Er wollte zu einem Kinderfest auf dem Alexanderplatz Drei Jahre ist Marcel Hermeking verschwunden - Ungeklärte Verbrechen
Von Matthias Bieder
Michael Kalmutzke lebt noch immer in der selben Wohnung in der Kleinen Rosenthaler Straße in Mitte, in der ihn die Polizei am 25. Oktober 1997 festgenommen hatte. Der 39-Jährige reagiert ganz ruhig, als er auf die Geschehnisse angesprochen wird, die nun rund drei Jahre zurückliegen. "Nein, von der Polizei habe ich seit langem nichts mehr gehört. Und den Jungen hat man ja auch nie gefunden", betont er. Kalmutzke spricht von Marcel Hermeking. Ein 10-jähriger Junge aus Prenzlauer Berg, der seit September 1997 vermisst wird und von dem die Polizei glaubt, dass er ermordet wurde. Unter dringendem Tatverdacht stand damals Michael Kalmutzke.
Rückblick: Es ist der Nachmittag des 21. September 1997 - der Weltkindertag. Marcel Hermeking verabschiedet sich von seiner Mutter Christa und seinen Geschwistern, er will zu einem Kinderfest auf dem Alexanderplatz. Er bekommt von der Mutter noch ein paar Mark für Süßigkeiten in die Hand gedrückt und fährt schließlich mit der U-Bahn die zwei Stationen bis zum Alex. Gegen 17 Uhr kommt Marcel dort an. Augenzeugen beschreiben ihn später als einen frechen Jungen, der sich auffällig verhielt, weil er grundlos Fahrgäste beschimpfte. Danach verliert sich seine Spur.
Mit viel Aufwand sucht die Berliner Polizei über einen Monat nach dem schmächtigen Kind. Fotos werden veröffentlicht, sogar eine "Sonderkommission Marcel" wird gegründet. Weil die Ermittler schon früh Schlimmeres befürchten als nur einen 10-Jährigen auf Trebe. Denn schon vor dem Verschwinden von Marcel Hermeking hatte die Berliner Polizei nach mehreren vermissten Jungen gefahndet, die nicht dem typischen Bild eines Ausreißers entsprachen. Zwei von ihnen, der achtjährige Daniel Beyer und der 13-jährige Stefan Lamprecht, waren schließlich ermordet aufgefunden worden. Und Marcel kam nicht nur aus der direkten Nachbarschaft des ermordeten Daniel Beyer, er ging mit ihm sogar auf dieselbe Schule und sah ihm sehr ähnlich. Die Polizei schloss nicht mehr aus, dass vielleicht ein Serienmörder die Kinder auf dem Gewissen haben könnte.
Doch die Ermittlungen führen ins Leere. Bis zum 25.Oktober, als gegen den als pädophil bekannten Michael Kalmutzke aus Mitte ein Haftbefehl wegen sexuellen Missbrauchs eines Jungen vollstreckt wird. Für die Ermittler ist der gelernte Elektriker, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, kein Unbekannter. Bereits früher war er auffällig geworden - wegen Nacktfotos, die er von Jungen gemacht hatte. Diesmal finden die Beamten in Kalmutzkes Wohnung über 1000 Fotos von Jungen in eindeutigen Posen. Den Kindern, die er meist auf Spielplätzen oder auf der Straße angesprochen hatte, zahlte er kleine Taschengelder, damit sie sich von ihm fotografieren ließen. Während der weiteren Ermittlungen werden weitere Missbrauchstaten bekannt. Und Kalmutzke gibt schließlich sogar zu, Marcel Hermeking zu kennen. Er will ihn sogar am 21. September auf dem Alex getroffen haben.
Die "Soko Marcel" lässt daraufhin über 900 Wohnungen, Häuser, Dachböden, Grünanlagen, Gewässer und andere Orte in Berlin und im Umland nach dem verschwundenen Jungen absuchen. Bei den stundenlangen Vernehmungen von Kalmutzke sowie von Bekannten und Freunden des Tatverdächtigen stoßen die Ermittler auf ein ganzes Netzwerk von Männern mit ähnlichen sexuellen Vorlieben wie Michael Kalmutzke. Immer mehr verdichten sich die Hinweise auf ihn als mutmaßlichen Mörder von Marcel Hermeking. Der Haftbefehl wird auf den Tatbestand des Mordes erweitert - obwohl es kein Geständnis und keine Leiche gibt.
Schließlich verstrickt sich der Pädophile in Widersprüche, spricht sogar in der dritten Person von dem "Täter, der den Jungen nicht umbringen wollte", der den "Unglücksfall bedauert" und der die Leiche in einem Waldstück bei Strausberg verscharrt hatte. "Nicht in Wasser, damit der Junge nicht friert," sagt er in einem der vielen Gespräche mit den Ermittlern der Mordkommision. Kalmutzke gibt der Polizei sogar eine genaue Wegbeschreibung, erklärt sich auch bereit, die Beamten zu der Stelle führen, wo die Leiche liegen soll. Doch als er schließlich mit den Kripoleuten im Wald steht, will ihm nicht mehr einfallen, wo der "Mörder" den Jungen vergraben hatte. "Wir glaubten mehrfach, Herr Kalmutzke sei kurz davor zu gestehen. Doch dann brach er in sich zusammen und redete nur noch wirres Zeug", sagte einer der Ermittler damals verzweifelt.
Letztendlich kommt Michael Kalmutzke im Juli 1998 auf freien Fuß, nach neun Monaten Untersuchungshaft. Er war zwischenzeitlich zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden - wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in insgesamt 16 Fällen. Des Verschwinden von Marcel Hermeking war jedoch nie Inhalt einer Anklage. Doch damit hielten sich Polizei und Staatsanwaltschaft nur eine Hintertür offen. Denn wäre Michael Kalmutzke aufgrund der fehlenden Leiche in einem Prozess freigesprochen worden, hätte er wegen des Falls Hermeking nie wieder angeklagt werden können. Somit ist weiterhin alles offen. "Im Moment kann man nicht viel machen," so ein Ermittler. "Aber wir bleiben weiter dran."
Jeden Tag verschwinden Menschen in Berlin. Die meisten sind schnell wiedergefunden. Doch manche sind seit Monaten oder Jahren verschollen. Der Tagesspiegel stellt täglich einen vor.
Der 21. September 1997 sollte in Berlin den Kindern gehören. Auf dem Alexanderplatz feierten sie ein Fest anlässlich des Weltkindertages. Auch der 10-jährige Marcel Hermeking wollte sich das nicht entgehen lassen. Also machte sich Marcel von zu Hause in der Gaudystraße in Prenzlauer Berg auf. Gegen 17 Uhr verließ er die U-Bahn am Alex. Es ist es das letzte Mal, dass der Junge lebend gesehen wurde.
Wochenlang suchte die Polizei nach dem Vermissten. Die Mordkommission übernahm den Fall und bildete eine Sonderkommission. Tatsächlich schien es zunächst, dass der Junge einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.
Am 25. Oktober glaubten die Fahnder den Fall gelöst zu haben: In einer Wohnung in der Rosenthaler Straße nahmen sie den arbeitslosen Elektriker Michael K. fest. Der Mann gab zwar zu, Marcel gekannt zu haben, bestritt aber, dem Kind etwas getan zu haben.
Die Ermittler glaubten ihm nicht, zumal sie in seiner Wohnung Nacktbilder von Kindern fanden. Immer wieder, so stellte sich heraus, hatte Michael K. Kinder mit zu sich nach Hause genommen, um sie zu fotografieren.
Im Juli 1998 wurde der Mann dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Doch der Verdacht, Michael K. könnte Marcel Hermeking ermordet haben, erhärtete sich nicht. Die bereits aufgelöste "SoKo Marcel" wurde erneut gebildet, die Ermittlungen gingen weiter - bis heute ohne Ergebnis.
Zusammenhänge zwischen vermissten und ermordeten Berliner Jungen
Von Dirk Banse und Michael Behrendt
Manuel Schadwald, Marcel Hermeking, Stefan Lamprecht und Daniel Beyer - immer noch verschwundene beziehungsweise ermordete Berliner Jungen. Nach Recherchen der Berliner Morgenpost weisen die Fälle erstaunliche Verbindungen auf.
Am 10. November 1997 veröffentlichte die Berliner Morgenpost einen Artikel, der sich mit Fällen vermisster beziehungsweise ermordeter Kinder befasste. Die damalige Vermutung: Berliner Kinder sind Opfer einer international operierenden Kinderhändlerbande geworden. Dieser Verdacht hat sich mittlerweile verdichtet.
Rückblick: 1993 verschwindet der damals 12-jährige Manuel Schadwald auf dem Weg ins Freizeit- und Erholungszentrum an der Wuhlheide in Köpenick. Es gibt inzwischen zahlreiche Hinweise, dass der Junge in einem niederländischen Kinderbordell missbraucht wurde. Ein Belgier namens Robby van der Plancken hatte 1998 in Amsterdam der Morgenpost versichert: «Ich war dabei, als Manuel Schadwald im Juli 1993 aus dem Lokal Pinocchio in Schöneberg mit in die Niederlande genommen wurde. Dort wurde er in den Bordellen von Rotterdam und Amsterdam missbraucht.
In diesem Lokal Pinocchio arbeitete auch Jens A., der zusammen mit einem Komplizen 1994 den damals 8-jährigen Daniel Beyer aus Prenzlauer Berg missbraucht hatte. Der Komplize hatte in seinem Beisein den Jungen anschließend erwürgt. Jens A. wurde 1998 gefasst und ein Jahr später wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Der Morgenpost wurde eine eidesstattliche Versicherung aus dem Gefängnis zugespielt, in der Jens A. erklärt, Manuel Schadwald in der Gaststätte Pinocchio gesehen zu haben. Ihm seien Zeitungsfotos von Schadwald gezeigt worden, auf denen er den Jungen wiedererkannte.
Der Mord an dem damals 13-jährigen Stefan Lamprecht ist bis heute nicht aufgeklärt. Die Leiche des Jungen wurde im August 1995 auf einer Müllkippe in Mittenwalde gefunden. Der Kieler war einige Tage zuvor bei einem Besuch seines Vaters in Berlin verschwunden.
Für diesen Fall interessiert sich jetzt auch der ehemalige Verbindungsoffizier zwischen dem früheren sowjetischen Geheimdienst KGB und dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, Wanja Götz. «Ich befasse mich deshal mit dem Fall, weil ich der festen Überzeugung bin, dass jene Täter, die an der Verschleppung Manuel Schadwalds beteiligt waren, auch für die Ermordung von Stefan Lamprecht verantwortlich sind. In beiden Fällen spielen geheimdienstliche Interessen eine große Rolle. Es gibt Erkenntnisse, wonach sowohl Manuel Schadwald als auch Stefan Lamprecht von einflussreichen Persönlichkeiten missbraucht worden sind. Entsprechendes Fotomaterial wurde dann zur Erpressung genutzt.»
Nach Aussagen der Familie des ermordeten Lamprecht hatte sich der Junge in seiner Heimatstadt ein halbes Jahr vor dem Mord verändert. Seine Stiefschwester Nancy: «Er schlitzte plötzlich seine Kuscheltiere auf und klebte Totenköpfe an die Wand.»
Der Fall Marcel Hermeking: Am 21. September 1997 verschwand der damals 10-Jährige aus der Gaudystraße in Prenzlauer Berg auf dem Weg zum Weltkinderfest am Alexanderplatz. Die Polizei hatte bereits kurz nach dem Verschwinden des Jungen geglaubt, den Mörder gefunden zu haben: Der Elektriker Michael K. sollte nach Überzeugung der Ermittler den Jungen missbraucht und getötet haben. Die Kripo musste den Mann allerdings wieder laufen lassen, weil sich der Verdacht nicht erhärten ließ und auch keine Leiche gefunden wurde. Im Zuge der Recherchen zum Fall Schadwald ergab sich eine Spur zu einem Berliner Kinderhändler, der eidesstattlich versicherte, von dem Verkauf Berliner Kinder in Bordelle in Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen zu wissen. Dieser Mann lebte nach eigenen Angaben im selben Haus an der Gaudystraße wie Marcel Hermeking. Das teilte die Morgenpost der damals ermittelnden 3. Mordkommission mit, doch der Mann konnte abtauchen. Marcel Hermeking könnte also auch in die Hände dieser Kinderfänger geraten sein. Die Mordkommission hingegen erklärte zu dem Hinweis damals, es könne auch Zufall sein, dass der Kinderhändler im selben Haus wie der vermisste Jungen gewohnt hat.