Dessau. Ein Fahrradfahrer entdeckt am Morgen des 7. November 1998 neben der gerade ausgebauten, jedoch noch nicht freigegebenen Schlagstraße in Dessau-Süd einen Toten. Es ist der Obdachlose Klaus F. Der 43-Jährige wurde durch fünf Schläge an den Kopf getötet.
In Sachsen-Anhalt werden Jahr für Jahr rund 1500 sogenannte Kapitalverbrechen begangen - darunter rund 100 Tötungsdelikte. Die meisten Fälle werden aufgeklärt. Doch bleiben immer noch gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Polizei einiger dieser Delikte an und fragt: Wer kann Hinweise geben?
Dessau-Roßlau. 6. November 1998 zwischen 21 Uhr und 21.30 Uhr. Vor dem Obdachlosenheim Mittelbreite 9 in Dessau-Süd steigt ein untersetzter, einige Straftaten übrig und die Täter unerkannt. Die Volksstimme nimmt sich in ihrer Sommerserie gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Polizei einiger dieser Delikte an und fragt: Wer kann Hinweise geben?
Dessau-Roßlau. 6. November 1998 zwischen 21 Uhr und 21.30 Uhr. Vor dem Obdachlosenheim Mittelbreite 9 in Dessau-Süd steigt ein untersetzter, fast dicklicher Mann in ein Auto. Es ist eine helle Limousine mit Fließheck - ein sogenannter Dreitürer. An den Seitentüren befinden sich zwei reflektierende Symbole. Sie ähneln Blitzen. Die Heckscheibe ist durch eine Art Rollo abgedunkelt. Darauf ist ein Tierkopf abgebildet - möglicherweise ein Katzenkopf.
Der Mann, der sich in den Autositz fallen lässt, trägt eine olivfarbene Herrenjacke, ein mehrfarbig gemustertes Oberhemd, eine blaue Jeans und schwarze Halbschuhe.
Das Auto fährt im Stadtteil Süd wahrscheinlich nur eine kurze Strecke - zwischen eineinhalb und zweieinhalb Kilometer bis zur Schlagbreite, so die spätere Schätzung.
In der Schlagbreite wird zur damaligen Zeit gerade die Straße saniert. Die Kantensteine an der Fahrbahn sind bereits gesetzt. In den nächsten Tagen soll Bitumen aufgetragen werden. Links und rechts der Straße türmen sich Sandhaufen. Schräg gegenüber einem Werbeaufsteller steht eine Baumaschine.
"Was dort in der Dunkelkeit nach 21.30 Uhr passiert ist, wissen nur der oder die Täter", sagt Kriminalkommissar Ingo Reimann von der Dessau-Roßlauer Mordkommission.
Zwischen Sandberg und Bordsteinkante
Am nächsten Tag, Sonnabend, 7. November, fährt ein Radfahrer gegen 6.45 Uhr über die halbfertige Schlagstraße. Er will zur Arbeit. Im Licht seiner Fahrradlampe sieht er zwischen einem Erdhaufen und der Bordsteinkante einen Körper liegen - ein Mann in olivgrüner Jacke und Jeanshose.
Zuerst glaubt er, dass der Mann gestürzt oder betrunken ist. Aber als er näher herantritt, stellt er fest, dass es sich um einen Toten handelt. Er setzt sich auf sein Fahrrad und fährt zu den Bauarbeitern, die sich unweit der Fundstelle aufhalten. "Da liegt einer. Wahrscheinlich tot", zeigt er in Richtung Leiche.
Die Straßenarbeiter gehen zum angegebenen Ort und überzeugen sich selbst. Dann verständigen sie die Polizei.
"Dass es sich bei dem Rotblonden mit dem Dreitagebart um Klaus F. handelt, war ziemlich schnell klar. Der Tote wurde anhand von Briefen, die er bei sich trug und Kundenkarten identifiziert", so der Ermittler.
Die Tatortgruppe des Landeskriminalamts und ein Rechtsmediziner aus Halle sind vor Ort. Stumpfe Gewalt gegen den Kopf, lautet die Einschätzung nach der ersten Leichenschau. Die Obduktion ergibt wenige Stunden später, dass der Mann durch mindestens fünf Schläge mit einem Gegenstand gestorben ist. Die Kopfhaut ist an mehreren Stellen verletzt. Klaus F. verblutete. Als Tatzeit geben die Rechtsmediziner den 6. November gegen Mitternacht an.
Womit der 43-Jährige letztlich genau erschlagen wurde, kann bis heute nicht mit Sicherheit gesagt werden. Die Tatwaffe wurde nicht gefunden.
Kein Treffer in der DNA-Datenbank
Die Spurensucher finden auf dem Split des neuen Fußwegs Blutspritzer. Der Fährtenhund, der dort angesetzt wird, läuft einige Meter. Dann verliert er neben dem Abdruck eines Autoreifens die Spur.
Allerdings sind es nicht nur Blutspuren, die die Kriminalisten finden. Es kann auch DNA festgestellt werden, die vom Opfer und von einem Unbekannten - möglicherweise des Täters. Allerdings landen die Ermittler mit diesem genetischen Fingerabdruck keinen Treffer in der BKA-Datenbank. Der DNA-Verursacher ist beim Bundeskriminalamt nicht registriert.
"Natürlich haben wir das Leben des Opfers durchleuchtet, um herauszufinden, ob es dort Anknüpfungspunkte für die Tat gibt", sagt der Kriminalkommissar.
Bereits kurz nachdem der Tote gefunden wurde, wissen die Ermittler, dass Klaus F. während der letzten Monate im Obdachlosenheim in der Mittelbreite 9 gelebt hat.
Er war früher als Schlosser bei der Dessauer Straßenbahn beschäftigt. Dort war er jedoch nach der Wende entlassen worden. Er hatte zwar eine Abfindung erhalten, war allerdings trotzdem Schritt für Schritt abgerutscht.
Im Heim galt er als "ruhiger Vertreter", der "keinen Stress" machte und der im Gegensatz zu seinen meisten Mitbewohnern kaum dem Alkohol zusprach. Leben und leben lassen sei das Motto des 43-Jährigen gewesen.
Die Befragungen im Heim gestalten sich als recht schwierig. Weil er kaum Kontakt zu anderen Bewohnern hatte, erhalten die Ermittler nur wenige Informationen, die sie voranbringen.
Allerdings gibt ein Zeuge an, dass Klaus F. am Tatabend gegen 21 Uhr einen Anruf auf dem Handy bekommen hat. "Ich war bei dem Telefongespräch dabei", sagt der Mann aus. "Und ich hatte das Gefühl, dass sich Klaus mit dem Anrufer verabredet hat." Doch um wen es sich dabei gehandelt hat, ob es eine Frau oder ein Mann gewesen ist, worum es ging und wo das Treffen stattfinden sollte, darüber konnte der Zeuge keine Auskunft geben.
Ein zweiter Heimbewohner kann die "Abholszene" schildern. Er beschreibt das helle Fahrzeug, in das F. gestiegen war. Allerdings erkannte der Zeuge den Typ des Fahrzeugs nicht.
Die Polizei wendet sich an die Öffentlichkeit. Und das scheint zuerst erfolgversprechend zu sein. Denn rund 100 Personen, die das Opfer gekannt haben, melden sich. Doch die Aussagen der meisten beziehen sich auf die DDR-Zeit. Zur Tat selbst oder zum Tatumfeld können sie nichts beisteuern.
"Wir vermuten, dass Klaus F. bewusst zu der noch nicht fertigen, aber bereits befahrbaren Straße gebracht wurde. Fast sicher ist, dass die Fundstelle auch der Tatort war", sagt Reimann. Er vermutet "persönliche Hintergründe" für die Tötung des alleinstehenden Obdachlosen.
Eine Ermittlungsrichtung war der zuletzt ungewöhnliche Umgang des Opfers mit Geld. F. galt als "sparsamer Geselle", doch in den letzten Wochen vor seinem gewaltsamen Tod soll sich sein Verhalten in Gelddingen verändert haben. Er sei "freigiebig" geworden, behaupteten einige seiner Wohngenossen. Er habe mit dem wenigen Geld, das er besaß, "herumgeworfen" und sogar kleinere Summen verschenkt.
Einen Raubmord schließt die Dessau-Roßlauer Mordkommission jedoch aus. Denn zu den persönlichen Dingen, die Klaus F. bei sich trug, als er getötet wurde, gehörten auch rund 80 D-Mark. Verschwunden ist allerdings das Handy unbekannter Marke, auf dem der Heimbewohner kurze Zeit vor seinem Tod den letzten Anruf bekam.