22. Mai 1962. Der homosexuelle Balletttänzer Hans Storck (65) wird von einem Stricher in seiner Wohnung in der Hegelstraße erstickt.
„Police criminelle“ sucht Bügeleisenmörder Der Fall Hans Storck – vor 43 Jahren ist ein Ballettmeister nachts in seiner Stuttgarter Wohnung umgebracht worden.
STUTTGART. Durch moderne Kriminaltechnik können immer mehr alte Mordfälle geklärt werden, die früher unlösbar schienen. Aber es gibt noch viel zu tun: In der Region sind seit Kriegsende 92 Morde ungesühnt. Mit diesen Verbrechen befasst sich die Stuttgarter Zeitung in einer Serie. Von Michael Ohnewald und Markus Heffner
Man weiß nicht viel von Hans Storck, und das bisschen, was von ihm geblieben ist, vergilbt im Keller des Stuttgarter Polizeipräsidiums. Dort ist Hans Storck noch jemand, greifbar als Fall mit Aktenzeichen, das einen rätselhaften Mord kennzeichnet, welcher Stuttgart vor 43 Jahren aufgeschreckt hat.
Der Fall Storck steht für ein bewegtes Leben auf großen Bühnen, und für den traurigen Abgang eines deutschen Ballettmeisters. Seine Leiche wird unter einem Berg von Kleidern gefunden, die eigentlich brennen sollen. Der Mörder will keine Spuren hinterlassen und legt ein heißes Bügeleisen zwischen Hosen und Hemden.
Aber die aufgeschichteten Kleider brennen nicht. Es ist der 22. Mai 1962, ein Dienstag.
Mitten in der Nacht wacht Axel Rumpf von Mansfeld auf. Er ist 13 Jahre alt und verbringt einige Tage bei seiner Großmutter in Stuttgart. Er hört einen Schrei. Dann ist Stille, und der Bub glaubt an einen Traum und schläft wieder ein. Aber diese Nacht sollte kurz sein für ihn.
Gegen 4.30 Uhr bemerkt die Zeitungsausträgerin Fanny Großhans Rauch in der Hegelstraße 22. Er kräuselt sich über dem Bett des Ballettmeisters Hans Storck, der als Untermieter in einer Separatwohnung lebt, die mit dem Hausflur verbunden ist. Fanny Großhans schreit hinauf zu den Hausbewohnern. Um 4.35 Uhr geht der Alarm bei der Feuerwehr ein. Noch ehe die Rettungskräfte am Ort des Geschehens eintreffen, bricht Rudi Wruck die Tür zum Zimmer des Ballettmeisters mit einem beherzten Schulterstoß auf.
Wruck lebt eigentlich in Hamburg, ist aber in diesen Tagen zu Besuch bei seiner Schwiegermutter, der Zimmerwirtin des Ballettmeisters Storck. „Auf dem Bett war ein Berg von Kleidern und drumherum brannten überall Kerzen in dem Raum“, erinnert sich der heute 83-Jährige. „Das war alles ganz mystisch.“ Auch der kleine Axel Rumpf von Mansfeld wacht durch den Lärm im Haus auf und schleicht sich in das Zimmer. Er ist heute 56 und lebt in Vaihingen an der Enz. „Diese Kerzen werde ich nie vergessen“, sagt er. Sie haben sich in sein Gedächtnis gebrannt, und erst Jahre danach hat er das alles im besten Wortsinn verarbeitet.
Als Künstler malt er 1980 ein Bild, das dem Ballettmeister Storck gewidmet ist. Es zeigt eine tragische Figur, umgeben von Sternen, die Kerzen symbolisieren. „Pas de deux“, hat der Künstler dieses Gemälde genannt. Auch Rudi Wruck hat die Bilder noch in seinem Kopf. Er sieht ein Zimmer vor sich mit einem Bett voll kokelnder Kleider. Als die Feuerwehr kommt, begreift er, was wirklich passiert ist.
Die Männer machen einen grausigen Fund. Der 64-jährige Ballettmeister liegt tot unter der Wäsche auf seiner Matratze. Es muss einen Kampf gegeben haben. Der Obduzent wird später in seinen Bericht schreiben: „Ihrer Art und Ausdehnung nach sind die Weichteilblutungen besonders an den verschiedenen Stellen des Kopfes für schlagende Einwirkungen typisch.“ Aber daran ist Hans Storck nicht gestorben. Der Mörder hat ihn erstickt und dann über der Leiche das heiße Bügeleisen zwischen Textilien versteckt.
Die Kriminalpolizei ist wenig später am Tatort. Die Beamten suchen rund um das Bett des Ballettmeisters nach dem zugedeckten Teil der Wahrheit. Der Abend, so viel ist klar, scheint für Storck nicht schlecht angefangen zu haben. Auf dem Tisch stehen zwei Weingläser, davor eine leere Flasche Beaujolais 1959. Auf dem Etikett finden sich Fingerabdrücke, die nicht vom Opfer stammen. Für die Fahnder ist das ein Ansatz. Wie sich herausstellt, fehlt Storcks auffallend heller Popelinemantel, Größe 44, mit Rückengurt und Ziernähten an Kragen und Revers und hellgrünem Seidenfutter mit silbergrauen Längsstreifen. Auch der Geldbeutel und der Schlüssel sind verschwunden.
Auf der Suche nach dem Mörder tut die Polizei, was sie immer tut: Sie leuchtet das Leben des Opfers aus. Hans Storck stammt aus Magdeburg. Die Geburtsurkunde, ausgestellt am 11. August 1897, führt ihn als Hans Ewald Storch. Er wird Tänzer, arbeitet im Magdeburger Wilhelmstheater, auch beim Circus Busch in Berlin.
Vielleicht hat er sich in dieser Zeit als Künstler einen neuen Namen zugelegt. Ein Tänzer namens Storch, das animiert Kritiker zu Wortspielen. Von 1925 bis 1926 gastiert er als Solotänzer in den Staatstheatern von Stuttgart. 3600 Mark bekommt er für das Jahr als Gage, aber er versteht sich nicht mit der ihm vorgesetzten Tanzmeisterin Walcher und wechselt nach Zürich.
Das Stuttgarter „Neue Tagblatt“ schreibt am 28. April 1926: „Es ist bedauerlich, dass es nicht gelungen ist, dieses tüchtige Talent der hiesigen Bühne zu erhalten.“ In Zürich wird Storck später als Ballettmeister gefeiert. 1938 zieht es den Bühnenstar nach Görlitz. In den Kriegsjahren heiratet er Ella, eine Tänzerin aus Magdeburg. Als der Eiserne Vorhang fällt, sieht es schlecht aus für den Ballettmeister, der sich nicht hineinzwängen mag in die neuen Grenzen. Es kommt zu Konflikten. Storck wird in der sowjetischen Besatzungszone der Boykotthetze und der Abwerbung einer Tänzerin beschuldigt und sitzt vom 4. November 1955 bis 11. Februar 1956 im Gefängnis.
Kaum ist er draußen, flieht der Magdeburger in den Westen. Er kommt zurück nach Stuttgart zu Freunden aus besseren Tagen. Es geht ihm schlecht. Von Zeit zu Zeit gewährt ihm die Deutsche Künstlerhilfe ein wenig Geld. In der Landeshauptstadt fühlt sich der mittlerweile verwitwete Grenzgänger zu Männern hingezogen. Gelegentlich erwischt ihn die Polizei mit jungen Burschen, was in dieser Zeit strafrechtlich verfolgt wird. Verkehr unter Gleichgeschlechtlichen ist nach dem Gesetz verboten.
Storck tritt polizeilich in Erscheinung, wie das im Jargon der Ermittler heißt – 1959 wegen Unzucht mit Strichjungen, drei Jahre später wegen Zechbetrugs. Der betagte Ballettmeister versucht sich so gut es geht über Wasser zu halten. Zuletzt arbeitet er in einem Stuttgarter Nachtlokal, dem Savoy in der Stephanstraße. Er soll dort ungelenken Damen das Tanzen beibringen. Der Meister macht diesen Job nicht lange, nur vom 1. April bis 20. Mai 1962. Dann wird ihm gekündigt.
Zwei Tage vor dem Verbrechen, das als Bügeleisenmord in die Annalen der Stuttgarter Kriminalpolizei eingeht. Die Fahnder tun sich schwer mit dem Fall. Nach arbeitsreichen Tagen verfliegt langsam die „Wir werden ihn kriegen“-Euphorie. Immerhin haben sie vor Augen, was am Tag vor dem Mord geschehen ist. Storck verlässt gegen Mittag das Haus.
Er besucht einen Uhrmacher, sitzt von 17 Uhr bis 18.45 Uhr im Café Orient am Hindenburgbau und kommt gegen 21 Uhr in die Schnellgaststätte Picnic in der Fritz-Elsas-Straße. „Dort ist er seinem Mörder begegnet“, sagt Kriminalhauptkommissar Hans-Peter Schühlen, der sich bis heute um den Altfall kümmert.
Es gibt eine Zeugin, die beide Männer beim Biertrinken beobachtet hat und den mutmaßlichen Mörder beschreiben kann: 23 bis 28 Jahre alt, 1,75 bis 1,80 Meter groß, schlank, breitschultrig, dunkles gewelltes Haar, südländischer Typ. Er soll deutsch und französisch gesprochen haben. Den Unbekannten nimmt Storck gegen 23.35 Uhr mit aufs Zimmer. Der Vermieter beobachtet den Ballettmeister vom Fenster aus. Er ist der Letzte, der ihn lebend sieht. Storck und sein junger Gast trinken ein Gläschen. Dann kommt es zum Streit, wahrscheinlich ist es um den Preis für den Liebesdienst gegangen. Das kostet Hans Storck das Leben.
Die Kriminalpolizei dehnt die Ermittlungen aus, hört sich auch in Schwulenbars um. Für Hinweise setzen die Staatsanwaltschaft und die Stadt Stuttgart eine Belohnung von 2000 Mark aus. Darüber hinaus werden Firmen, die Gastarbeiter beschäftigen, ersucht, „alle in den letzten Tagen der Arbeit Ferngebliebenen zu melden“.
Am 30. Mai 1962 gehen die Beamten noch einen Schritt weiter und veröffentlichen einen Zeugenaufruf in drei Sprachen. „Im Mordfall Storck bittet die Stuttgarter Kriminalpolizei die Bevölkerung noch einmal dringend um Unterstützung“, heißt es in dem Aufruf. „Es wird gebeten, diese Veröffentlichung vor allem Gastarbeitern durch Aushang oder Anschlag bekannt zu machen. Wir bringen sie daher auch in französischer und italienischer Sprache.“
Auch das hilft nicht weiter. Resonanz bekommen die Kommissare lediglich von polyglotten Lesern der Stuttgarter Zeitung, die sich über das miserable Französisch und das noch schlechtere Italienisch ärgern und der „police criminelle“ ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Trotz des enormen Fahndungsaufwands ist die Akte Storck nicht geschlossen.
Die meisten Zeugen sind verstorben, die Lokale, in denen sich der Künstler aufgehalten hat, längst von der Bildfläche verschwunden und Beweisstücke aus der Wohnung vernichtet.
Kriminalhauptkommissar Schühlen schöpft dennoch Trost aus der Zuversicht. Neulich hat er Fingerabdrücke, die sich am noch vorhandenen Etikett der im Zimmer des Ballettmeisters sichergestellten Weinflasche fanden, in eine bundesweite Datei eingespeist. Das so genannte automatisierte Fingerabdruckidentifizierungssystem, kurz AFIS, gibt es erst seit 1998.
Bisher hat der Datenabgleich keine neuen Hinweise gebracht. Der Fahnder hat den Storck-Akten einen festen Platz zugewiesen. Sie stehen im Keller des Polizeipräsidiums, und wenn er seine silberne Taschenlampe anknipst, dann fällt Licht auf den Mordfall, das schwächer wird mit jedem Jahr, aber noch immer flackert. „Ein Mord“, sagt Schühlen, „verjährt nicht.“