Klavierhändler Hermann Lichtenstein Wie ein Mord auf der Zeil Kriminalgeschichte schrieb 27.04.2018 VON MELANIE BÄDER Am 26. Februar 1904 geschieht im Geschäftshaus Zeil 69 ein grausamer Mord. Ein blutiger Fingerabdruck am Hemdkragen des ermordeten Klavierhändlers Hermann Lichtenstein schreibt dabei Kriminalgeschichte.
Am Mittag des 26. Februar 1904 machen vier Männer eine schockierende Entdeckung im Geschäftshaus Zeil 69, ein Klaviergeschäft: Vor einem Bechsteinflügel liegt die Leiche von Hermann Lichtenstein in einer Blutlache. Seine Füße sind seltsam übereinander geschlagen, der Körper ist leicht gekrümmt. Der Kopf ist furchtbar zugerichtet und um den Hals ist ein Strick gewickelt.
An seinem Hemdkragen finden die herbeigeeilten Polizeibeamten einen blutigen Fingerabdruck. Rund drei Monate später wird dieser Fingerabdruck bei dem Prozess um den Raubmord an dem Klavierhändler Hermann Lichtenstein Kriminalgeschichte schreiben. Denn der Gerichtschemiker Dr. Georg Popp wird im Verlauf des Prozesses erstmals in Deutschland zweifelsfrei die Schuld des Angeklagten anhand des Abdrucks feststellen. Doch was war geschehen?
Der Tag des Mordes ist ein nasser, grauer Wintertag. Lichtenstein ist – wie an jedem Morgen – um Punkt 8 Uhr in seinem Laden. Doch dieser Samstag ist für Lichtenstein ein besonderer Tag, vor 20 Jahren hat er sich mit seiner Frau verlobt. Er lässt einen großen Strauß roter Nelken an seine Privatadresse schicken. Für den Abend hat das Ehepaar eine Familienfeier mit seinen vier Kindern geplant. Doch dazu wird es nicht mehr kommen.
Termin für 13 Uhr Gegen 11 Uhr besucht ihn sein Bruder. Gegen 12 Uhr verlässt Lichtensteins Ausläufer Andreas Schick das Geschäft, um zu Mittag zu essen. Erst wenn Schick vom Essen zurückkommt, wird der Klavierhändler selbst zu Tisch gehen. So machen sie das immer.
Um kurz nach 12 schließt der Klavierhändler einen Mietvertrag für ein Klavier mit einer Frau Erdbrügge ab. Sie wird später aussagen, dass sie gegen 12.20 Uhr das Geschäft verlassen hat. Etwa 20 Minuten später klingelt in Lichtensteins Büro das Telefon. Ein junger Pianist namens Ernesto Consolo ist am Telefon. Der junge Musiker aus Lugano möchte ein Klavier für ein Konzert mieten, für das er nach Frankfurt gekommen ist. Sie vereinbaren einen Termin für 13 Uhr. Nur wenige Minuten nach dem Telefonat ist der Klavierhändler tot.
Die Zeitungen werden an diesem Tag schreiben, dass seit Jahrzehnten in Frankfurt kein Verbrechen von ähnlicher Grausamkeit verübt worden ist. Lichtenstein ist eine bekannte und beliebte Persönlichkeit in Frankfurt. Der Mitfünfziger hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch ein gutes und ehrliches Geschäft die Gunst der Bürger gesichert.
Kurz vor 13 Uhr betritt ein Weinhändler das Geschäftshaus. Er will einen Flügel kaufen, findet aber nur das leere Geschäft vor. Er stutzt, geht wieder. Im Flur trifft er den Vorsteher des Anwaltsbüros aus der zweiten Etage. Pianist Consolo eilt an den beiden vorbei, fragt, ob sie Angestellte seien, er habe einen Termin um 13 Uhr.
Nach einer kurzen Unterhaltung beschließen die drei Männer, das Geschäft noch einmal gemeinsam zu betreten. Beim Betreten fällt ihnen auf, dass die Schubladen durchwühlt und der Kassenschrank aufgerissen wurde. Consolo läuft los und holt einen Polizisten. Gemeinsam gehen die vier durch die Räume der Klavierhandlung. Im hintersten Zimmer finden sie Lichtenstein. Tot.
Der Polizist ruft die Mordkommission dazu.
Wenige Minuten später treffen die Kriminalpolizisten Bußjäger und Wieland am Tatort ein. Vor der Tür müssen sich die Kriminalkommissare regelrecht durch die Menschenmassen kämpfen, denn das Verbrechen hat sich wie ein Lauffeuer in Frankfurt verbreitet.
Im ersten Stock des Hauses beginnt die Kripo damit, den Tatort zu vermessen. Alle Besonderheiten werden in eine Tatortskizze eingetragen. Unter dem Schreibtisch in Lichtensteins Büro findet die Polizei einen Manschettenknopf mit einem eingravierten Hufeisen. Sie notieren den Fund.
Nach einer Zeugenaussage können die Polizisten die Tatzeit fast auf die Minute genau bestimmen. Ein Anwaltsgehilfe aus dem zweiten Stock hat um 12.25 Uhr einen gurgelnden Laut gehört, sich aber nichts dabei gedacht. Er glaubte zunächst, das Geräusch sei aus dem dritten Stock gekommen, wo ein Zahnarzt seine Praxis hat. Im Lauf der Ermittlungen stellt sich heraus: Die Täter erbeuten 800 Mark, eine goldene Uhr mit der Gravierung „Leopold“, eine gelbgoldene Panzeruhrkette, eine Nadel und zwei Hemdknöpfe mit Brillanten. Reicht das, um so einen bestialischen Mord zu begehen?
Falsche Spur Die Suche nach den Mördern gestaltet sich zunächst schwierig. Die Kriminalpolizei hat den Gerichtschemiker Dr. Georg Popp als Berater hinzugezogen. Er kennt sich mit verschiedenen forensischen Methoden aus und soll helfen, den Fall anhand der vorhandenen Spuren aufzuklären. Die Kripo hat nämlich einen blutigen Fingerabdruck am Hemdkragen des ermordeten Lichtensteins gefunden.
Bei der Untersuchung dieses Fingerabdrucks führt Popp die Ermittler versehentlich auf eine falsche Spur. Er hält die blutverschmierten Spuren für den Fingerabdruck einer Frau. Einen kreisrunden Abdruck auf einer Postkarte hält er für den Absatz eines Frauenschuhs.
Wie sich später herausstellt, hat ein zwei Kilo schwerer Gewichtstein den Abdruck auf der Postkarte verursacht. Die Mörder haben Lichtenstein mit dem Stein den Schädel eingeschlagen
Die Polizei setzt eine Belohnung von 1000 Mark für sachdienliche Hinweise aus. Der entscheidende Hinweis kommt von Lichtensteins Ausläufer Anton Schick. „Stell dir vor“, habe Lichtenstein einen Tag vor dem Mord zu ihm gesagt, „der Bruno war bei mir mit einem Wirt aus Offenbach, Schuhmann oder so ähnlich. Er erzählte mir, er vermittle jetzt Klavierverkäufer. Der hat sich ja tüchtig hochgearbeitet.“
Mit Bruno meinte Lichtenstein den 27-jährigen Bruno Groß, der bis vor kurzem noch bei der Klaviertransportfirma Schrimpf gearbeitet hatte. Er war seit der Tat spurlos verschwunden. Groß war vorbestraft, spielte in Varietés und war bei seinen Kollegen unbeliebt.
Diese Postkarte gab es während des Prozesses gegen die beiden Mörder in Frankfurt zu kaufen. Bild-Zoom Diese Postkarte gab es während des Prozesses gegen die beiden Mörder in Frankfurt zu kaufen. Drei Tage nach der Tat nimmt die Polizei Groß fest. Er hatte 283 Mark und 94 Pfennige bei sich. Bruno Groß erklärt, seine Braut habe ihm das Geld gegeben, um dafür Möbel zu kaufen. Das stimmte. Trotzdem nimmt ihn die Polizei fest. In Offenbach gab es keinen Wirt namens Schuhmann, Der Unbekannte musste der Komplize sein. Außerdem hatte Groß in einem Geschäft eine Flasche Salmiakgeist gekauft und damit seine blutverschmierte Hose gereinigt. Groß‘ Erklärung: „Die Blutspritzer kommen von einer Schlägerei mit einem Zuhälter“. die Polizei glaubte ihm nicht.
Strafforst legt Geständnis ab Auf die Spur des zweiten Täters kam die Polizei schließlich durch die Aussage einer Bedienung in einem Cafe. Sie glaubte sich daran zu erinnern, dass Groß mehrere Male in Begleitung eines Kutschers in dem Café gewesen sein. Der Kutscher sei ihr aufgefallen, weil er so schöne Manschettenknöpfe mit einem Stern und einem Hufeisen getragen habe.
Die Kriminalpolizei kommt schließlich Friedrich Stafforst auf die Spur. Ein ehemaliger Vermieter erkennt Stafforst, die Polizei nimmt ihn fest.
Auf dem Präsidium erfährt der Kutscher, dass er wegen des Mordes an Hermann Lichtenstein gesucht wird. In Strafforsts Taschen finden die Beamten bei der Durchsuchung die goldene Uhrkette des Klavierhändlers. In der Wohnung liegen auch die Uhr mit Gravur und die übrigen geraubten Schmuckstücke. Strafforst legte ein Geständnis ab. „Ja, ich habe zusammen mit Bruno den Lichtenstein umgebracht.“
Der Gehilfe hat gefehlt Zwei Tage nach seiner Verhaftung wird Stafforst nach Frankfurt gebracht. Groß, der bisher nichts von der Verhaftung seines Komplizen Stafforsts weiß, bestreitet weiterhin die Tat. Doch als der Untersuchungsrichter am Nachmittag die beiden Täter gegenüberstellt, knickt auch Groß ein und gesteht, den angesehenen Klavierhändler erschlagen zu haben.
Die beiden Männer hatten sich Tage vor der Tat in der Frankfurter Altstadt nach rund drei Jahren wiedergetroffen und ihren Plan ausgeheckt. Groß hatte sich den Mordplan schon lange ausgedacht, ihm hatte bisher nur ein Gehilfe gefehlt. Diesen fand er schließlich in Stafforst.
Ein erster Versuch scheitert Tage zuvor: Groß stellte Stafforst bei Lichtenstein als Offenbacher Gastwirt Schumann vor. Doch der Komplize bekommt Angst, sie verlassen unverrichteter Dinge das Geschäft des Klavierhändlers.
Zweimal kehren sie zurück, doch jedes Mal sind zu viele Menschen im Flur des Geschäftshauses. Sie stellen zudem fest, dass ein Revolverschuss zu laut ist. Ursprünglich hatten sie Lichtenstein erschießen wollen.
Planänderung: Groß und Strafforst kaufen in der Fahrgasse einen Strick in der Großen Sandgasse besorgen sie einen zwei Kilo schweren Gewichtsstein. Am 26. Februar betreten sie dann wieder Lichtensteins Klavierhandlung und setzten diesmal ihren Plan in die Tat um. Strafforst schlägt dem Klavierhändler den Stein auf den Hinterkopf. Doch der Klavierhändler ist stark, er dreht sich um, es kommt zum Gerangel. Als die beiden Täter von ihrem Opfer ablassen, ist es tot.
Zum Tode verurteilt Die dreitägige Gerichtsverhandlung erregt großes Aufsehen. In den Gassen von Frankfurt singen Kinder „Auf der Zeil bei Lichtenstein, brachen Groß und Strafforst ein.“ drei Monate nach der Tat zum Tode verurteilt.
Der Prozess schreibt Kriminalgeschichte. Da Groß die Tat bis zum Schluss leugnet, wird Funktion Georg Popp gebeten, den blutigen Fingerabdruck mit dem des vermeintlichen Täters zu vergleichen. Popp kann nach kurzer Untersuchung zweifelsfrei sagen, dass die beiden Fingerabdrücke von derselben Person stammen. Bruno Groß. Es ist das erste Mal in der deutschen Kriminalgeschichte, dass eine solche Spur zur Aufklärung eines Mordfalls beiträgt.
Das Todesurteil wird am Morgen des 12. November 1904 auf dem Hof des Preungesheimer Gefängnisses vollstreckt.