Vermisstensuche zwischen Hilflosigkeit, Angst und Zorn
Vor zehn Jahren ist Natascha Kampusch wieder aufgetaucht. Davor galt sie als vermisst. Auch aktuell gelten in Österreich 1200 Menschen als abgängig. Auch wenn sich die meisten Fälle meist rasch als harmlos herausstellen. Von verschwundenen Kindern auf dem Stephansplatz, neuen Ermittlungsansätzen dank Facebook-Detektiven und der quälenden Ungewissheit der Hinterbliebenen.
20.08.2016 | 18:04 | von Christine Imlinger (Die Presse)
Christian Mader erzählt Geschichten, die hielte man, würde man sie in einer der beliebigen US-Ermittlerserien sehen, für plump und unglaubwürdig halten. Da ist zum Beispiel der Fall Lisa. An einem Junitag des Jahres 1990 geht ein Vater mit seiner Zweijährigen zum Stephansplatz, er will ihr Pantomime zeigen, in einer Menge vor Straßenmusikanten bleiben sie stehen. Für einen Moment löst die Kleine ihre Hand um ihre Nase zu kratzen. Jemand greift nach dem Mädchen, zieht es weg. Schockstarr bleibt es stumm. Als sich der Vater umdreht, ist es weg. Er sucht, wendet sich schließlich verzweifelt an die Polizei, die Fahndung läuft an: großräumige Suche, Befragungen, Abfragen in Krankenhäusern, Suche via Interpol, über Medien usw.
Mader leitet damals die Ermittlungen – und am nächsten Morgen bereitet er sich schon auf die Meldung, man habe das Kleinkind tot gefunden, vor. Er stellt sich darauf ein, den Vater in die Leichenhalle führen zu müssen. Wird ein Kind länger als 24 Stunden vermisst, stehen die Chancen, es lebend zu finden, schlecht – man kennt das ja aus Fernsehserien. Die Wende, die die Geschichte nahm, würde man dort, im TV, für reichlich platt halten: Ein Psychiater, er hatte die Suchmeldung in der „ZiB“ gesehen, besucht eine Patientin, trifft ein Kleinkind an. Die stark verwirrte alte Frau sagt, es sei ihre Enkelin, sie habe sich um sie kümmern müssen.
Ein Horror, der ausblieb. Es ist eine jener Geschichten, wie alle, die mit Kindern zu tun haben, die dem Ermittler am meisten in Erinnerung geblieben sind. Er war von 1990 bis 1998 Leiter der Abgängigenfahndung im Wiener Sicherheitsbüro. Auch der Fall Kampusch hat einst mit einer Abgängigkeitsanzeige auf seinem Schreibtisch angefangen. Am Dienstag jährt sich die Flucht von Natascha Kampusch zum zehnten Mal.
Mittlerweile ist Mader im Bundeskriminalamt für Suchtmittelkriminalität oder Ermittlungen im Darknet zuständig – Vermisstenfälle sind trotzdem sein großes Thema: Als Buchautor („Vermisst“ im Verlag Amalthea) oder als Gründer des Vereins Österreich findet euch, bei dem Abgängige via Internet gesucht werden. Schließlich werden in Österreich jedes Jahr im Schnitt etwa 8000-mal Menschen als abgängig gemeldet – voriges Jahre waren es genau 7920 Abspeicherungen im Polizeiinfosystem Ekis. Das entspricht rund 22 vermissten Menschen pro Tag – dies klingt allerdings dramatischer, als es ist. Denn die Zahl beinhaltet etwa auch jugendliche Ausreißer, die schnell wieder auftauchen. Bei 80 Prozent der Anzeigen, die Kinder und Jugendliche betreffen, geht es um „Mehrfachabgängige“ aus Jugendeinrichtungen.
Verbrechen im Promillebereich. Jedenfalls, 80 Prozent der Abgängigkeitsmeldungen können schnell widerrufen werden. Rund zehn Vermisste werden im Schnitt pro Monat tot aufgefunden, die meisten davon Unfallopfer. „Der Anteil ,echter‘ Verbrechen wie Entführung oder Mord bewegt sich im Promillebereich“, sagt Mader. Ein Großteil sind Unfallopfer: Bergsteiger oder Badende, die vor einer Suche vermisst gemeldet werden. Es geht um verwirrte oder ältere Menschen, die sich verirren oder stürzen. Und vereinzelt handelt es sich um Suizid. Auch bei Vermissten, die nicht auftauchen, gebe es meist eine Einschätzung, was passiert sein könnte. Die Aufklärungsquote ist jedenfalls hoch: 95Prozent der Fahndungsfälle aus 2015 sind geklärt. Die Quote steigt vermutlich noch: Aus 2014 sind heute 98 Prozent abgeschlossen.
In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Fahndungen aber sprunghaft gestiegen: 1200 Menschen werden aktuell gesucht – eine Zahl, die stündlich schwankt. Der jüngste Anstieg liegt an den Flüchtlingen: Unbegleitete Minderjährige werden abgängig gemeldet, wenn sie aus Unterkünften verschwinden. 80 Prozent der abgängigen Nicht-EU-Bürger in Österreich sind jünger als 18 Jahre – und tauchen oft nie wieder auf: Vermutlich reisen viele ins Ausland, oder ihre Wege sind aus anderen Gründen nicht mehr nachvollziehbar.
Anders, als in vielen anderen Ländern gilt in Österreich aber derzeit kein einziges Kind als „bedenklich abgängig“ – in keinem Fall wird also hinter einem Verschwinden ein Verbrechen vermutet. Auch in den aktuellen Fällen abgängiger Kinder gehen Ermittler davon aus, dass es sich um Kindesentzug durch nicht erziehungsberechtigte Väter handelt (siehe Bilderleiste rechts).Eine Minderjährige, die via Polizeifahndungsseite gesucht wird, ist die heute 16-jährige Deutsche Maria-Brigitte Henselmann, die seit 2013 mit einem älteren Mann unterwegs sein dürfte. Verbrechen eines Maßstabs der Fälle Natascha Kampusch oder Julia Kührer gibt es in Österreich aber seit Längerem nicht.
Nach diesen Fällen wurde die Arbeit in dem Bereich auch intensiviert: Im Kompetenzzentrum für abgängige Personen kümmern sich Beamte ausschließlich um Vermisste – und um Prävention, etwa in Heimen. Im Bundeskriminalamt spricht man von einer „derzeit guten Situation“. Auch wenn man nie ausschließen kann, dass hinter einer scheinbaren Standardabgängigkeit ein entsetzliches Verbrechen steckt – man denke an den Fall Fritzl.
Für die Familien sind freilich auch „gewöhnliche“ Abgängigkeiten grauenvoll. Christian Mader hat sich die Suche nach Vermissten auch deshalb zu einer Art Lebensaufgabe gemacht: Vorigen Herbst hat er den Verein Österreich findet euch gegründet. Über zwei Plattformen läuft nun die Suche: Auf abgaengig-vermisst.at suchen Besatzungskinder nach Angehörigen, via oesterreichfindeteuch.at läuft die Suche nach Vermissten.
Angehörige können sich dazu an den Verein wenden, Mader prüft die Informationen, auch durch seinen Draht zu Ermittlern, unterstützt bei der Suche, stellt Kontakte her, bittet die Online-Community um Mithilfe. „Ermittlungen sind Sache der Polizei, aber wir können Hinweise liefern“, sagt er. Die Zeit, die Polizisten mitunter fehlt, kann er sich nehmen – und bei langen Gesprächen mit Angehörigen würden sich mitunter Hinweise ergeben: zum Beispiel, dass jemand vor Monaten eine größere Summe abgehoben oder immer von einem bestimmten Ort geredet hat.
Wie Facebook-Detektive helfen. Hinweise kommen aber auch über Facebook: „Ich bin angenehm überrascht, wie die Community mitlebt“, sagt Mader – die Aufrufe erreichen zum Teil Zigtausende Menschen. Überwiegend seien es Frauen, wie immer bei Vermisstenfällen, Hobbydetektive oder Leute aus dem Umfeld der Betroffenen. „Im Fall von Walther H., der vor Kurzem gefunden wurde, konnten wir massiv mithelfen.“ Der 70-Jährige war seit Mai 2015 abgängig, seine Leiche wurde, vergraben in einem Waldstück, am Zirbitzkogel in der Steiermark gefunden. Dass schließlich zwei Tatverdächtige verhaftet wurden, sei auch den Hinweisen aus der Community und dem Verein zu verdanken.
Auch in einem zweiten mysteriösen Fall hofft Mader auf hilfreiche Hinweise: Zwei junge Männer aus Zwettl an der Rodl im Mühlviertel, Maximilian Baumgartner und Andi Leiner, werden seit 12. September2015 vermisst. Die damals 28-Jährigen waren in einem auffälligen alten Citroën unterwegs, an einem Kreisverkehr in Bad Leonfelden, fünf Minuten vor der tschechischen Grenze, wurde ihr Auto nachts von einer Kamera erfasst – seither fehlt jede Spur. Angeblich wurden sie noch in Tschechien in der Nähe eines Spiellokals gesehen, auch sollen sie in der Nacht getrunken haben. Mysteriöser Fall im Mühlviertel. Hinweise auf ein Verbrechen gibt es nicht, auch deutet nichts auf Suizidabsichten oder ein Abtauchen hin. Handys lagen zu Hause und ließen sich nicht auswerten. Ausgiebige Ermittlungen, große Suchaktionen oder der Fahndungsaufruf in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ – bisher lief alles ins Leere. Mader spricht nun von einem Tipp aus der Facebook-Community: Mit Karten wurden gefährliche Stellen einer möglichen Fahrstrecken dargestellt, an denen ein Sturz des Autos in einen Stausee oder in die Moldau möglich wäre. Er will, im Hinblick auf solche Tragödien und das Leid der Angehörigen, das hinter jedem dieser Fälle steht, über den Verein auch die Hilfe für Familien ausbauen. Der zweite Initiator des Vereins, Clemens Liehr, ist da als Rot-Kreuz-Mitarbeiter vom Fach, Maders Frau, Eva-Maria, ist Psychologin und lässt sich nun zur Kriseninterventionshelferin ausbilden.
„Für Angehörige ist so etwas traumatisch. Viele sagen, gerade wenn eine Suche lang dauert, sie wollten nur noch Gewissheit. Auch wenn es heißt, dass er oder sie tot sei.“ Er sei als Kriminalist immer derjenige, der ermutige. „Der Polizist in mir sagt: ,Such weiter, gib nie die Hoffnung auf!‘ Meine Frau, die Psychologin, sieht auch die andere Seite: dass es oft besser ist, eine Situation zu akzeptieren, um abzuschließen. Oder, dass auch Zorn gut ist, weil es dann nicht so wehtut.“ An Reaktionen von Angehörigen hat er vieles erlebt: Angst, Hilflosigkeit, dann auch Zorn auf denjenigen, der weg ist.
Fälle zeigen, wozu Menschen fähig sind. „Als Kriminalist bist du auch Seelsorger und Psychologe. Das ist das Spezielle an Abgängigenfahndungen, man hat mit den Leidenden, den Suchenden, den Angehörigen zu tun. Du hast keine Leiche, du hast eigentlich nichts. Es ist eine besondere Polizeiarbeit: So nah am Menschen bist du nirgendwo sonst.“
Er erzählt von Reaktionen, etwa einem Sohn, der trotz etlicher Beweise nicht akzeptieren wollte, dass der Vater tot gefunden und beerdigt worden war – bis er seinen Vater Monate später exhumieren ließ. Oder der Familie, die eine Leiche nicht als ihre Tochter anerkennen wollte, weil Suizid eine Schande wäre. Oder von einem, dessen geplanter Suizid dank der Suche noch verhindert werden konnte und der Monate später, nach langem Krankenhausaufenthalt, weil er schon Tabletten geschluckt hatte, mit seiner Frau zu ihm ins Sicherheitsbüro kam, um sich rührend für die Rettung zu bedanken. Oder von einem, der 20 Jahre vermisst wurde, bis sich herausstellte, dass er völlig legal mit zweiter Staatsbürgerschaft in London gelebt hatte. „Du erlebst Sachen, die hältst du als normal denkender Mensch nicht für möglich.“ Und natürlich die Fälle, die brutal vor Augen führen, wozu Menschen fähig sind. Kampusch, Fritzl. Oder ein Fall, von dem Mader erzählt, bei dem ein Vater ein Kleinkind in der Badewanne regelrecht gesotten hat. „Mich erschüttert nicht schnell etwas, aber das zeigt, was bei Menschen möglich ist – und man lernt für kommende Ermittlungen.“
Was macht es mit einem selbst, mit dem Menschenbild, mit solchen Fällen befasst zu sein? „Ich glaube an das Gute im Menschen, aber man wird sicher skeptischer. Der Tod wird selbstverständlicher, auch der Umgang mit Leichen. Und man regt sich nicht mehr über Kleinigkeiten auf, wenn man sieht, was anderen passiert.“
In Zahlen
7920 Mal wurde 2015 in Österreich jemand als abgängig gemeldet. Darunter sind auch Mehrfachvermisste: vor allem Teenager, die öfter von daheim weglaufen.
95 Prozent der Fälle konnten 2015 geklärt werden – die Quote steigt aber noch an: So wurden mittlerweile etwa 98 Prozent der Abgängigenfälle aus 2014 aufgeklärt.
1200 Menschen sind aktuell im Polizeiinformationssystem Ekis als vermisst bzw. als Fahndungsfälle gemeldet. Die Zahl ist zuletzt wegen der Flüchtlinge deutlich angestiegen – da geht es vor allem um Minderjährige, die sich ins Ausland absetzen.
24 Stunden Wartefrist, wie man sie aus Krimis kennt, gibt es übrigens nicht: Die Polizei leitet sofort eine Fahndung ein, wenn Suizidgefahr besteht oder befürchtet wird, der Abgängige könnte Opfer eines Unfalls oder einer Straftat geworden sein. Auch bei Minderjährigen oder psychisch Beeinträchtigten wird sofort gefahndet.
Vermisst
Shehara Zakaria ist seit dem 8. Februar 2015 abgängig. Der heute Vierjährige wurde von seinem Vater der Obsorge der Mutter widerrechtlich entzogen.
Mirjeta Matuma, heute neun Jahre alt, wurde ihrer Mutter 2010 gemeinsam mit ihrem Bruder vom nicht erziehungsberechtigten Vater „entzogen“ und an einen unbekannten Ort gebracht.
Bruder Isa Matuma (auf diesem Bild künstlich „gealtert“), elf Jahre alt und in Wels geboren, dürfte ebenfalls in den Kosovo oder nach Albanien gebracht worden sein. Nach Vater Shaqir Matuma wird gefahndet.