Sie war noch grausiger als Honka Elisabeth Wiese, die „Engelmacherin von St. Pauli“
Von Olaf Wunder 28.05.19, 15:42 Uhr
Ihre Opfer waren Neugeborene. Wehrlose Geschöpfe also. Gerade das ist es, was die Taten so unfassbar macht. Elisabeth Wiese erstickte die Babys, verbrannte sie dann in ihrem Kohleofen oder versenkte sie in der Elbe. Als „Engelmacherin von St. Pauli“ schrieb sie vor 114 Jahren Kriminalgeschichte. Ein grausigeres Kapitel noch als Fritz Honka.
Es ist der 2. Februar 1905. Ein bitterkalter Wintermorgen. An diesem Tag muss Elisabeth Wiese für alles bezahlen. Die Armesünderglocke läutet, als die 51-Jährige unter den Augen von 40 Zeugen in den Hof der Untersuchungshaftanstalt Holstenglacis geführt wird.
Der Hamburger Staatsanwalt fordert ihren Tod
Sie trägt Holzpantinen und eine schwarze Kutte. Ihre strähnigen Haare sind kurz geschnitten. Der Staatsanwalt verliest das Todesurteil und schließt mit den Worten: „Gott sei Ihnen gnädig“. Dann fordert er Scharfrichter Alwin Engelhardt auf, seines Amtes zu walten. Dessen Gehilfen packen Elisabeth Wiese, schnallen sie auf dem Gestell der Guillotine fest und treten zurück. Schon saust das 40 Kilo schwere Fallbeil in die Tiefe.
Erste Verurteilung wegen illegaler Abtreibung gegen Hamburgs „Engelmacherin“
„Habichtsnase, eingefallene Wangen, stechende Augen“, so wird die Frau beschrieben, die 1853 im Landkreis Göttingen das Licht der Welt erblickt. Elisabeth Wiese erlernt den Beruf der Hebamme. Als junge Frau wird sie unverheiratet schwanger. Damals ein unglaublicher Makel. Um sich und das Kind durchzubringen, betätigt sie sich als „Engelmacherin“. Das heißt, sie nimmt Abtreibungen vor und kassiert dafür. Weil das illegal ist, steht sie in Hannover mehrfach vor Gericht. Daraufhin verlässt sie die Stadt und zieht 1896 mit ihrer Tochter Paula und ihrem Mann, dem Kesselschmied Heinrich Wiese, nach St. Pauli.
Sie war eine mittelgroße, schlanke Frau. Sie hatte ein speckgelbes Gesicht, eingefallene Wangen, eine lange Habichtsnase und kleine stechende Augen. Sie machte ganz den Eindruck einer „Hexe“, mit der man Kinder graulich machen konnte.
Hugo Friedländer (1847-1918), berühmter Gerichtsreporter
Anfangs soll das Verhältnis der Eheleute harmonisch gewesen sein. Aber das ändert sich. In der Wohnung im ersten Stock des Hauses Wilhelminenstraße 23, heute Hein-Hoyer-Straße, wird jedenfalls viel und lautstark gestritten, wie Nachbarn später bezeugen. Elisabeth Wiese wirft ihrem Mann Trunksucht vor, er ihr Verschwendungssucht. Jedenfalls ist das Geld immer knapp, zumal sie wegen ihrer Vorstrafen ein Berufsverbot hat. Wegen ein paar Mark versucht die Hamburgerin ihren Mann zu vergiften
Also muss sie auf andere Weise an Geld kommen. Und weil sie weiß, dass ihr Ehemann ein paar Mark auf der hohen Kante hat, die sie erben würde, sofern er stirbt, unternimmt sie den Versuch, ihn zu vergiften. Der ahnt so etwas. Mehrfach wird ihm speiübel nach dem Essen. Als er bemerkt, dass der Kaffee in seiner Kaffeeflasche auffällig bitter schmeckt, konfrontiert er seine Frau mit dem Verdacht und droht, den Inhalt untersuchen zu lassen. Da entreißt sie ihm die Flasche und gießt sie aus. Ein anderes Mal versucht sie, ihrem Mann nachts die Kehle durchzuschneiden. Nur weil er wach geblieben ist, kann er den Mordversuch vereiteln.
Elisabeth Wiese schreckt nicht mal davor zurück, ihre Tochter zur Prostitution zu drängen. „Eine junge Dame bittet einen edel denkenden Herrn um 30 Mark Unterstützung gegen dankbare Rückzahlung“, so lauten Anzeigen, die sie in Hamburgs Zeitungen schaltet. Jeder Mann, der sich meldet, weiß genau, was damit gemeint ist. Und weigert sich Paula, ihren Körper als „Rückzahlung“ herzugeben, wird sie von der Mutter mit Schlägen malträtiert.
Als Paula im Sommer 1902 die Flucht ergreift – sie wird Dienstmädchen einer deutschen Familie in London –, heckt Wiese den teuflischsten aller Pläne aus. Damals ist es üblich, dass Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind, ihre unehelich geborenen Kinder gegen Zahlung von Kostgeld zur Pflege anbieten. Elisabeth Wiese meldet sich auf eine Vielzahl solcher Anzeigen und macht den Müttern ein Angebot: Gegen eine Abfindung sei sie bereit, die Säuglinge an adoptionswillige Eheleute im Ausland, in London, Manchester oder Wien, zu vermitteln. Vier Kinder verschwinden spurlos
Mehrere Frauen gehen darauf ein. Wie beispielsweise ein Fräulein Klotsche. Als sich die finanzielle Lage der Frau verbessert, ändert sie ihre Meinung jedoch. Im April 1903 kommt sie und möchte ihr Kind wieder zu sich nehmen, aber der kleine Wilhelm ist nicht mehr da. Der sei längst bei reichen Leuten im Ausland, behauptet Frau Wiese.
Aber Fräulein Klotsche will sich nicht damit abfinden, geht zur Polizei. Als auch andere Frauen Anzeige erstatten, bemühen sich die Ermittler im In- und Ausland darum, den Verbleib von vier Kindern zu klären. Ergebnislos. Elisabeth Wiese wird von eigener Tochter belastet
Ohne, dass es auch nur eine einzige Leiche gibt, beginnt im Oktober 1904 der Mordprozess. Die Angeklagte bleibt dabei, die Kinder seien bei wohlhabenden Herrschaften im Ausland untergekommen. Aber es gibt Zeugen, die sie schwer belasten: Elisabeth Wiese habe ihren Herd so stark geheizt, dass Herdplatten zersprangen, und ein fürchterlicher Geruch sei aus der Wohnung wahrgenommen worden. Das nährt den Verdacht, sie habe die Kinder womöglich verbrannt.
Aufsehenerregend ist die Aussage von Paula, der Tochter. Sie berichtet, dass sie im Sommer 1903 schwanger von London nach Hamburg zurückgekehrt sei. Bei der Geburt ihres Kindes habe ihr „die Wiese“, wie sie ihre Mutter verächtlich nennt, geholfen. Dann aber habe sie das Kind in einen Eimer mit Wasser geworfen. Die Tochter berichtet, sie sei in Ohnmacht gefallen, und als sie wieder zu sich kam, sei das Kind nicht mehr da gewesen. Die Wiese habe gesagt, es sei tot. Um kurz vor acht Uhr wird sie in Hamburg hingerichtet
Am 10. Oktober 1904 fällt das Gericht sein Urteil. Die Angeklagte wird des fünffachen Mordes für schuldig befunden. Am 2. Februar 1905, morgens um kurz vor acht Uhr, findet die Hinrichtung statt. Bis zuletzt hat Elisabeth Wiese ihre Unschuld beteuert.