Anderthalb Jahrzehnte lang galt Augsburgs städtische Kriminalpolizei als nahezu legendär: Mord und Totschlag klärte sie "im Durchschnitt binnen drei oder vier Tagen auf", so Kripochef Oberamtsrat Georg Bär, 55. "Einmal brauchten wir elf Tage, das war unser Negativ-Rekord."
Aber am Abend des 23. Mai 1966 kletterte unweit vom örtlichen Bahnhof die Prostituierte Hedwig (Berufsname: "Heidi") Saschnew, 39, in das Auto des US-Sergeanten Leonhard Patrick Constantine. In derselben Nacht begann eine Serie bisher nicht aufgeklärter Mordfälle. Am folgenden Nachmittag wurde die Beifahrerin erwürgt auf einer Wiese gefunden. Constantine, der bereits 1963 eine Dirne überfallen und 1964 eine andere hart bedroht hatte, sagte gar nichts; der Staatsanwaltschaft reichten die Indizien gegen ihn für eine Anklage nicht aus.
Noch tröstete sich Kripo-Chef Bar "Für uns war der Amerikaner einwandfrei der Mörder"), da öffnete gegen alle ihre Gewohnheiten am Abend des 30. August 1966 die städtische Angestellte Anneliese Ayerle, 41, einem Mann ihre Wohnungstür. Sie starb. sich heftig wehrend, durch ein Holzscheit, das gegen ihre Kehle gepreßt wurde; hinterher fehlten rund 200 Mark und ein goldenes Halskettchen.
Georg Bär, der weder sexuelle noch Raubmotive ausschließt: "Ein absolut rätselhafter Fall." Rätselhaft blieb auch der Tod der Witwe Berta Kundis, 71, die am Abend des 9. September 1967 auf dem Nachhauseweg überfallen und am nächsten Morgen in einem Hinterhof gefunden wurde: erdrosselt mit ihrem eigenen rechten Strumpf. Ihre Handtasche fehlte. Aber, so Bär: "Auch hier ist ein sexuelles Motiv nicht auszuschließen."
Eindeutig war dagegen das Motiv für den Mord an der Witwe Franziska Schöffel, 68, die am 22. Mal 1968 in ihrer Wohnung erdrosselt wurde. Die Beute der Mörder: 8000 bis 10 000 Mark in bar sowie eine verschlossene Kassette unbekannten Inhalts, die später in einem Eisenbahnwaggon gefunden wurde.
Augsburgs Kriminalpolizei, die in den vier Delikten keinerlei Gemeinsamkeiten zu entdecken vermochte, forderte vom Bayerischen Landeskriminalamt ein Gutachten nach dem anderen an. Unterstützung erhielt sie außerdem von der Kriminalabteilung der Landpolizeidirektion Schwaben, bei der bis dahin nur ein einziges Verbrechen wider das Leben unaufgeklärt geblieben war: Am 1. März 1983 hatte sich ein Unbekannter Im Einfamilienhaus der Witwe Klara Amann, 77, auf die Besitzerin geworfen und sie mit den Fäusten erschlagen.
Klara Amann war 400 Meter jenseits der Augsburger Stadtgrenze ums Leben gekommen und so in die Kompetenz der Landpolizei geraten. Anneliese Schütz, 34, starb, mit einem Strumpf erdrosselt, am 22. September 1968 zweieinhalb Kilometer vom Stadtrand entfernt in einem Wäldchen, das dem Fürsten Fugger gehört. Sie war, im Gefolge einer US-Einheit, aus München nach Augsburg gereist. Ein Spaziergänger sah ihre Beine aus einem Kanalrohr hängen. Die Landpolizei prüfte 83 Spuren, vergebens.
Die siebte Frauenleiche wurde wiederum von der Stadtpolizei gefunden: Am frühen Morgen des 17. Dezember 1968 stieg ein Mann in das ebenerdige Küchenfenster der Rentnerin Hildegard Degenhart, 74, ergriff eine Schneiderschere und durchbohrte damit der Im Bett liegenden Frau das Stirnbein. Georg Bär: "Uns gab zu denken, daß der Täter das Federbett, mit dem sie zugedeckt war, hoch über Ihren Kopf schob; unten war alles frei."
Fünf Monate später, am 14. Mai 1969, verließ in aller Frühe die Schwesternschülerin Elisabeth Vopper, 20, das Kinderkrankenhaus Josefinum, um einen Spaziergang zu machen. Das unberührte Mädchen, dessen einzige Leidenschaft das Wandern war, kam gegen sieben Uhr in einem beliebten Ausflugswäldchen an. 500 Meter jenseits der Stadtgrenze stand ein Mann mit einem blauen Fahrrad, der durch ein Fernglas in Richtung Augsburg blickte.
Um elf wurde die Leiche in einem Gebüsch entdeckt. Der Täter hatte Elisabeth Vopper bis auf eine Strickjacke entkleidet, ihre Halsschlagader durchstochen und sie erwürgt, sich aber nicht an ihr vergangen.
Kriminalrat Hans Bayerl, 51, Chef der Land-Kripo: "Diesmal waren wir wirklich zuversichtlich." 28 Personen hatten den mutmaßlichen Mörder wahrgenommen, 15 konnten eine klare Personenbeschreibung liefern. Und: Jemand, der zu so früher Stunde mit einem Rad unterwegs war, mußte irgendwo in der Umgebung wohnen.
Lautsprecherwagen durchfuhren einen Kreis mit einem Radius von 25 Kilometern und dröhnten: "Wer kennt den Mann mit dem blauen Fahrrad?" 3000 Plakate mit einem Phantom-Porträt des Täters wurden angeschlagen, Tausende von Handzetteln in sechs verschiedenen Sprachen überall da verteilt, wo Gastarbeiter werkten oder verkehrten. Die Bevölkerung, entsetzt über den Mord an dem anmutigen Mädchen, lieferte insgesamt 1200 Hinweise. Als alle durchgeprüft waren, blieb der Polizei nur eine Erkenntnis: daß es viel mehr blaue Fahrräder gibt, als die Beamten angenommen hatten.
Am 19. September 1969 wurde die Tabakwarenhändlerin Maria Ganser, 76, In Ihrem Wohnzimmer mit den Händen erwürgt; die Beute kann nicht groß gewesen sein. Und am 31. Oktober registrierte die Polizei die sehnte Frauenleiche: Die ledige Albertine Schall, 82, starb daheim durch 18 Messerstiche es verschwand Ihre Handlasche. 122 Personen wurden überprüft -- ergebnislos.
Längst schon hatten Stadt- und Landpolizei eine gemeinsame Sonderkommission gebildet, die, mit einem Kader von sieben Spezialisten, mitunter bis auf siebzig Mann verstärkt wurde. Doch nach welchen Gesichtspunkten die Experten auch immer recherchierten, sie griffen ins Leere.
"Wir haben", so Oberamtsrat Bär, "uns die Stunden, die Tage, die Monate, die Jahreszeiten, die Wetterlagen, die Tatorte und Dutzende von anderen Momenten überlegt. Aber jeweils ein Merkmal. das wir festhielten, trifft kaum auf mehr als zwei der Opfer zu."
Die Alibis von 4500 Personen wurden überprüft, 40 000 Fingerabdruckblätter mit gesicherten Spuren verglichen -- bei zehn bis zwölf Minuten Zeitaufwand pro Stück. Derzeit prüft das Landeskriminalamt weitere 150 000 Fingerabdrücke.
Doch außer der einzigen absoluten Gewißheit, daß es sich bei den Umgebrachten ausschließlich um Frauen handelt, läßt sich der Augsburger Serie allenfalls noch entnehmen, daß der elfte Mord bald fällig ist. Doch vor diesem Schluß werden selbst die Kripochefs Bär und Bayerl abergläubisch: "Um Gottes willen, so was darf man doch nicht bereden."
Elisabeth wurde vermutlich in diesem kleinen Wäldchen ein reines Zufallsopfer, weil sie den persönlichen Eindruck hatte, dass ihr an jenem Ort nichts negatives passieren könnte...
Jemand, der zu so früher Stunde mit seinem Rad unterwegs war, müsste doch irgendwo in der Umgebung seinen Ankerpunkt haben...
Der ersteht nicht plötzlich wie Phönix aus seiner Asche...