Mordfall Agnès Le Roux Nach fast 40 Jahren kommt die Wahrheit ans Licht Sex, Millionen und eine vermisste Casino-Erbin: Der Fall Agnès Le Roux beschäftigte die französische Justiz seit 1977. Der Tatverdächtige blieb auf freiem Fuß - bis sein Sohn auspackte.
Freitag, 11.08.2017 14:03 Uhr Drucken NutzungsrechteFeedbackKommentieren "Solange sie die Leiche nicht finden, habe ich nichts zu befürchten": Es ist dieser eine Satz seines Vaters, der das Leben von Guillaume Agnelet für immer verändert. Der Sohn ist gerade 14 Jahre alt, als er die lässig hingeworfene Bemerkung erstmals hört. Gemeint als beruhigende Floskel - in Wahrheit ein furchtbares Geständnis.
Das Bekenntnis des Vaters wird zum Auslöser eines Traumas, das Guillaume von der Kindheit bis ins Mannesalter verfolgen wird. Hin- und hergerissen zwischen aufgezwungener Loyalität und dem langen, quälenden Weg zur Wahrheit.
Die mysteriösen Wendungen um die verschwundene Geliebte des Anwalts Maurice Agnelet beschäftigte Justiz, Privatdetektive und Medien fast vier Jahrzehnte; Bücher und Spielfilme beschrieben die "Affäre Agnès Le Roux". Die düstere Mordstory zählt zu den faszinierendsten Fällen der französischen Kriminalgeschichte - es geht um Glücksspiel, Sex, Mafia und sehr viel Geld.
Pascale Robert-Diard, Gerichtsreporterin der Tageszeitung "Le Monde", schildert in ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch "Verrat: Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet" die zentrale Rolle des zweitältesten Sohns Guillaume, der sich der Journalistin anvertraute. Robert-Diard beschreibt, wie sich Guillaume vom überzeugten Verteidiger seines Vaters zum von Zweifeln getriebenen Kronzeugen und Ankläger wandelt.
Anfangstheorie Suizid
Nizza, Allerheiligen, 1977: Agnès Le Roux, die wohlhabende Erbin des berühmten Spielcasinos Palais de la Méditerranée an der Côte-d'Azur, bricht mit ihrem Liebhaber Maurice Agnelet nach Italien auf. Der Anwalt, verheiratet und Vater von drei Söhnen, hat die brünette 29-Jährige zwei Jahre zuvor bei ihrem Scheidungsprozess vertreten. Bald darauf wird sie die Geliebte des charmanten Playboys - und hofft auf eine künftige Heirat.
Die Beziehung zahlt sich aus für den finanziell angeschlagenen Agnelet: Der damals 38-Jährige überredet die Geliebte, ihre geerbten Casino-Anteile an einen zwielichtigen Konkurrenten zu übertragen. Im Gegenzug erhält Agnès drei Millionen Francs, die Summe überweist sie auf ein mit Maurice eröffnetes Konto in der Schweiz. Das Vermögen soll ihre gemeinsame Zukunft sichern.
Von dem amourösen Kurzurlaub Ende Oktober 1977 kehrt die junge Frau nie zurück. Zunächst glaubt die Polizei an Suizid, zumal Agnès offenbar zwei Selbstmordversuche hinter sich hatte. Erst ein Jahr später wird ein Untersuchungsverfahren gegen Maurice Agnelet eingeleitet - der das Millionenguthaben von Agnès derweil auf ein eigenes Konto umgeleitet hat.
Neues Leben in Kanada
Zur Hilfe kam ihm seine neue Lebensgefährtin, Françoise Lausseure. Sie beteuerte, Maurice sei an dem fraglichen Allerheiligen-Termin mit ihr in der Schweiz gewesen. Durch das Alibi kam Agnelet aus der U-Haft frei, gemeinsam mit Lausseure siedelte er nach Québec über. Doch im Sommer 1983 wurde der Anwalt von seiner Vergangenheit eingeholt. Der Untersuchungsrichter, der die Vorermittlungen gegen Agnelet geleitet hatte, erließ einen internationalen Haftbefehl: Als Maurice im August nach Paris kam, wurde er verhaftet.
Auf dem Familienanwesen in Cantaron wühlten Bulldozer rund um das Schwimmbecken die Erde auf, ohne Erfolg. Selbst Ex-Frau Anne stützte die Darstellung von Maurice, er sei Allerheiligen 1977 wahrscheinlich in Nizza gewesen. Die Folge: Die Vorwürfe wurden fallengelassen, Maurice kam bis zur Hauptverhandlung auf freien Fuß.
Im Sommer 1985 besuchten Guillaume und sein älterer Bruder den Vater, der Zuflucht bei einem befreundeten Maler gefunden hatte. Bei dieser Gelegenheit ließ Maurice fast beiläufig vor Guillaume die schrecklichen Worte fallen: "Egal, solange sie die Leiche nicht finden, habe ich nichts zu befürchten."
Maurice schaute seinem Sohn in die Augen und schob hinterher: "Und ich weiß, wo die Leiche ist." Guillaume versuchte, die kompromittierenden Worte zu vergessen. Zumal sein Vater vom Vorwurf des Mordes freigesprochen wurde, mangels Beweisen, mangels Leiche.
"Dein Vater ist der leibhaftige Teufel"
Als Guillaumes älterer Bruder 1990 an Aids starb, brach Mutter Anne ihr Schweigen. Überwältigt von Schmerz und Trauer, voller Hass gegenüber Maurice, wetterte sie: "Dein Vater ist der leibhaftige Teufel." Dann wiederholte Anne, was ihr Ex über das Verschwinden von Agnès Le Roux berichtet hatte: "Er hat sie im Schlaf erschossen." Guillaume war tief getroffen, aber nicht überzeugt - der Fall war für ihn längst ad acta gelegt.
Nicht aber für die Mutter von Agnès, Renée Le Roux. Unermüdlich machte sie Druck, setzte Privatdetektive auf den Fall an, mobilisierte die Medien. Und hatte, 30 Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter, endlich Erfolg.
Eine Untersuchungsrichterin aus Aix-en-Provence übernahm die Ermittlungen und verhörte auch Agnelets Ehefrau Lausseure. Diese gestand, ein falsches Alibi abgegeben zu haben.
Dramatisches Plädoyer
Die Einlassung geriet zum Wendepunkt - doch Maurice Agnelet wiegte sich in Sicherheit und versuchte Sohn Guillaume zu beruhigen: "Solange sie die Leiche nicht finden, habe ich nichts zu befürchten." Da war er wieder, der Satz, den Guillaume, nunmehr 30 Jahre alt, aus dem Gedächtnis getilgt hatte.
Und dennoch wehrte sich der Sohn gegen das Bekenntnis. Mehr noch: Guillaume begann seinen Vater öffentlich in Schutz zu nehmen: Er fühlte sich wie ein "Feldwebel der Infanterie", schreibt Journalistin Robert-Diard: "Der Prozess seines Vaters ist zu seiner Schlacht geworden."
Eine Schlacht, die Guillaume mit einem dramatischen Plädoyer gewann: "Ich weiß, dass mein Vater unschuldig ist", sagte er und wandte sich an die Geschworenen, "er ist kein Monster." Das Verfahren endete im Dezember 2006 - mit dem Freispruch von Maurice Agnelet.
Nur eine Atempause
Dennoch war das Verhältnis zwischen Vater und Sohn angeschlagen. Als Guillaume den Vater auf den verräterischen Satz ansprach, leugnete Maurice alles. Später sollte er diesen Moment als Katharsis schildern: "Wenn Maurice in mir eine Gefahr sieht, bin ich selbst in Gefahr."
Das Urteil von 2006 bescherte Agnelet nur eine Atempause. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, bei einem neuen Prozess in Aix-en-Provence verurteilten die Geschworenen Agnelet 2007 wegen Mordes zu 20 Jahren Gefängnis.
Die Anwälte Agnelets legten Berufung ein, ohne Erfolg. Daraufhin zog der Verurteilte vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Im Januar 2013 entschieden dessen Juristen auf ein Revisionsverfahren.
Allein gegen Mutter und Bruder
Die Aussicht auf neue Vernehmungen vor einem Geschworenengericht brachte Guillaume ans Ende seiner Kräfte. Jetzt endlich wollte er sich von der Last seines Mitwissens befreien und suchte das Gespräch mit dem Anwalt seines Vaters, François Saint-Pierre. Ihm eröffnete Guillaume: "Die Wahrheit ist, dass er die Kleine abgemurkst hat!"
Guillaume bat seine Mutter und Bruder Thomas, die Augen nicht länger vor der Wahrheit zu verschließen - vergeblich: Bei der Hauptverhandlung gegen Maurice Agnelet im Jahr 2014 beschrieb Ex-Frau Anne ihren ehemaligen Gatten zwar als "schlechten Ehemann und schlechten Vater", bezichtigte ihn aber nicht als Mörder von Agnès Le Roux. Es sei nun an der Zeit, unter diese alte Geschichte "einen Schlussstrich zu ziehen".