Die Suche nach der zerrissenen Wahrheit Der Fall Stohl – vor sechs Jahren ist am Neckardamm in Münster eine verstümmelte Leiche entdeckt worden
STUTTGART. Durch moderne Kriminaltechnik können immer mehr alte Mordfälle geklärt werden, die früher unlösbar schienen. Aber es gibt noch viel zu tun: In der Region sind seit Kriegsende 92 Morde ungesühnt. Mit diesen Verbrechen befasst sich die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald und Markus Heffner
In einem grauen Pappkarton ist alles, was die Polizei von Rudolf Stohl gefunden hat. Seine Fotos aus besseren Tagen, sein Handy, sein Anrufbeantworter. Manches ist bis heute nicht gefunden worden von Rudolf Stohl.
Seine Beine, seine Arme, sein Kopf.
Für die Stuttgarter Fahnder ist der Fall eine Exkursion zu den Grenzen des Fassbaren. Sie beginnt am 16. März 1999.
Spielende Kinder entdecken am Neckardamm beim Münstersteg eine große Plastiktüte. Sie vermuten, dass jemand seinen Abfall am Flussufer entsorgt hat. Als sie aus Neugier mit einer Schere in die Plastiktüte stechen, dringt der säuerliche Atem eines Leichnams heraus, der lange keinen Namen hat. Die Kinder rennen nach Hause.
Gegen 18.30 Uhr wird die Stuttgarter Polizei alarmiert. Seitdem sucht sie nach der zerrissenen Wahrheit. Kriminalhauptkommissar Reinhold Pink trinkt an diesem Märzabend nach dem Dienst noch ein Bier mit Kollegen, als sein Handy klingelt. Einsatz in Münster, heißt es. Die Beamten sehen sich mit einem monströs abwegigen Fall konfrontiert, wie er nicht in polizeilichen Lehrbüchern steht. Was ihnen begegnet, das liegt außerhalb der kausalen Welt. Sie haben einen gesichtslosen Menschen vor sich, einen Torso, bekleidet nur mit einem roten Slip, gezeichnet durch ein Dutzend Einstiche und zwei ältere Operationsnarben. Mehr haben sie nicht. Die Polizei ballt ihre Kräfte.
In der Sonderkommission Steg arbeiten zwanzig Beamte an der Identifizierung des verstümmelten Mordopfers, darunter auch Reinhold Pink, ein erfahrener Fahnder. Der Fundort der Leiche wird nach weiteren Spuren abgesucht, zwei Einsatzhundertschaften schreiten das Neckarufer ab, Hunde durchkämmen die Bö- schung. Einige Taucher begeben sich ins sechs Grad kalte Neckarwasser. Es ist ein beklemmender Einsatz. Im trüben Wasser tasten sich die Männer langsam vorwärts, fischen nach Fragmenten des Grauens. Die Sicht im Fluss beträgt zwanzig Zentimeter. Sie finden nicht, was dem Opfer fehlt. Suchen müssen jetzt andere.
In gekachelten Räumen machen sich die Pathologen ans Werk. Sie untersuchen den 40 Kilo schweren Torso, aber im wirklichen Leben ist es anders als bei Doktor Robert Kolmaar im Fernsehkrimi, der am sterilen Sektionstisch noch jedes Verbrechen geklärt hat. Beim Opfer vom Neckardamm kommen die Pathologen an ihre Grenzen. Der Mann ist schon seit Wochen tot. Wann genau der Unbekannte erstochen worden ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Nur so viel ist sicher: Arme, Beine und Kopf sind „unfachmännisch“ abgetrennt worden, wie das im Sprachgebrauch der Kolmaars heißt.
Vermutlich hat der Mörder eine Säge an den Knochen angesetzt. Darüber hinaus weist der Körper des Opfers noch zwei Narben auf. Die eine ist wenige Zentimeter lang am Unterbauch, die andere 15 Zentimeter lang und reicht vom Bauchnabel bis zum Schambein. Die ermittelnden Beamten überprüfen alle Vermisstenfälle, untersuchen Autos, die lange nicht bewegt worden sind, fragen in Pensionen und Sozialunterkünften nach Gästen, von denen es seit geraumer Zeit kein Lebenszeichen gibt.
Schließfächer am Bahnhof werden geöffnet, Zeugenaufrufe in Tageszeitungen und in der Fachzeitschrift für Binnenschiffer platziert. Die Beschreibung ist nebulös wie der Fall: „Vermutlich zwischen dem 30. Dezember 1998 und 1. Januar 1999 wurde bei der Zugangsrampe zum Münstersteg in Stuttgart der Torso eines erstochenen Mannes abgelegt, der in blaue Plastiksäcke eingepackt war. Beschreibung des Toten: 30 bis 50 Jahre alt, 170 bis 180 Zentimeter groß, weiße Hautfarbe.“ Viel mehr kann die Polizei nicht vorweisen. Es gibt nur noch einen mit Stickereien versehenen Bettbezug, in welchen der Torso eingewickelt war.
Die Fahnder geben Fotos an die Presse. Entscheidende Hinweise ergeben sich aus alledem nicht. Reinhold Pink und seine Kollegen versuchen es auf einem anderen Weg. Sie glauben nicht, dass ein krankhafter Triebtäter am Werk war, sondern vermuten, dass es sich bei dem Mordopfer um einen Kriminellen gehandelt haben könnte, dessen Identität nicht bekannt werden soll, weil der Täter selbst aus diesem Milieu kommt. Also durchleuchten sie ihre elektronische Datei.
Auf wen könnte die Beschreibung des Opfers passen? Am Ende hat die Kripo eine Liste mit 25 einschlägig Bekannten. Jeder Kandidat wird überprüft. Nummer zwanzig hält sich häufig im Remstal auf, in Althütte und auch in Uhlbach. Die Beamten hören sich um, und stellen fest, dass der Mann seit langer Zeit nicht aufgetaucht ist. Er heißt Rudolf Stohl, geboren am 12. Februar 1951, Kaufmann von Beruf, geschieden. Die Geschäfte scheinen nicht gut zu laufen. Sein Vorstrafenregister weist 32 Einträge auf: Erpressung, Betrug, Diebstahl, versuchte Vergewaltigung, illegale Einfuhr von Kokain.
Er ist in der Stuttgarter Altstadt als Drogenkurier bekannt, kauft für die Bosse der Unterwelt in Rotterdam ein. Ein Nebel von Gerüchten umgibt den Vermissten. Es heißt, er habe in die eigene Tasche gewirtschaftet. So was nehmen sie in der Unterwelt persönlich. Es könnte passen. Noch aber hat die Polizei nur einen leisen Verdacht und vom Toten das unverwechselbare Muster der menschlichen Erbsubstanz, die so genannte DNA.
Dieser persönliche Code wird in Teilen vererbt, weshalb die Fahnder zur Gegenprobe einen Verwandten des verschollenen Drogenkuriers suchen. Sie finden heraus, dass Stohl einen Sohn hat, der nach Berlin gezogen ist. Aber dort verliert sich die Spur vor einem schlichten Grab mit der Aufschrift: „In jedem Ende liegt ein neuer Anfang.“ Es scheint auch das Ende der Ermittlungen zu sein. Stohls Sohn hat sich 1995 in den Tod gestürzt. Die Leiche wurde eingeäschert. Ein Abgleich der genetischen Bausteine ist nicht mehr möglich. Mit kriminologischer Kärrnerarbeit kommen die Kripobeamten auf eine weitere Verwandte.
1980 ist Rudolf Stohl von der Polizei zu einem Vaterschaftstest begleitet worden, dem er sich widersetzt hatte. Er wurde damals der Vaterschaft überführt. Jetzt könnte die uneheliche Tochter bei der Typisierung helfen. Aber sie ist vor vielen Jahren zur Adoption freigegeben worden, wie sich aus Akten beim Jugendamt in Ludwigsburg ergibt. Die junge Frau lebt heute unweit von Köln.
Kripobeamte fühlen bei den Adoptiveltern vor. Wenig später erklärt sich die Tochter, die ihrem Vater nie begegnet ist, zu einer Speichelprobe bereit. Nach drei Tagen liegt ein unzweifelhafter Befund der Tübinger Gerichtsmedizin vor. Der Leichnam von Münster hat einen Namen: Rudolf Stohl.
Fünf Wochen sind seit dem grausigen Fund am Neckar vergangen, die Beamten haben seitdem hunderte von Überstunden gemacht und mehr als 430 Personen im ganzen Bundesgebiet überprüft. Und jetzt wissen sie erst, wer das Opfer ist. Vom Täter wissen sie noch nichts. „Ich habe damals geglaubt, dass wir ihn schnell kriegen, wenn es uns gelingt, das Opfer zu identifizieren“, sagt Reinhold Pink. Er sollte sich täuschen. Die Sonderkommission lässt nach der Identifizierung des Opfers nichts unversucht, vernimmt 73 Zeugen aus dem Milieu, darunter auch einen Drogenhändler aus der Olgastraße, der eine Freundin in Kolumbien hat. Bei ihm hat Stohl zeitweise gewohnt.
Es schärft sich das Bild. Wie es scheint, ist es Stohl früher besser gegangen. Es gibt Fotos vom Urlaub in Thailand, aber auch von Sexspielchen und Drogenorgien. Am Gesicht des Stuttgarters sind die Exzesse eines aufreibenden Lebens nicht spurlos vorbeigegangen. Zeugen sagen aus, dass er Rauschgift besorgt hat und Streit mit Drogenhändlern aus Albanien hatte. Aber das sind nur Gerüchte.
Sicher ist, dass Stohl am 17. Januar 1999 noch ein Telefonat geführt hat und zwei Tage später einen Verabredung hatte, die er nicht einhalten konnte. Daraus schließen die Ermittler, dass sie mit ihren ersten Vermutungen falsch lagen. Der Drogenkurier ist wahrscheinlich erst am 18. Januar getötet worden. Weitere Hinweise erhofft sich Kriminalhauptkommissar Pink von einer Auswertung der Handygespräche. „Wir haben leider keine Verbindungsdaten mehr bekommen“, sagt er. Sie werden nach wenigen Wochen gelöscht.
Begraben müssen die Fahnder auch eine andere Hoffnung. In Duisburg hat ein Mörder seinen Opfern die Gliedmaßen abgetrennt. Der Sägemörder, wie es in den Medien hieß, war jedoch nicht in Stuttgart unterwegs. Es gibt für die Kriminalbeamten keine Verbindung zwischen den Verbrechen. Was bleibt im Fall des Drogenkuriers Rudolf Stohl? Ein genetischer Fingerabdruck an den Müllsäcken, der vom Mörder stammen könnte. Vielleicht meldet die bundesweite DNA-Datei irgendwann einen Treffer, wenn sie gefüttert wird mit Informationen von anderen Tatorten.
Dann hätte nicht nur das Opfer einen Namen, sondern sehr wahrscheinlich auch der Täter. Die Suche nach der zerrissenen Wahrheit Der Fall Stohl – vor sechs Jahren ist am Neckardamm in Münster eine verstümmelte Leiche entdeckt worden Unterstützt von Staatsanwaltschaft und Kripo berichtet die Stuttgarter Zeitung in einer Serie über ungeklärte Mordfälle in der Region.
Die Autoren sichten Unterlagen, befragen Zeugen, sprechen mit Angehörigen. Alle Beiträge werden jeweils aktuell ins Internet gestellt, nachzulesen unter http://www.stuttgarter-zeitung.de/mordfaelle. Die Polizei hofft auf Hinweise. Diese werden von der Kripo in Stuttgart unter der Telefonnummer 07 11 / 89 90-63 33 rund um die Uhr entgegengenommen. Pate im Fall Stohl ist Reinhold Pink.