Knastalltag: Freiheit versus Sicherheit Maßregelvollzug: Manchmal haut auch einer ab
Klinik statt Gefängnis: Manche Straftäter werden von Gerichten nicht ins Gefängnis geschickt, sondern in die Psychiatrie. Maßregelvollzug heißt das. Ab und an fliehen diese Patienten – auch Mörder. Muss man sich Sorgen um die Sicherheit machen?
Weißenthurm in Rheinland-Pfalz: Mehrere hohe Zäune umschließen die landesweit größte forensische Klinik Nette-Gut.
VON CHRISTIAN SCHULTZ (dpa) Mainz (dpa) – Ist ein verurteilter Mörder auf der Flucht, noch dazu ein in die Psychiatrie eingewiesener, ist die Aufregung groß. So verschwand zuletzt ein 34-Jähriger aus der Forensischen Psychiatrie einer Andernacher Fachklinik in Rheinland-Pfalz. Er hatte einst seinen Vater getötet und wollte auch seinen Bruder umbringen. Erst Tage später wird er gefunden – mehr als 150 Kilometer entfernt, im unterfränkischen Karlstein. Der Mann durfte ohne Begleitung die Klinik verlassen. Beim Besuch des Hausarztes setzte er sich ab. Auch anderswo gibt es solche Vorfälle, was die Debatte um diese Form des Vollzugs sowie um Sinn und Gefahr von Freigängen neu entfacht hat.
Im Februar verschwindet ein 36-Jähriger bei einem Freigang innerhalb des Zentrums für Psychiatrie in Emmendingen (Baden-Württemberg). Der Mann war 2016 im badischen Rheinfelden mit dem Auto auf seine Ex-Freundin und deren neuen Partner zugerast, hatte den Mann lebensgefährlich verletzt. Von dem zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft Verurteilten, dem eine Persönlichkeitsstörung attestiert worden war, fehlt jede Spur.
Spektakulär war die Flucht dreier Straftäter im September 2017 aus der Psychiatrie im baden-württembergischen Zwiefalten. Das wegen Diebstahls und verschiedener Raubdelikte verurteilte, drogen- und alkoholabhängige Trio hatte im gemeinsamen Zimmer eine Außenmauer ausgehöhlt, sie mit einem aus Bettkastenholz gebauten Rammbock durchstoßen und sich schließlich mit verknoteten Bettlaken ins Freie abgeseilt. Alle drei wurden binnen einiger Tage gefasst.
In Osnabrück floh im Juli 2017 ein psychisch kranker Straftäter, als er mit drei weiteren Patienten beim Einkaufen und ein Aufpasser auf der Toilette war. Der wegen Körperverletzung und räuberischer Erpressung verurteilte Mann mit Drogenproblemen wurde später in Mönchengladbach gefasst. Dort hatte er in einem Bekleidungsgeschäft eine Mitarbeiterin bedroht.
Echte Ausbrüche haben wir so gut wie keine. Axel Merschky, Referatsleiter im rheinland-pfälzischen Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Stellen solche Menschen also eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar? Nein, sagen Experten und verweisen auf die geringe Zahl an Fluchten oder Entweichungen bei Freigängen. In den meisten Fällen würden diese Patienten nach kurzer Zeit wieder gefunden, etwa bei Freunden oder Verwandten in der Nähe, sagt Jürgen Müller, Sprecher des Referats Forensische Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Oder sie stellten sich selbst wieder.
Das bestätigt auch Axel Merschky, Referatsleiter bei der Aufsicht des Maßregelvollzugs in Rheinland-Pfalz im Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung. «Das, was passiert, ist im absoluten Promillebereich. Echte Ausbrüche haben wir so gut wie keine.»
Doch wer landet überhaupt im Maßregelvollzug? Das sind psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter. Gerichte ordnen die Unterbringung an, sofern Betroffene schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind – und sofern im Falle einer psychischen Störung weitere «erhebliche rechtswidrige Taten» zu erwarten sind, die Opfer seelisch oder körperlich schädigen, sie erheblich gefährden oder einen schweren Schaden anrichten. So sagt es Paragraf 63 des Strafgesetzbuches.
Patienten sollen auf ein Leben außerhalb des Maßregelvollzugs vorbereitet werden. Referatsleiter Merschky über die Notwendigkeit von Ausgängen Wie viele Patienten es derzeit bundesweit sind, lässt sich nicht exakt sagen. Die letzten vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Daten stammen von 2013. Damals waren mehr als 10.800 Menschen wegen einer strafrichterlichen Anordnung in der Psychiatrie. Neuere Daten für ganz Deutschland liegen nicht vor, heißt es.
Axel Merschky vom rheinland-pfälzischen Landesamt betont, vielen Patienten würden bei guter Entwicklung Lockerungen eingeräumt. «Sie sind erforderlich, damit die Patienten auf ein Leben außerhalb des Maßregelvollzugs vorbereitet werden.» 2016 habe eine bundesweite Gesetzesnovelle die Anforderungen für einen andauernden Verbleib im Maßregelvollzug weiter erhöht. Die Kliniken müssten seitdem noch stärker prüfen, ob und in welcher Form Lockerungen in Frage kommen.
Experte Jürgen Müller sagt, es komme vor dem Hintergrund auch zu Entlassungen, wenn die Klinik vielleicht noch eine Gefahr sehe. «Der Freiheitsentzug soll auf ein Minimum beschränkt bleiben.» Die Gesetzesänderung sei auch eine Reaktion auf den Fall Gustl Mollath gewesen. Dieser hatte in Bayern sieben Jahre in einer forensischen Psychiatrie verbracht – seiner Meinung nach zu Unrecht. Seine Frau hatte ihn wegen Körperverletzung angezeigt, Gutachter hatten ihm eine psychische Störung attestiert. 2014 wurde er freigesprochen.
Der Freiheitsentzug soll auf ein Minimum beschränkt bleiben. Jürgen Müller, Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde Von einer wahren Welle schneller Entlassungen oder Lockerungen könne dennoch nicht gesprochen werden, betont Müller. Jeder dritte Patient sei länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug. Bei dem zeitweise verschwundenen 34-Jährigen aus Rheinland-Pfalz sind es 13 Jahre. Dem Landeskrankenhaus zufolge, zu dem die dortige Fachklinik gehört, erarbeitete er sich nach und nach Lockerungen. Seit Dezember 2015 konnte er allein aus der Klinik, seit Juni 2016 arbeitete er regelmäßig in einem externen Betrieb. In der ganzen Zeit sei es zu keinen Zwischenfällen gekommen.
Die Forensische Psychiatrie des Pfalzklinikums Klingenmünster betont, Lockerungen gebe es nicht automatisch. Erst wenn ein Patient sich in einer Stufe bewährt habe, würden weitere gewährt – und sie könnten jederzeit zurückgenommen werden. Ausgänge ohne Begleitung sind gar nur mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft möglich. Ein Team aus Pflegepersonal, Ärzten, Therapeuten und Sozialarbeitern überprüfe die Lage des Patienten und schätze dessen Gefährlichkeit ein.