Der Sachverhalt wird vor Gericht hauptsächlich durch Befragung von Zeugen festgestellt. Aber: Der Mensch ist nicht so, wie ihn sich die Juristen wünschen: er nimmt nur die wenigsten Dinge wahr und ist vergeßlich. Und: ab und an fehlt ihm die Wahrheitsliebe. Armin Nack, Richter am Bundesgerichtshof und Lehrbuchautor:
"Der Mensch ist, soweit er als Zeuge auftritt, biologisch natürlich eine Fehlkonstruktion."
Zur richtigen Zeugenaussage muß der Mensch das Ereignis erst mal richtig wahrgenommen haben, er muß sich gut daran erinnern können und er muß es so schildern, daß in den Köpfen der Richter das gleiche Bild entsteht. Überall treten - ganz natürlich - Fehler auf. Und dennoch: Das Vertrauen der Richter in die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen scheint unerschütterlich. Axel Wendler, Richter am Landgericht Stuttgart:
"Wir haben einmal untersucht, wie gehen Zivilverfahren aus, wenn eine Partei einen Zeugen oder eine Zeugin vorweisen kann und die andere nicht. Da hat sich herausgestellt, daß in 95 % aller Fälle die Partei, die den Zeugen hatte, auch den Prozeßsieg davongetragen hat. Das kann sicherlich so nicht zutreffend gewesen sein. Die Zahl allein ist schon aussagekräftig. Wir haben dann aber in einem zweiten Schritt noch weiter untersucht, und dadurch wird das ganze noch spektakulärer: Wie geht es aus, wenn beide Parteien einen Zeugen oder eine Zeugin haben und die sagen das Gegenteil aus - es ist also offensichtlich, daß eine der Seiten die Unwahrheit sagt - und da haben die Gerichte eine sehr hohe Tendenz, nach Beweislast zu entscheiden, sich also nicht festzulegen. Und nun war es sehr spektakulär: Es gab nämlich keinen einzigen Fall, in dem sich eine Kammer des Landgerichts Stuttgart in dieser Untersuchung zugetraut hätte, für die eine oder andere Seite Partei zu erfreifen, sondern es wurde immer wieder geschrieben: Beide Zeugen oder Zeuginnen seien gleich glaubwürdig."
Die Richter sind nicht gut genug geschult, Aussagen auf ihre Zuverlässigkeit hin zu überprüfen, sagt Axel Wendler vom Landgericht Stuttgart. Deshalb reist der Strafrechtler durch ganz Deutschland, hält Fortbildungsseminare für Richter und den juristischen Nachwuchs. Die wichtigste Botschaft: Man soll nicht davon ausgehen, daß die Auskunftsperson die Wahrheit sagt:
"Mindestens die Hälfte aller Aussagen vor Gericht sind unzuverlässig. Einmal weil sie auf absichlichen Verzerrungen - der Lüge - beruhen und zum anderen, weil es sich um Irrtümer - um unbewußte Fehler handelt. Weil das so ist, daß mindestens 50 % aller Aussagen falsch sind, deswegen kann man einer Aussage immer nur eine Anfangswahrscheinlichkeit für ihre Zuverlässigkeit von 50 % geben."
Jede Auskunftsperson hat also sozusagen 50 Glaubwürdigkeitspunkte. Und nun sucht Axel Wendler nach Anhaltspunkten, die für und die gegen die Zuverlässigkeit der Aussage sprechen. Jedes der sogenannten Realitätskriterien gibt Plus-, jedes Warnsignal gibt Minuspunkte. Am Ende kann dann die Aussage gewürdigt werden. Das wichtigste Realitätskriterium ist die Schilderung von Details. Denn: Eine Lügengeschichte ist karg. Bundesrichter Armin Nack:
"Ich will es mal ganz drastisch ausdrücken: Der Lügner ist eigentlich ein armes Schwein. Man muß regelrecht Mitleid mit ihm haben vor seiner schweren Aufgabe und die meisten Lügner sind auch wirklich blutige Amateure. Sie lügen verdammt schlecht. Der Lügner hat ja wenige Anhaltspunkte für das, was er bringen soll. Er muß sich vorbereiten, wenn er überhaupt Zeit dafür hat, er muß viel Phantasie aufbringen und weiß nicht, welche Fragen an ihn gestellt werden. Andererseits darf er nicht soviel Aussagen detailliert machen, daß man ihm nachweisen kann, daß er lügt. Er ist also in dem Dilemma, einerseits Details bringen zu müssen, andererseits aber nicht zuviel Details bringen zu dürfen, um ihn nicht der Lüge zu überführen. Das ist das sogenannte Lügendilemma."
Deshalb ist für die Aussageanalyse all das interessant, was in einer wahren Aussagen zu erwarten wäre. Psychologe Max Steller vom Institut für forensische Psychiatrie in Berlin:
"Wenn jemand etwas erfindet, dann muß er auf der Handlungsebene ja was schildern: Der hat das gemacht, der hat das gemacht. Aber der lügende Zeuge denkt vielleicht nicht daran, Gefühlsschilderungen, Gedankenschilderungen, Schilderungen von Handlungsabbrüchen, Komplikationsschilderungen vorzunehmen."
Die Komplikationsschilderungen sprechen schon deshalb für die Zuverläsigkeit der Aussage, weil das Leben eben voller Probleme steckt, aber kaum ein Lügner bietet Details von aufgetretenen Schwierigkeiten an - die wären ja wieder überprüfbar. Bundesrichter Armin Nack mit einem Beispiel zum Merkmal der Komplikation:
„Zwei Männer überfallen einen anderen Mann in dessen Wohnung und wollen ihn umbringen. Das Opfer berichtet davon, wie man versucht hat, ihn in die Badewanne zu legen, um ihn in der Badewanne mit dem Fön zu töten. Er berichtet Details: Sie ließen die Badewanne vollaufen mit lauwarmen Wasser - auch das ein Detail, das jemand, der nur eine Lügengeschichte erzählen würde, nicht erfunden haben könnte - dann stellen sie den Fön auf die höchste Stufe - auch das wieder ein Detail - dann wollen sie den Fön in die Badewanne werfen, aber leider reicht das Kabel nicht bis zur Wanne. Dann sucht man ein Verlängerungskabel... und so geht das weiter. "
Man kann fast sagen: Je ungewöhnlicher die Geschichte scheint, desto glaubhafter ist sie. Denn ein Lügner wird eher unspektakuläre Geschichten auftischen; Ganz einfach: weil scheinbar „Absurdes“ unrealistisch wirkt. So wie die Aussage eines Opfers, das in der eigenen Wohnung überfallen wurde. Nochmal Armin Nack:
"Das Opfer hatte ein Spielzeugauto, ein Polizeiauto in seinem Schrank, und durch die Erschütterung, durch die Schläge, die es bekommen hat, hat sich das Auto plötzlich bewegt und es ging die Polizeisirene von dem Spielzeugauto los. Die Täter glaubten, es sei ein echtes Polizeifahrzeug und flüchteten. Also sowas kann man nicht erfunden haben, das muß tatsächlich so passiert sein. So ein originelles Beispiel spricht einfach für die Lebensnähe."
Und für die Lebensnähe sprechen auch Gefühlsäußerungen - oder auch die Art der Schilderung. Wenn ein sexuell mißbrauchtes Kind etwa in seiner eigenen kindlichen Sprache die Tat beschreibt. Oder auch wenn das Opfer den Täter entlastet - von einem böswilligen Lügner wäre das nicht zu erwarten. Armin Nack mit einem Beispiel:
"Eine Frau, die vergewaltigt worden ist, schildert, wie der Täter zu ihr gesagt hat: Wenn du keinen Orgasmus hast, dann mach ich dir ein Kind. 'Und als er dann zum Orgasmus kam', schildert die Frau, 'dann ist er doch aus ihr herausgegangen, hat also sie nicht der Gefahr der Schwangerschaft ausgesetzt.‘ Sie hat ihn auch ein Stück weit, obwohl ja die Äußerung des Täters viel weiterging, entlastet. Diese Entlastung spricht für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage."
So läßt sich auch überprüfen, ob ein Zeuge eine besondere Motivation hat, etwa einen Schurken hinter Gitter zu bringen, Verwandten und Bekannten zu helfen oder als Kronzeuge seine eigene Strafe zu mildern. Viele glauben, daß es für die Zuverlässigkeit spricht, wenn der Zeuge seine Aussage in verschiedenen Vernehmungen gleich macht – aber man muß aufpassen! Nochmal Armin Nack:
"In der Juristerei herrscht ja allgemein die Vorstellung vor, ein Zeuge ist dann besonders glaubwürdig, wenn er konstant, sicher und bestimmt und in allen Vernehmungen gleich aussagt: Genau das ist falsch. Man muß sehr stark differenzieren: Gleich bleiben muß der Kern des Geschehens. Und der Kern des Geschehens muß ganz eng gefaßt werden. Das, was für den Zeugen oder Angeklagten zentral war: Ort, Zeit und handelnde Personen. Und Geschehen am Rande kann und sollte sich auch verändern. Das spricht dafür, daß sich der Zeuge bemüht hat, die subjektive Wahrheit zu sagen."
Und das wird oft falsch gemacht: Vor Gericht heißt es dann, der Zeuge habe sich in Widersprüche verwickelt. Einem Zeuge können aber auch durch Assoziationen neue Einzelheiten einfallen. Diese Erweiterung der Aussage ist kein Widerspruch, sondern geradezu ein Zeichen für die Wahrheit. Durch eine geschickte Vernehmung, zum Beispiel am Tatort, können solche Assoziationen geweckt werden. Falsch ist der Vorwurf, warum das dem Zeugen nicht gleich eingefallen ist. Axel Wendler:
"Niemand ist in der Lage, zu jedem Zeitpunkt all seine Erinnerungen abzurufen. Das kennen wir alle: Sie treffen einen alten Schulfreund auf der Straße, unterhalten sich mit dem 15 Minuten, tunlichst vermeiden Sie, ihn beim Namen zu nennen. Und kaum ist er um die Ecke, da fällt es Ihnen wieder ein, wie er heißt. Wir sind einfach nicht in der Lage, zu jeder Zeit alle Erinnerungen abzurufen und deswegen ist es nur natürlich, daß Auskunftspersonen in verschiedenen Vernehmungen Verschiedenes sagen, einmal etwas wissen und einmal etwas nicht wissen."
Die Erweiterung ist also eher ein Realitätskriterium, ein Anzeichen dafür, daß die Aussage stimmt. Daneben gibt es auch Anzeichen, die die Vermutung stützen, daß die Auskunftsperson lügt – das sind die sog. Warnsignale.