Sie ist keine Strafe, sie ist das letzte Mittel: In der Sicherungsverwahrung werden Täter weggesperrt, die zu gefährlich für ein Leben draußen sind. Ob sie jemals entlassen werden, wissen sie nicht.
Ich habe den Beitrag von @Wetterfrosch vom Chatraum hierher kopiert.
JVA Berlin-Tegel
So leben Menschen in der Sicherungsverwahrung
Sie haben ihre Strafe verbüßt, gelten aber weiter als gefährlich. Ein Besuch bei Sicherungsverwahrten in der JVA Berlin-Tegel.
30.03.2016, 05:15 Uhr
Ulrich Kraetzer
Zimmer mit Aussicht auf den Sportplatz: Dirk H. in seiner 20?Quadratmeter großen Sicherungsverwahrung. Nachts bleibt die Tür verschlossen. Am Tag darf er sich im Gebäude und dem Außengelände frei bewegen
Sicherungsverwahrung. Was ist das eigentlich für ein Wort? In der Alltagssprache mag die Rede davon sein, dass man Geld verwahrt, Gegenstände vielleicht. Aber verwahrt man auch Menschen?
Das Tor zwei der Justizvollzugsanstalt Tegel an der Seidelstraße. Eine vielleicht drei Meter hohe Mauer, darin eingelassen ist eine kleine Stahltür. Ein Klingelknopf, eine Gegensprechanlage, kein Sichtkontakt zu den Bediensteten im Empfangsbereich. Wer rein will, muss etwas Zeit mitbringen, zumindest zum Schichtwechsel. Dann, nach etwa fünf Minuten, öffnet sich die Tür, und man gelangt in eine Stadt in der Stadt, in eine Art Parallelwelt, eine Welt, von der man draußen nicht viel erfährt und aus der die meisten, die hier Tag und Nacht verbringen müssen, schnell wieder raus wollen.
Im Empfangbereich läuft alles routiniert ab. Taschenkontrolle, Personalausweis abgeben, Besucherausweis einstecken, ein paar Scherze mit dem Sicherheitspersonal. Alle sind freundlich, alle sind nett. Und dennoch, da ist es wieder, dieses Gefühl der Beklemmung, das dem Gelegenheitsbesucher eines Gefängnisses immer wieder überkommt, wenn er auf der anderen Seite der Sicherungsanlage ist und sich für einen Moment vorstellt, wie es sein mag, wenn man nach ein paar Stunden nicht einfach wieder gehen kann.
39 Menschen sind derzeit in der Einrichtung der JVA Tegel untergebracht
Dabei ist die "Einrichtung für den Vollzug der Sicherungsverwahrung", der der Besuch am heutigen Nachmittag gilt, gar kein Gefängnis und die Menschen, die hier einige Jahre, manche sogar mehrere Jahrzehnte bis zu ihrem Tod verbringen, sind auch keine Häftlinge. Sie haben ihre Strafe abgesessen. Raus dürfen sie trotzdem nicht. Denn sie gelten immer noch gefährlich, sie könnten unvermittelt auf Unschuldige einprügeln oder – deswegen sind die meisten hier – Frauen, vielleicht auch Kinder, Mädchen und Jungen, brutal vergewaltigen. So haben es Gutachter eingeschätzt, so haben es die Gerichte festgelegt, als sie die Menschen, die heute hinter den Mauern in der Sicherungsverwahrung leben, damals verurteilt haben.
Wer die Sicherungsverwahrten besuchen will, muss auf dem Gelände der JVA Tegel zunächst an den Gebäuden für die Strafgefangenen vorbeigehen. Hohe Türme, die Fenster sind vergittert. "Hier sitzen die Lebenslänglichen", sagt der Bedienstete, der einem zu der Einrichtung für die Sicherungsverwahrten bringt.
Sicherungsverwahrung muss sich von Haftstrafe unterscheiden
Das vierstöckige Gebäude wirkt im Vergleich viel freundlicher. Keine Gitter, dafür große Fenster, es sieht eher aus wie ein Krankenhaus oder ein Seniorenheim. Wie ein Gefängnis dürfte es auch nicht aussehen. So wollte es das Bundesverfassungsgericht, das in einem Grundsatz im Mai 2011 festlegte, dass sich der Vollzug einer Sicherungsverwahrung vom Vollzug einer Haftstrafe wesentlich unterscheiden muss.
Denn, ja, sie mögen gefährlich sein. Sie haben aber ihre Strafe aber abgesessen. Wenn der Staat sie trotzdem einsperrt, sollen sie zumindest besser behandelt werden. Soviel Rechtsstaat muss sein. Der im Herbst 2014 fertiggestellte Neubau versucht, dem Rechnung zu tragen. Das vierstöckige Gebäude ist, so könnte man es sehen, ein Stück in Stein gemeißelte Rechtsgeschichte.
Im Foyer werden der Reporter und der Fotograf der Berliner Morgenpost schon erwartet. Nicht nur von Kerstin Becker, der Leiterin der Anstalt, sondern auch von fünf Insassen. Wie Schwerkriminelle oder ultrabrutale Triebtäter sehen sie nicht aus. Natürlich nicht, möchte man sagen. Und doch, man ertappt sich dabei, sich vorzustellen, wie sie früher einmal auf andere Menschen losgegangen sind, sie schwer verletzt oder gar getötet haben oder, schlimmer noch diese Vorstellung, andere Menschen vergewaltigt haben.
39 von ihnen sind zurzeit in der Einrichtung untergebracht. Platz wäre für 60. Es gebe aber schon einige "Vornotierungen", sagt Einrichtungsleiterin Kerstin Becker. Gefangene also, die nach dem Ende ihrer Haftstrafe vermutlich in der Sicherungsverwahrung landen, weil das Gericht sie als gefährlich eingestuft hat.
Die Ausstattung des Hauses ist tipptopp. In der Fahrradwerkstatt legt Heinrich W., so wollen wir ihn nennen, gerade Hand an das Vorderrad eines Mountainbikes an. Außerhalb der Mauern des Geländes der JVA Tegel wäre er wohl nicht mehr berufstätig, sondern könnte seine Rente genießen – vorausgesetzt, er hatte jemals einen Job, bei dem er dafür eingezahlt hat. "Aber hier ist es ja sonst langweilig", sagt er. Dann erzählt er, dass er wegen Vergewaltigung verurteilt wurde. Acht Jahre Gefängnis, acht Jahre Sicherungsverwahrung. Raus wolle er nicht mehr, sagt er. "Ich kenne doch da gar keinen mehr." Dann streicht er über seinen in Würde ergrauten Spitzbart und widmet sich wieder dem Vorderrad des Mountainbikes.
Einen Raum weiter könnten die Insassen Körbe flechten. Tun sie aber nicht. Jedenfalls nicht an diesem Nachmittag. In einem anderen Stockwerk könnten sie Billard spielen. Genutzt werde der Raum aber eher selten, sagt einer der Insassen. Erinnern kann er sich nur daran, dass einer hier vor kurzem ausgerastet sei und den Tisch beschädigt habe.
Kerstin Becker schließt auch noch einen Raum gegenüber von der Fahrradwerkstatt auf. Das Musikzimmer. Schlagzeug, Gitarre samt Verstärker, Keyboard und Gesangsanlage. Alles da. Eine richtige Band gebe es trotzdem nicht, sagt Becker. Einmal in der Woche käme der Musiktherapeut. Das Interesse halte sich aber in Grenzen. Gerne scheint sie nicht darüber zu sprechen.
Dann schaltet sich Dirk H. ein. Er ist der Sprecher der Sicherungsverwahrten, will ihre Interessen vertreten und bei Konflikten vermitteln. Was er sagt, klingt banal – und bringt das Dilemma der Insassen und die juristische Gratwanderung, die das Konzept der Sicherungsverwahrung darstellt, dennoch auf den Punkt. "Ich würde lieber draußen sein, als hier so einen schicken Musikraum zu haben", sagt er. Kerstin Becker sagt nichts.
Dirk H. zeigt sein Zimmer. 20 Quadratmeter Sicherungsverwahrung. Nachts bleibt die Tür verschlossen. Tags dürfen er und die anderen Verwahrten sich in dem Gebäude und dem Außengelände frei bewegen. H. ist um die 50. Der Bart ist gestutzt, das Bett gemacht. An den Wänden hängen großformatige Puzzle. Ein Leuchtturm. Eine Burg. Das größte hat 3000 Teile. Damit hat Dirk H. zwei Wochen rumgebracht, sagt er. Auf den Tischen und Regalen stehen unzählige Modellbau-Militärhubschrauber. Eine Reminiszenz an seine Zeit bei der Bundeswehr, sagt Dirk H. Später sei er dann im Rockermilieu heimisch geworden. Weshalb er verurteilt wurde, und warum die Richter ihn bei der Verurteilung als gefährlich einstuften, will er nicht sagen. Er will es zumindest nicht in der Zeitung lesen.
Aus seinem Zimmer sieht er die Flugzeuge beim An- und Abflug
Für das Foto des Morgenpost-Fotografen stellt Dirk H. sich vor das Fenster. Draußen kann er den Sportplatz der Sicherheitsverwahrten sehen. Zwei Basketballkörbe. Die auf dem Boden eingezeichneten Linien sehen aus, als wäre der Platz noch nie genutzt worden. Dirk H. kann von hier aus aber auch die Flugzeuge beim An- oder Abflug auf den Flughafen Tegel sehen. Wie viele Stunden er damit verbracht hat, ihnen hinterherzugucken, kann er nicht sagen. Aber es waren viele.
H. hat regelmäßig Ausgang, er darf sich in Begleitung von Bediensteten auch außerhalb des Geländes der JVA Tegel aufhalten, kann regelmäßig seine Familie sehen, seine Frau, seine 17 und 19 Jahren alten Söhne, deren Fotos er an seine Pinnwand gehängt hat. Frei fühlt er sich trotzdem nicht. "Wenn ich aus dem Fenster rausgucke, frage ich mich, wann ich mal wieder in so einem Flugzeug sitzen darf", sagt er. Glaubt er selbst, dass er noch gefährlich ist? Oder findet er, dass er entlassen werden könnte? H. überlegt. Er habe eine Therapie gemacht, Zeit zum Nachdenken gehabt. Er sei zwar wahrscheinlich kein besserer Mensch als früher, sagt er. Aber reifer geworden. "Ich würde sagen, ich bin soweit", sagt er. "Aber für die bin ich halt noch nicht soweit."
"Die" – das sind die Psychologen, die H. und die anderen Insassen mindestens einmal im Jahr begutachten. Die Perspektive, rauszukommen, müsse gewahrt bleiben, das forderte das Bundesverfassungsgericht. Wenn man Kerstin Becker zuhört, klingt es, als gäbe es in der Einrichtung ein ständiges Kommen und Gehen. Erst im Januar, sagt sie, sei ein Insasse nach 13 Jahren Sicherungsverwahrung entlassen worden. Im Mai werde es eine weitere Entlassung geben.
Von Aufbruchstimmung oder dem Gefühl, nur vorübergehend verwahrt zu bleiben, ist in den Gängen oder den vielen Aufenthaltsräumen des schicken Neubaus trotzdem nichts zu spüren. Dem mit 42 Jahren jüngsten Verwahrten steht die Perspektivlosigkeit förmlich ins Gesicht geschrieben. "Ich habe richtig Angst", sagt er. "Ich habe Angst, dass sie mich hier mit den Füßen zuerst raustragen." Die Anstaltsleitung wolle einen brechen. Er fühle sich fremdbestimmt, Restriktionen und Willkür seien an der Tagesordnung. "Bis man keinen eigenen Willen mehr hat." Warum er verurteilt wurde und als gefährlich gilt, sagt auch er nicht.
Erst im Januar wurde ein Verwahrter entlassen
Nach dem Rundgang bittet Kerstin Becker zum Gespräch in einen kleinen Sitzungsraum im Erdgeschoss des Hauses – und berichtet von den Problemen mit den Verwahrten. "Viele sind schon sehr frustriert und lehnen das System des Justizvollzugs vollständig und ganz grundsätzlich ab", sagt Becker. Der Umgang mit ihnen könne anstrengend sein. Die Idee, als Straftäter betrachtet zu werden, der für die Gesellschaft immer noch eine Gefahr darstellt, würden nur wenige begreifen. Für jeden Verwahrten gebe es einen Psychologen und einen Sozialarbeiter. Etwa ein Viertel würde sich aber jeder Therapie und den Gesprächsangeboten grundsätzlich verweigern. "Jeder nimmt für sich in Anspruch, zu Unrecht hier zu sein."
Kerstin Becker leitet die Einrichtung für die Sicherheitsverwahrten seit drei Jahren. Ihr Blick auf die Insassen habe sich durch den Jobwechsel durchaus verändert, sagt sie. Sie denke nicht mehr ständig an die Straftaten, wegen derer die Verwahrten verurteilt wurden und an die Gefahr, die sie aus Sicht der Gutachter darstellten. Der Mensch sei durch den täglichen Kontakt in den Vordergrund gerückt. Manchmal sei es ganz lustig, in den Fluren gebe es nette Gespräche. "Jeder sollte eine Chance bekommen, sich zu verändern", sagt Becker. "Aber die Vorstellung, dass man alle erfolgreich behandeln kann, funktioniert nicht."