Kölner Silvesternacht Ernüchternde Bilanz: Kaum Urteile wegen sexueller Übergriffe
11.03.19, 19:40 Uhr
Auf dem Bahnhofsvorplatz und der Domplatte kam es zu Ausschreitungen.
Köln -
Mehr als 650 Frauen haben nach der verheerenden Silvesternacht 2015 Strafanzeigen wegen sexueller Belästigung gestellt. Hinzu kamen Raubüberfälle, Taschendiebstähle, Beleidigungen und Körperverletzungen – insgesamt gingen 1300 Anzeigen bei der Polizei ein.
Jetzt, etwas mehr als drei Jahre später, sind die Vorgänge auch juristisch aufgearbeitet. Die Bilanz sei „ernüchternd“, sagt Gerichtssprecher Wolfgang Schorn. „Das ist keine erfreuliche Situation.“
Denn gerade mal zwei Männer konnten am Ende der sexuellen Nötigung überführt und verurteilt werden: Ein 26-jähriger Algerier und ein 21 Jahre alter Iraker erhielten jeweils ein Jahr Haft auf Bewährung. Der Iraker soll einer Frau gegen ihren Willen das Gesicht abgeleckt, der Algerier gedroht haben: „Give me the girls – oder Tod“.
Außerdem habe es eine Verurteilung wegen „Grapschens“ gegeben, sagte Schorn. Ein Libyer erhielt dafür eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten. In zwei weiteren Fällen habe der Verdacht der sexuellen Nötigung vor Gericht nicht standgehalten, sagte Schorn dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Zuerst hatte der „Spiegel“ über die Zahlen des Amtsgerichts berichtet.
Juristen und Polizisten hatten allerdings schon kurz nach Silvester Befürchtungen geäußert, dass sich eine Vielzahl der Vorwürfe wohl nicht oder nicht gerichtsfest beweisen lassen würde. „Es war insofern absehbar, dass das kein gutes Ende nimmt“, sagt auch Schorn. Gründe seien unter anderem die schwierige „Gemengelage“ und die Dunkelheit in der Tatnacht gewesen. Das erschwerte die Aufklärung.
Zu wenig Einsatzkräfte vor Ort
Viele Zeugen konnten die Täter nicht hinreichend beschreiben. Die Polizei war in jener Nacht mit viel zu wenig Einsatzkräften vor Ort, um Taten in großem Umfang verhindern oder Verdächtige festnehmen zu können. Im Nachhinein werteten die Ermittler zwar monatelang Zeugenaussagen sowie Videomaterial aus Überwachungskameras oder von Handyfilmen aus. Die Bilder waren jedoch häufig von miserabler Qualität und führten nur selten zur Identifizierung von Verdächtigen.
Selbst sogenannte „Super Recogniser“ aus Großbritannien hatten den Kölner Ermittlern geholfen – Experten, die sich besonders gut Gesichter merken können. Insgesamt hatte die Staatsanwaltschaft gegen 290 Personen ermittelt, aber nur 52 wurden angeklagt. Daraus ergaben sich 43 Verfahren vor Gericht, in manchen Fällen standen mehrere Angeklagte gleichzeitig vor dem Richter.
In einer Aufstellung, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt, listet das Amtsgericht auch die Herkunft der Angeklagten auf. Demnach handelte es sich um 17 Algerier, 16 Marokkaner, sieben Iraker, vier Deutsche und je einen Mann aus Tunesien, Libyen, Afghanistan, Ägypten, Somalia, Ungarn, Iran und Syrien. Die Angeklagten seien im Alter zwischen 16 und 50 Jahren gewesen, die meisten jedoch Anfang bis Mitte 20.
Nur drei Verfahren wegen sexueller Nötigung
In den meisten Fällen, die letztlich vor Gericht landeten, lauteten die Tatvorwürfe Diebstahl, Hehlerei, Raub oder räuberischer Diebstahl. Nur sechs Männern in drei Verfahren wurde sexuelle Nötigung vorgeworfen. Daneben gelangten Vorwürfe wie Beleidigung, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Drogenbesitz zur Anklage. Und so wurden denn auch die meisten Täter wegen Diebstahls oder Hehlerei verurteilt.
Die ausgesprochenen Strafen reichten von Geldstrafen bis zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Die mildeste Strafe waren 30 Tagessätze zu je zehn Euro auf Bewährung. Die härteste Strafe waren ein Jahr und zehn Monate Gefängnis ohne Bewährung wegen räuberischen Diebstahls. Sechs Verfahren sind noch offen.
Heftige Kritik an Kommunikation
Wenn auch die juristische Aufarbeitung ernüchternd ausfalle, so Schorn, so hätten doch die Behörden wenigstens aus den Vorfällen gelernt. Vor allem Polizei und Stadt hätten sich in der Folge bei Großereignissen ganz neu aufgestellt. „Etwas Vergleichbares wie in der Silvesternacht ist seitdem nicht ansatzweise wieder passiert“, sagte Schorn.
Auch die politische Aufarbeitung ist längst abgeschlossen. Ein Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag war ein Jahr später zu dem Ergebnis gekommen, schwere Fehler bei der Einsatzplanung und -ausführung hätten die Taten begünstigt. Dem Abschlussbericht zufolge sei in der Silvesternacht „ein möglichst rasches und vor allem frühzeitiges Eingreifen der Polizei und sonstiger Schutz- und Ordnungskräfte erforderlich gewesen“. Heftige Kritik übten die Politiker des Untersuchungsausschusses auch an der Kommunikation zwischen Polizei, Bundespolizei und städtischem Ordnungsamt in der Silvesternacht.
Nachrichten Politik Deutschland 5 Jahre Kölner Silvesternacht: Experte kritisiert verzerrte Berichterstattung
Ende der Willkommenskultur?
Silvester 2015 - Hauptbahnhof Köln
Die Kölner Silvesternacht vor fünf Jahren markiert für viele das Ende der Willkommenskultur. Den anschließenden Sicherheits- und Fremdheitsdiskurs sehen Forscher heute kritisch. Die veränderte Strategie der Polizei zeigte mit den Jahren Erfolg.
Die 20 Jahre alte Frau aus dem Landkreis Rottweil in Baden-Württemberg war nach Köln gekommen, um dort mit Freundinnen Silvester zu feiern. Als sie abends im Hauptbahnhof ankamen, fielen ihnen gleich die „vielen ausländischen Männer“ auf. Auf dem Weg nach draußen spürte die 20-Jährige im Gedränge, wie ihr jemand an den Po fasste. Kaum war sie auf den Bahnhofsvorplatz getreten und hatte ihr Handy gezückt, um den Dom zu fotografieren, als es ihr von hinten aus der Hand gerissen wurde. Mehr als ein Jahr später schilderte sie den Vorfall als Zeugin vor einem Kölner Gericht.
Dunkelhaarige Männer vor der christlichen Kathedrale Viele andere Frauen haben in der berüchtigten Kölner Silvesternacht vor fünf Jahren Ähnliches erlebt. Sie wurden sexuell bedrängt oder beraubt, überwiegend von jungen Männern mit ausländischem Hintergrund. Die körnigen verschwommenen Handybilder gingen damals um die Welt: im Vordergrund junge, dunkelhaarige Männer, die Feuerwerk in die Menge schießen, im Hintergrund die Portale, Fenster und Strebebögen der Kathedrale, die wie kaum ein anderes Bauwerk in Deutschland für das „christliche Abendland“ steht.
Fünf Jahre nach den Ereignissen ist die strafrechtliche Aufarbeitung weitgehend abgeschlossen. Nach Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft gingen insgesamt 1210 Strafanzeigen ein. Angeklagt wurden letztlich 46 Personen. 36 von ihnen wurden verurteilt. Fünf der 46 Angeklagten wurden wegen sexueller Nötigung angeklagt, verurteilt wurden zwei. Aus Sicht der Opfer sicher ein mageres Ergebnis, doch von Seiten der Justizbehörden heißt es, die Beweisführung sei in solchen Fällen schwierig.
Experte: Überbetonung von Kriminalität durch Migranten Die Kölner Silvesternacht bezeichnet einen Wendepunkt in der Flüchtlingsdebatte. Viele sprachen vom Ende der Willkommenskultur, es folgte ein monatelanger Sicherheits- und Fremdheitsdiskurs. Nach Erkenntnissen des Sozialpsychologen Andreas Zick kam es dabei zu einer Überbetonung von Kriminalität durch Migranten, „die nicht übereinstimmte mit der Kriminalstatistik, insbesondere bei der Frage: Welche Gruppen sind anfällig für Straftaten?“
Umfragen hätten gezeigt, dass als Folge davon Polarisierungseffekte in der Bevölkerung eingetreten seien. So sei die Zustimmung zu dem Satz „Wir sollten stärker darauf achten, nicht von Migranten überrannt zu werden“ von 28 Prozent im Jahr 2014 auf 42 Prozent 2016 gestiegen, so Zick.
Andreas Zick spricht dpa/Marcel Kusch/dpaAndreas Zick, Konflikt- und Gewaltforscher der Universität Bielefeld „Die Bedrohung kommt nicht von außen, sondern von innen“ Der Berliner Migrationsforscher Wolfgang Kaschuba sieht es ähnlich: Das Thema der sexuellen Gewalt habe durch die Silvesternacht ein „Framing“, eine Einbettung, bekommen – es sei nun in erster Linie mit Fremden verknüpft worden. „Es wurde suggeriert: Wenn wir die fremden jungen Männer fernhalten, dann halten wir uns damit auch dieses Problem vom Hals. Dabei wissen wir schon lange, dass über drei Viertel der sexuellen Übergriffe durch Freunde und Familie stattfinden. Die große Bedrohung kommt also nicht von außen, sondern von innen.“ Erst durch die MeToo-Bewegung sei das wieder zurechtgerückt worden.
Die AfD und andere nutzten die Ereignisse, um die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anzugreifen. Nach Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft stammte jedoch der Großteil der Beschuldigten aus Algerien und Marokko - nicht etwa aus Syrien, dem Land, aus dem in den Monaten zuvor Hunderttausende Kriegsflüchtlinge in Deutschland Schutz gesucht hatten.
2016 schaltet sich Amnesty International ein „Es gibt in deutschen Städten relativ viele junge Männer aus Nordafrika, die oft schon als Kinder unbegleitet hierher gekommen sind, also eine jahrelange Flüchtlingsbiografie hinter sich haben“, erläutert Kaschuba. „Sie haben nirgendwo Anschluss gefunden und sich deshalb auf Handtaschen- und Handydiebstahl verlegt. Und die landen eben an Silvester auf der Kölner Domplatte, weil sie keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können. Das hat eher mit ihrer aktuellen sozialen Situation und weniger mit ihrer Herkunft zu tun.“
Die Kölner Polizei, die in der fraglichen Nacht nur mit relativ geringen Kräften am Bahnhof vertreten gewesen war, stockte ihre Präsenz als Lehre daraus massiv auf. Der Lernprozess war damit aber noch nicht zuende: In der darauf folgenden Silvesternacht 2016/17 gab es zwar kaum noch Sexualdelikte und Diebstähle, aber dennoch wieder Vorwürfe. Hunderte Menschen seien allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten nordafrikanischen Herkunft eingekesselt und kontrolliert worden, kritisierte Amnesty International.
Der unbekannte Helfer Daraufhin passte die Polizei ihre Strategie erneut an - mit Erfolg: 2017/18 bot sich ein positives Kontrastbild zu der berüchtigten Nacht von 2015/16. Rund um den Dom war es pickepackevoll, aber diesmal feierten alteingesessene Kölner und Migranten friedlich zusammen.
Übrigens schilderte die 20-jährige Frau aus Baden-Württemberg, der in der Silvesternacht von 2015 das Handy gestohlen worden war, vor Gericht noch eine andere Erfahrung. Ein Mann war ihr damals zu Hilfe gekommen und hatte ihr den Täter gezeigt, woraufhin sie ihn selbst verfolgte und sich das Handy zurückholte. Im Gerichtssaal traf die 20-Jährige nicht nur den Dieb wieder, sondern auch den unbekannten Helfer. Wie sich herausstellte, war es ein Baggerführer, der erst seit wenigen Jahren in Deutschland lebte. Er stammte aus Afghanistan. Ein Flüchtling.