtssaal zu sehen. So kann ihre Anspannung etwas gemildert werden. Solche Entgegenkommen zeigen dem Zeugen, daß er als Person wahrgenommen wird. Er wird dann eher bereit sein, an der Vernehmung mitzuwirken. An sich eine banale Erkenntnis: aber in der Praxis sind kleinere Gesten nicht immer selbstverständlich.
Das Wichtigste in der Vernehmung ist die Trennung zwischen Bericht und Verhör. Erst sollte der Zeuge ausführlich berichten, dann erst sollte der Vernehmende seine – möglichst offen formulierten - Fragen stellen. Oft kann er sich nicht zurückhalten und unterbricht den Zeugen. Aber das ist schlecht. Wenn Absprachen zwischen den Beteiligten vorliegen, kann der Richter das hauptsächlich durch den Vergleich der Berichte durchschauen. Wenn hier auffallende Gemeinsamkeiten vorliegen, ist das ein Anzeichen für ein Komplott. Und in der Regel werden die Teilnehmer des Komplottes nur das Kerngeschehen abgesprochen haben. Je mehr man fragt, was vorher und nachher war, desto vager werden die Aussagen. Axel Wendler:
"Dann werden wir sehen, daß die Aussage eine andere Qualität aufweist, daß möglicherweise Zurückhaltungssignale oder gar Verweigerungssignale auftauchen, daß sich die Beteiligten nicht mehr erinnern können angeblich oder nicht zugeschaut haben und hier haben wir dann die große Chance, daß alle an der selben Stelle sehr viel wissen, aber alle an denselben Stellen auffallend wenig. Und da unser Gedächtnis eigentlich für diese Nebenumstände gleich gut ist, ist zu erwarten, daß sie in allen Bereichen sich erinnern können müßten. Und dann ist es nur eine Frage der Vernehmung, daß wir etwas finden, wo wir sie in Widersprüche, in direkte Widersprüche verwickeln können."
Zusammen mit Axel Wendler haben wir das in einem kleinem Spiel ausprobiert. Drei Studenten sollten sich ein Komplott ausdenken. Folgenden Sachverhalt haben wir vorgegeben: Vor einem Jahr hat sich der Beklagte, Thomas Müller, in seinem Neubau das Bad fliesen lassen, genauer das Klo. Ursprünglich war vorgesehen, halbhoch zu fliesen, dann wurde aber der Kläger, Herr Kimmerling, beauftragt, doch deckenhoch zu fliesen. Nun will Thomas Müller den erhöhten Preis nicht mehr bezahlen. Vor Gericht behauptet er, Herr Kimmerling habe ihm als Entgegenkommen die Fliesen bis zur Decke hoch umsonst gelegt. Zwei Zeugen sollen bei dem Gespräch angeblich dabei gewesen sein. Die Studenten hatten eine Woche Zeit, sich eine Geschichte zu überlegen. Hören wir einfach mal in den Bericht des Beklagten, Thomas Müller, hinein:
"Er hat gemeint, diese halbhohe Fliesweise, so wie's ursprünglich ausgemacht war, würde ästhetisch nicht so toll wirken." "Und dann?" "Dann war es so, daß er mir zugesichert hat, das kostenlos - ohne Mehrpreis - hochzufliesen. Das fand ich toll, weil ich ihn ja für die ganze Sache beauftragt habe, und er ist nicht der Günstigste. Ich fand das ein tolles Entgegenkommen und hab mich sehr gefreut."
Das Gespräch soll um den 1. Mai herum stattgefunden haben. Warum er sich nach über einem Jahr noch so genau daran erinnern kann, möchte Richter Wendler wissen:
"Das weiß ich deswegen so genau, weil ich noch Besuch bekommen habe und an dem Tag noch einen Ausflug unternommen hab." "Jetzt wird mir noch nicht klar die Verknüpfung ‚Besuch – Ausflug‘“. „Ja, das liegt daran, daß ich dann noch eine Radtour machen wollte mit dem Herrn Mayer. Und zwar aus einem ganz witzigen Grund: Eine Kollegin von mir, die Frau Schmidt, die hat ihn kennengelernt und die wollt ich so etwas zusammenführen. Wir hatten dann ausgemacht, der Ulrich Mayer und ich, daß wir eine Radtour machen zum Kirchentellinsfurther See und dort dann anschließend hinfahren.“
Thomas Müller müßte sich eigentlich an den angeblichen Ausflug genauso gut erinnern können wie an das Gespräch mit dem Fliesenleger. Die Beteiligten werden aber vermutlich über den gemeinsamen Ausflug wenig abgesprochen haben. Er dient ja nur der Begründung dafür, daß die Zeugen dabei gewesen sein sollen. Der Trick ist also nun, Fragen über dieses Randgeschehen zu stellen und die Antworten zu vergleichen. Zum Beispiel: Wie lange hat die Fahrt gedauert? Darauf war die Gruppe offensichtlich nicht gefaßt. Achten Sie einmal darauf, wie sich Thomas Müller windet und versucht, Zeit zu gewinnen:
„Die Fahrt zum See oder zu diesem Bereich, also das ist ja die typische Radlerplatte. Wie lange sind wir da gefahren? Etwas länger als sonst, weil die Frau Schmidt ein etwas anderes Tempo, glaub ich, drauf hat, als der Herr Mayer und ich und deswegen ging das – ha! – mindestens 20 Minuten länger als sonst.“ "Und wie lang ging das sonst?" "Das kommt drauf an, ob man die Mountainbike-Strecke fährt. Ich weiß nicht, ob Sie die kennen, die geht am Wald entlang..." "Nee, es interessiert mich eigentlich die Strecke, die man gefahren ist!" "Wir sind sicherlich die einfachere gefahren. Das ist die Inline-Skater-Strecke. Die befindet sich am Tal." "Und wie lang braucht man für die sonst?" "Ich würd' sagen - kommt auf die Geschwindigkeit an - 20 Minuten etwa." "20 Minuten, nochmal 20 Minuten - haben Sie also die doppelte Zeit gebraucht." "Ja, bestimmt."
Wir haben es gemessen: 45 Sekunden hat er für diese Angabe gebraucht. Axel Wendler:
"Man hört an dieser Stelle sehr schön, was in ihm gedanklich vorgeht. Er wird kalt erwischt, auf diese Frage ist er offensichtlich nicht vorbereitet. Und nun versucht er, Zeit zu gewinnen, indem er uns sprachlich offenlegt, was er eigentlich denkt. Er fragt sich sogar selber: wie lange sind wir da gefahren? Jetzt arbeitet's in seinem Kopf, dann kommt so eine übliche Zeit und prompt totaler Widerspruch zu den Angaben der beiden anderen."
Und das liegt daran, daß er etwas ganz Gefährliches sagte, nämlich, daß seine Zeugin, Daniela Schmidt, eine ungeübte Radfahrerin sei. Mal hören, ob er damit recht hat:
"Also man fährt ungefähr so von hier aus in Tübingen 20 Minuten, oder so, denk ich fährt man schon. Also ich denk mal so lang." "Fahren Sie öfters Rad?" "Ja, manchmal schon, also so Fahrradtouren hin und wieder." "Also nicht das allererste Mal, nicht so, daß Sie völlig außer Tritt waren oder gar nicht hingekommen sind?" "Nö. So war's nicht." "Also, so üblicherweise was man braucht. 20 Minuten schätzen Sie."
Und der zweite Zeuge, Uli Mayer:
„Gott! Dreiviertelstündchen oder sowas? Weiß ich nicht, also ich bin die Strecke jetzt schon öfters gefahren, ich brauch da nicht länger. Aber wie lang wir da jetzt gebraucht haben, das weiß ich nicht mehr.“ "So eine Dreiviertel Stunde etwa." "Jaja."
Auch an Details, etwa wie das Haus ausgesehen haben könnte, hat die Gruppe nicht gedacht. Auch hier finden sich Widersprüche:
"Hat es Fenster gehabt?" Müller: "Ich meine nein, das ganze Dach war ja auch noch nicht ausgebaut!" Hat es ein Dach gehabt? Mayer: "Es war gedeckt, jaja, klar."
Im Gegensatz zu Herrn Müller und Herrn Mayer, bietet Frau Schmidt nur wenige Details an. Dadurch widerspricht sie zwar niemandem, aber es bleibt auch relativ wenig Inhaltliches übrig. Achten Sie einmal darauf, wie vage Frau Schmidt antwortet und wie wenig sie sich festlegen möchte:
"Wer kam denn zuerst am Rohbau an, Sie oder der Herr Mayer?" "Das weiß ich nicht mehr, keine Ahnung! kann ich mich nicht mehr dran erinnern." "War der Herr Müller schon dort?" "Der war schon dort. Ich denk schon." "War der - Handwerker haben Sie ihn genannt -, war der schon da?" "Ha, ich weiß jetzt eigentlich nicht genau, wer da jetzt zuerst oder danach kam. Ich kann mich jetzt nicht mehr so gut an Einzelheiten erinnern. Ich weiß nur noch, daß wir uns irgendwann mal in dem Haus befunden haben."
Je mehr Details der Richter – überraschender Weise – von den Zeugen wissen will, desto mehr entlarven sie, daß sie alles nur erdacht haben. Achten Sie nur auf die spontane Reaktion von Uli Mayer auf die Frage von Axel Wendler:
"Wo haben Sie denn Ihre Fahrräder hingetan?" „Puh! (Lachen)“ „Ja vor dem Haus irgendwie.“ „Ich kann mir vorstellen, daß es ein ganz schönes Chaos war. Hat's da Platz gehabt?“ „Jaja...“ „Also dieses Lachen hört sich ja jetzt wie eine Art Schock an. Er ist jetzt völlig überrascht, daß ihm die Frage gestellt wurde. Und dann brummelt er so vor sich hin...“
Er weiß also nicht mehr so recht, wo er sein Fahrrad abgestellt hat, aber wie der Fliesenleger aussah, das will er noch wissen.
"Der war ziemlich klein, das hab ich noch in Erinnerung. Ich schätz mal, so um die 60, also etwas älter." "Noch irgendwas erinnerlich?" "Brille hat er gehabt!" "Brille! An die Brille erinnert er sich. Völlige Belanglosigkeit. Er weiß nicht, was sie sonst noch gemacht haben und von der Frau Schmidt - auch wenn da nichts draus geworden ist aus der Beziehung, würde ich doch eher vermuten, daß er eher eine Erinnerung an sie haben müßte, aber er erinnert sich noch an die Brille von dem Handwerker.“
Denn sein Interesse dürfte eher auf den Flirt mit Frau Schmidt als auf die geschäftlichen Angelegenheiten seines Freundes gegangen sein. Und die Erinnerung an das, was von Interesse ist – vor allem wenn es mit Gefühlen zu tun hat – bleibt haften. Verblüffend ist die Aussage von Herrn Mayer auch, wenn man vergleicht, wie Thomas Müller seinen Kontrahenten beschrieben hat – genau gleich:
"Er ist deutlich kleiner als ich, also ich schätz mal ein Kopf kleiner - und etliche Jahre älter. und eine Brille, eine etwas dickere." „Man sieht: Da wird bereitwillig Auskunft gegeben, dankbar das, was abgesprochen wurde, uns angeboten und andere Dinge, die genauso gut da sein müssten, werden sehr viel ungenauer, sehr viel vager ausgedrückt. Und der Vergleich zwischen diesen Aussageteilen denke ich, macht es möglich zu sagen, daß hier offensichtlich Absprachen stattgefunden haben."
Durch eine genaue Aussagenanalyse läßt sich also herausfinden, ob die Auskunftsperson lügt. Eine solche Analyse wird in der Praxis durch schriftliche Protokolle erschwert. Die Aussagen werden darin nur zusammengefaßt – und zwar in der Sprache des Richters oder Polizeibeamten. Dabei gehen viele wichtige Informationen verloren, z.B. ob ob eine Suggestiv-Frage vorausging. Deshalb plädiert Axel Wendler, Vernehmungen auf Tonband oder – besser noch – auf Video zu protokollieren. Unterm Strich ist das auch nicht teurer und erspart viel Arbeit... und vor allem: es dient der Wahrheit. Gefährlicher als die Lüge ist der Irrtum. Denn die Aussage des Irrenden bietet alle Realitätskriterien, er möchte ja auch die Wahrheit sagen, kann es aber nicht: Er hat die Situation nicht richtig wahrgenommen oder kann sich nicht mehr richtig daran erinnern, glaubt sich aber im Recht. Die Irrtumsmöglichkeit wird in der Beweiswürdigung oft übersehen.