Attentäter von Las Vegas : "Ein spektakulärer Fall"
58 Menschen erschoss der Attentäter von Las Vegas. Nun soll die Medizin klären, ob er an einem Hirndefekt litt. Was von der Obduktion zu erwarten ist, erklärt der Neuropathologe Jakob Matschke. Interview: Ulrich Bahnsen
6. Dezember 2017, 16:52 Uhr Editiert am 8. Dezember 2017, 8:59 Uhr
DIE ZEIT: Herr Matschke, an der Stanford University wird gerade das Gehirn von Stephen Paddock untersucht, der im Oktober in Las Vegas 58 Menschen erschossen, mehr als 500 verletzt und sich dann das Leben genommen hatte. Hätten Sie diesen Auftrag auch gerne bekommen?
Jakob Matschke: Eher nicht. Das ist ein unglaublich spektakulärer Fall. Da steht man als Neuropathologe unter enormem Druck der Öffentlichkeit, irgendetwas zu finden, was diese schreckliche Tat erklären könnte. Ich beneide meinen Kollegen Hannes Vogel nicht, der den Fall jetzt untersucht.
ZEIT: Was an Paddock so irritiert, ist das Fehlen eines erkennbaren Motivs. Könnte es sein, dass irgendein neuronaler Defekt die Ursache ist?
Matschke: Ich weiß – und Hannes Vogel weiß das sicher auch: Wenn er in diesem Gehirn tatsächlich irgendeine Auffälligkeit findet, gerät er in die Bredouille, sagen zu müssen, ob das auch wirklich ursächlich für die Tat gewesen ist. Doch das ist kaum möglich.
ZEIT: Aber einmal angenommen, Ihr Kollege in Stanford fände bei Paddock eine Hirnerkrankung, die ihn zu dieser Tat getrieben hat: Wäre der Mörder von Las Vegas dann eventuell gar nicht schuldfähig gewesen?
JAKOB MATSCHKE leitet die Abteilung für forensische Neuropathologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Matschke: Wenn es eine Erkrankung sein sollte, die seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit in erheblichem Ausmaß vermindert oder aufgehoben hätte, dann hätte er – falls er selbst überlebt hätte – wohl nicht verurteilt werden können.
ZEIT: Gibt es solche Störungen der Hirnfunktion überhaupt?
Matschke: Ja, wenn auch extrem selten. Bei bestimmten Epilepsien gibt es Berichte über Aggressionen. Oder die Betroffenen packen ihr Gegenüber während eines Anfalls, und es kommt zu einem Unfall. Aber das sind stereotype Bewegungsmuster, es stehen keine Tötungs- oder Verletzungsabsichten dahinter. Manchmal fallen Epileptiker nach dem Anfall in einen psychoseähnlichen Zustand mit Verlust der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, der recht lange anhalten kann. Aus Großbritannien sind einige Fälle bekannt, in denen es in dieser Zeit zu Delikten kam, die dann mangels Schuldfähigkeit nicht geahndet werden konnten.
DIE ZEIT 51/2017 Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 51/2017. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen. ZEIT: Auch Hirnverletzungen können doch dazu führen, dass sich die Betroffenen anders verhalten.
Matschke: Definitiv. Wir wissen das seit dem berühmten Fall des Eisenbahnarbeiters Phineas Gage. Dem schoss bei einem Sprengunfall eine Eisenstange in den Kopf. Er überlebte zwar, aber sein Wesen hatte sich stark verändert. Wir hatten hier in Hamburg auch einen seltsamen Fall: Ein Mann war so apathisch geworden, dass selbst Essen unmöglich wurde. Er ist offenbar verhungert. Wir stellten dann fest, dass er einen großen Tumor an der Schädelbasis hatte. Es gibt auch Patienten mit einem Tumor, die zwanghaft Witze erzählen – meistens schlechte.
ZEIT: Paddocks Familie glaubt, dass ihn womöglich ein bösartiger Hirntumor zu diesen Morden getrieben hat.
Matschke: Das ist sehr unwahrscheinlich. Diese Annahme beruht nur auf zwei früheren Fällen, beide sind unklar. Der eine ist der "Texas sniper" im Jahr 1966: Auch damals schoss der Täter, Charles Whitman, von einem hohen Gebäude aus wahllos auf Menschen. Später fand man in seinem Hirn tatsächlich einen bösartigen Tumor in der Nähe des Emotionszentrums. Deshalb wurde seinerzeit spekuliert, dass der Krebs die Tat ausgelöst haben könnte. Einen Beweis dafür aber gibt es bis heute nicht. Im selben Jahr ermordete Richard Speck in Chicago acht Krankenschwesternschülerinnen ohne jedes Motiv. Nach seinem Tod, 25 Jahre später, fand ein Pathologe auffällige Abweichungen in seinem Hirn. Die Gewebeschnitte gingen damals aber unter ungeklärten Umständen verloren, sodass Specks Fall ebenso offenblieb.
Kann ein Hirntumor einen Menschen zum Mörder machen?
ZEIT: Können Sie sich denn vorstellen, dass ein Hirntumor einen Menschen zum Mörder macht?
Matschke: Es gibt in der gesamten Fachliteratur keinen Fall, der so etwas eindeutig belegen könnte. Einzelne Patienten mit einem Hirntumor sind gelegentlich durch aggressives Verhalten aufgefallen, aber nie durch Gewaltdelikte, die so penibel über Monate vorbereitet waren wie die Schießerei von Las Vegas. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie jemand mit so einer Erkrankung, die über Monate unentdeckt bleiben musste, zu so einer Handlung in der Lage sein sollte.
ZEIT: Ein aggressiver Hirntumor führt schnell zu Lähmungen, Sehstörungen und anderen Ausfällen. Wäre es damit nicht schwergefallen, einen solchen Terrorakt zu verüben?
Matschke: Ja. Bei Charles Whitman hatte man allerdings argumentiert, sein Tumor könnte durch eine Beeinträchtigung der emotionalen Kontrolle eine Neigung zu exzessiver Gewalt verstärkt haben. Doch das ist reine Spekulation.
ZEIT: Könnte ein gutartiger Tumor solche gewalttätigen Neigungen hervorrufen, weil er auf sensible Hirnzentren drückt?
Matschke: Bei Mördern ist das als Ursache unwahrscheinlich. Aber es gibt einen gut beschriebenen Fall von Pädophilie bei einem Kinderarzt, der eine Neigung zu Kinderpornografie entwickelte und seine kleinen Patienten sexuell belästigte. Bei ihm fand sich im Gehirn ein Tumor, und nachdem der entfernt worden war, verschwand das Fehlverhalten zunächst komplett. Als er später wieder pädophile Neigungen zeigte, stellte man fest: Sein Tumor war nachgewachsen. So erstaunlich ist das nicht: Dass bestimmte Hirnschäden zu Hypersexualität führen können, ist lange bekannt.
ZEIT: Ist immer ein Tumor die Ursache?
Matschke: Es gibt verschiedene Ursachen – ein Tumor, aber auch Hirnentzündungen oder degenerative Erkrankungen können dazu führen, dass solche Patienten zahlreiche sexuell übergriffige Handlungen zeigen.
ZEIT: Der Fall Stephen Paddock jedoch scheint für Ihren Kollegen Hannes Vogel in Stanford nicht sehr dankbar zu sein. Warum tut er sich das an?
Matschke: Ich denke, Hannes Vogel hat vom zuständigen Rechtsmediziner vor Ort den Auftrag bekommen. Das heißt: Er musste tätig werden. Das wäre in Deutschland auch der Fall: Wenn dem Rechtsmediziner bei der Leichenschau eines Täters etwas auffällt oder über ihn etwas bekannt ist, das eine Hirnproblematik nahelegt, dann kämen wir ins Spiel.