Schatten einer finsteren Nacht Der Fall Sabine Binder – 1981 ist die junge Frau in Stuttgart umgebracht worden
STUTTGART. Durch moderne Kriminaltechnik können immer mehr alte Mordfälle geklärt werden. Aber es gibt noch viel zu tun: In der Region sind seit Kriegsende 92 Morde ungesühnt.
Mit diesen Verbrechen befasst sich die StZ in einer Serie, die heute zu Ende geht. Von Michael Ohnewald und Markus Heffner Im Leben von Thomas hat es eine Zeit gegeben, die er heute die Hölle nennt. Es braucht nicht viel, sie zurückzuholen in sein Gedächtnis, selbst nach Jahrzehnten noch.
Ein Stichwort genügt. Manchmal reicht auch ein Lied im Radio, das sie gemeinsam gehört haben, oder ein Duft, der in seine Nase weht und Erinnerungen weckt. Dann tanzen sie wieder, die Bilder in seinem Kopf, und lassen die Zeit mit ihr lebendig werden. Die Zeit mit Sabine Binder, die lange schon tot ist. Thomas trägt die Ablagerungen dieser Zeit auf seiner Seele, und er tut sich immer noch schwer, über Sabine zu reden und über den letzten Abend mit ihr. Denn mit diesem Abend ist eine Frage verknüpft, die ihre Widerhaken gesetzt hat. Er wird sie nicht los. Fragen können wehtun, und diese tut besonders weh.
„Warum habe ich Sabine damals nicht mit dem Auto nach Hause gefahren?“ Es ist der 28. Mai 1981, ein Donnerstag, Fronleichnam. Sabine Binder hat ein langes Wochenende vor sich. Sie will es genießen. Am Vormittag ist sie zurückgekommen von Wiesensteig, wo die 20-Jährige ein Praktikum macht in einem Jugendheim. Sie möchte Hauswirtschaftsleiterin werden.
Über Plieningen kräuseln sich die Wolken. Sabine weiß nicht recht, was sie unternehmen soll. An Möglichkeiten fehlt es ihr nicht. Sie ist hier im Ort mit vier Geschwistern aufgewachsen. Die familiären Bande sind eng. In ihrer Freizeit engagiert sich die Auszubildende in der Katholischen Jungen Gemeinde, organisiert Zeltlager und Freizeiten. Dabei hat sie Thomas kennen gelernt. Er ist acht Jahre älter als sie, hat gerade ein Studium hinter sich und will jetzt noch eine Lehre anschließen.
Am Abend verlässt Sabine Binder das elterliche Haus gegen 20.15 Uhr. Mit dem roten Mars-Damenrad ihrer Schwester macht sie sich von Plieningen nach Degerloch in die Epplestraße auf. Dort gibt es eine Discothek namens Domus. In dem Tanzlokal begegnen ihr zwei Freundinnen aus der Realschulzeit in Degerloch. Sylvia und Birgit wundern sich über Sabine, die eigentlich sonst nicht in Discos geht. Sabine ist nicht allein. Bei ihr, so beobachten die Freundinnen aus einiger Entfernung, ist jemand, mit langen, dunklen Haaren.
Es ist die Zeit der Friedensbewegten, die bunte Sachen tragen und „we shall overcome“ singen. Deshalb können Sylvia und Birgit nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob Sabine von einem Jungen oder von einem Mädchen begleitet worden ist. Lange bleibt sie nicht im Domus. Bereits um halb zehn steht die hübsche Stuttgarterin vor einem Haus in der Möhringer Märchensiedlung. Dort wohnt Thomas. Sie ist mit dem Rad zu ihm gefahren. Die beiden verbringen den weiteren Abend miteinander. Drinnen ist es gemütlich, draußen perlen Regentropfen von den Fensterscheiben.
Das Thermometer zeigt nur zwölf Grad an. Gegen halb zwei in der Nacht will Sabine nach Hause. Thomas sagt, dass er sie fahren kann mit seinem Renault-Kastenwagen. Es sind immerhin mehr als sieben Kilometer bis Plieningen. Das Fahrrad würde er schon irgendwie reinkriegen in sein Auto. Aber Sabine lehnt ab. Es regnet nicht mehr. „Komm Spatz, ich fahr selbst“, sagt sie. Sätze, die so anfangen, enden manchmal grausam.
Es ist schon lange Freitag, als Thomas angerufen wird von den Eltern seiner Freundin. Sabine sei nicht nach Hause gekommen, sagen sie. Am frühen Nachmittag taucht plötzlich die Polizei in seiner Wohnung auf. Sabine sei möglicherweise gefunden worden, erklären ihm die Beamten. Er solle mitkommen zum Tatort. „Ich bin fassungslos gewesen“, erzählt Thomas. Dann haben sie ihn hinübergeführt zu einem wilden Müllplatz unweit des Waldheims Weidachtal, einem unwirtlichen Ort, zwei Kilometer von seiner Wohnung entfernt.
Dort hatte ein Spaziergänger eine tote Frau entdeckt, teilweise entblößt, voller Blut. Der Mörder hat sie grässlich zugerichtet. Thomas sieht in das Gesicht seiner Freundin. „Ich wollte sie noch mal streicheln“, sagt er, „aber ich durfte nicht.“ Die Mordkommission der Stuttgarter Kriminalpolizei nimmt die Ermittlungen auf. Aus dem Befund des Obduzenten, der eine Vielzahl von Stich- und Schnittverletzungen am Opfer feststellt, schließen die Beamten, dass der Fundort nicht der Tatort ist. Dort müsste mehr Blut sein.
Für die These der Fahnder spricht auch, dass das Damenrad an der Filderhauptstraße entdeckt worden ist, ungefähr 500 Meter hinter den Kelley Barracks und ein gutes Stück weg vom Waldheim. Die Einsatzkräfte finden auch die Jeans des Opfers und die Turnschuhe. Verschollen bleibt Sabines bunt gewebte Umhängetasche. Eine Sonderkommission versucht Licht ins Dunkel der abgründigen Tat zu bringen. Sie scheut dabei keine Kosten.
Aufklärungsgeschwader der Bundeswehr filmen das Waldgebiet. Die Armeepiloten halten vergeblich Ausschau nach Spuren, die weiterhelfen. Auch Einsatzkräfte durchkämmen den Forst. Sie versprühen dabei eine fluoreszierende Substanz im Unterholz. Auf diese Weise können Blutspuren sichtbar gemacht werden. Gefunden wird nichts. Fünf Tage nach dem Mord kreist ein Hubschrauber über den Fildern.
Auf den Straßen wundern sich Menschen über gelbe Flugblätter, die vom Himmel fallen. Insgesamt 50 000 Stück wirft die Polizei ab. Sie hofft, durch diese Fahndungsaktion vielleicht Spaziergänger zu erreichen, die Blut im Wald gesehen haben. Die Polizei ist auf Zeugen angewiesen, die an jenem Abend unterwegs waren. Und sie sucht Hinweise auf ein Auto „mit stark verblutetem Innenraum“. Die ermittelnden Beamten gehen davon aus, dass der Mörder sein Opfer an der Filderhauptstraße in einen Wagen gezerrt und dort getötet hat.
Das schließen die Fachleute aus den Zeugenaussagen einer Zeitungsausträgerin und eines Taxifahrers. Beide hatten nachts am Straßenrand ein Rad bemerkt und dahinter einen Wagen mit einem quadratischen Kennzeichen am Heck, wie man es von Autos der Marke Lada kennt und auch von Fahrzeugen amerikanischer Streitkräfte.
Die Polizei nimmt diese Hinweise so ernst, dass sie die Zeitungsausträgerin an der Universitätsnervenklinik in Tübingen unter Hypnose befragen lässt. Darüber hinaus werden im gesamten Bundesgebiet 158 Ladas überprüft. Kriminologen werten hunderte von Spuren aus und verschicken erstmals auch Farbfotos an Zeitungen. Alles vergeblich. Der Druck auf die Sonderkommission wächst.
Dies umso mehr, als nur 37 Tage nach der ruchlosen Tat keine zweihundert Meter entfernt von der Stelle, an der Sabine gefunden worden ist, eine weitere Leiche für Aufregung sorgt. Es handelt sich um Liane Magdalena Hoewler. Die 17-Jährige ist erschlagen worden. Die Polizei geht zunächst davon aus, dass beide Morde auf das Konto eines Täters gehen. Aber sie irrt. Im Frühjahr 1983 gesteht ein 22 Jahre alter Lagerarbeiter, Liane Magdalena Hoewler getötet zu haben. Das Kapitalverbrechen an Sabine Binder kann dem Mann nicht nachgewiesen werden.
Die Polizei hat zu diesem Zeitpunkt längst einen anderen im Visier: Joseph N. Brown, ein Soldat, der aus Spring Valley im US-Bundesstaat New York stammt und 1981 in den Kelley Barracks stationiert war. Brown soll sich in der Region Stuttgart an einer jungen Amerikanerin vergangen haben und deshalb nach Aschaffenburg versetzt worden sein. Aber was noch schwerer wiegt: der farbige Soldat wird im März 1982 von einem US-Militärgericht des Mordes an der 18 Jahre alten Ursula Schrimsher aus Aschaffenburg für schuldig befunden. Die Frau war vergewaltigt worden.
Anschließend hatte ihr Peiniger vielfach auf sie eingestochen. Als Brown in Würzburg der Prozess gemacht wird, sitzen auch Abgesandte der Stuttgarter Ermittlungsbehörden im Gerichtssaal. Für den Fall Binder ergeben sich dabei keine neuen Erkenntnisse. Und das, obwohl die „Spur Brown“ als eine ganz heiße gewertet worden war. Weitere Ermittlungen sind den deutschen Beamten nicht möglich. Brown wird zum Tode verurteilt und in die Vereinigten Staaten überführt. Dort sitzt er laut Kriminaloberkommissar Udo Härter, der sich seit einem Jahr als Pate verstärkt um den Fall Binder kümmert, bis heute ein.
Vor wenigen Monaten hat der 35-jährige Fahnder einen weiteren Anlauf genommen, um den Mord doch noch klären zu können. Er schickte die Kleider von Sabine Binder zu Spezialisten des Landeskriminalamts. Diese haben nach einer Sisyphusarbeit überraschend genetische Fingerabdrücke gefunden, die wahrscheinlich vom Täter stammen. Diese DNA-Spuren lassen hoffen.
„Es laufen neue Untersuchungen und es gibt mehrere Spuren, denen wir nachgehen“, sagt Härter. „Wir ziehen jetzt Kreise um das Opfer.“ Für Thomas ist das ein schwacher Trost. „Sabine war ein liebenswerter Mensch“, sagt er. Dass er sie nicht begleitet hat, weiß der Teufel warum, das treibt ihn bis heute um. Auch wenn sich die Schuldgefühle abgeschwächt haben und ihn ein neues Leben trägt und eine neue Familie, brennen sie noch, die Narben der Vergangenheit. Sabine Binder ist in jener Nacht allein mit dem Rad nach Hause gefahren. „Ich kann das“, sagt Thomas, „nicht mehr rückgängig machen.“
Zeugen gesucht Unterstützt von Staatsanwaltschaft und Kripo berichtet die Stuttgarter Zeitung in einer Serie über ungeklärte Mordfälle in der Region. Die Autoren sichten Unterlagen, befragen Zeugen, sprechen mit Angehörigen. Alle Beiträge werden jeweils aktuell ins Internet gestellt, nachzulesen unter http://www.stuttgarter-zeitung.de/mordfaelle. Die Polizei hofft auf die Mithilfe der Bevölkerung. Wer weiß Näheres? Wem hat sich der Täter anvertraut? Hinweise werden von der Kripo in Stuttgart unter der Telefonnummer 07 11/89 90-63 33 rund um die Uhr entgegengenommen. Pate im Fall Sabine Binder ist Udo Härter. Dies war der letzte ungeklärte Mordfall, über den wir im Rahmen der StZ-Serie berichtet haben. Am Donnerstag folgt zum Abschluss eine Bilanz der Polizei.