Robbie ging zum Strand - und kam nie wieder Von Jens Todt, Heidelberg
Rund 5000 Menschen gelten derzeit in Deutschland als vermisst. So wie Robbie. Vor acht Jahren verschwand der Sohn von Rosemarie Bell unter mysteriösen Umständen während eines Urlaubs. Seither fehlt von ihm jede Spur. Die verzweifelte Mutter sucht ihn noch immer.
Heidelberg - Die letzten Worte ihres Sohnes wird Rosemarie Bell nie vergessen. "In zehn Jahren habe ich so viel Geld, dass du nie wieder arbeiten musst." Die 58-Jährige hatte viel Zeit, über die Bedeutung dieses Satzes nachzudenken. Acht lange Jahre, jeden Morgen nach dem Aufwachen und jeden Abend vor dem Einschlafen.
Die Worte fallen am 25. Juni 1998 um 2.30 Uhr morgens, Robert hat aus Nizza angerufen. Er ist mit einer Hochzeitsgesellschaft unterwegs, ein Freund hatte wenige Tage zuvor in Österreich geheiratet und alle 22 Gäste mitgenommen auf eine Reise durch Italien und Frankreich. Einen Tag später, gegen 19 Uhr, verlässt der 30-Jährige das Hotel "Rochambeau" in Shorts, T-Shirt und Badeschlappen und verschwindet spurlos. Er geht in Richtung Strand. Seither wurde er nie wieder gesehen. Rosemarie Bell sitzt auf einem schwarzen Ledersessel im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung in der Heidelberger Altstadt und erzählt von Robbie, der "immer allen hilft", der beliebt sei und engagiert. Sie redet von ihm in der Gegenwartsform. An der Wand hängen Fotos von Robert, die damals auf der Reise gemacht wurden. Auf dem Tisch liegt ein Buch über Engel und ihr hilfreiches Wirken im Alltag.
30.000 Vermisste jedes Jahr
So wie Rosemarie Bell, die seit acht Jahren auf die Rückkehr ihres Sohnes wartet, geht es Tausenden Menschen in Deutschland. Wenn irgendwo jemand verschwindet, landet sein Name beim Bundeskriminalamt (BKA) in der Datei "Vermisste Personen und unbekannte Tote". In der Datenbank ist viel Bewegung. "Wir haben täglich bis zu 300 neue Einträge oder Löschungen", sagt ein BKA-Sprecher. Ende März galten in Deutschland 3558 Erwachsene, 1173 Jugendliche von 14 bis 17 Jahren und 447 Kinder bis 13 Jahre als vermisst.
Etwa 30.000 Personen verschwinden jährlich in Deutschland - zumindest kurzzeitig. Die Hälfte der Fälle wird innerhalb der ersten Woche aufgeklärt, nach einem Monat gar 80 Prozent. Es sind jugendliche Ausreißer dabei, die nach wenigen Tagen auf der Straße reumütig nach Hause zurückkehren, Eheleute, die nach einem Streit verschwinden, oder Kinder, die bei einem Freund schlafen, ohne sich bei ihren Eltern abgemeldet zu haben. Manchmal entführt ein Elternteil die gemeinsamen Kinder ins Ausland.
Andere Vermisste wiederum verunglücken oder fallen einem Gewaltverbrechen zum Opfer und werden Tage oder Wochen später tot gefunden. In diesen Fällen können die Angehörigen das Familienmitglied zumindest beerdigen und sich verabschieden. Einige wenige Vermisste jedoch tauchen nie wieder auf. Die Angehörigen dieser spurlos Verschwundenen haben nichts außer ihren Erinnerungen.
"Hauptsache, man hat endlich Gewissheit"
Wie die Eltern der elfjährigen Seike Sörensen aus dem schleswig-holsteinischen Drelsdorf. Ihre Tochter verabschiedet sich am 5. August 1993 von ihrer Großmutter. Sie will die kurze Strecke nach Hause mit dem Fahrrad zurücklegen. Auf dem Weg verschwindet das Kind, nur das Fahrrad wird später am Wegesrand gefunden. "Die meisten der betroffenen Familien kommen irgendwann an den Punkt, an dem sie sich fast wünschen, dass ihr Kind tot gefunden wird", sagt Karl Günther Theobald von der Opferschutzorganisation "Weißer Ring". "Hauptsache, man hat endlich Gewissheit."
Auf die ungeklärten Schicksale der Verschwundenen und das Leid der Angehörigen machen der "Weiße Ring" und die "Elterninitiative Vermisste Kinder" heute mit bundesweiten Aktionen aufmerksam - heute ist der "Internationale Tag der vermissten Kinder". Auf ihrer Internetseite präsentiert die Initiative Fotos der Vermissten - nicht nur von Kindern, sondern auch Erwachsenen - und beschreibt die näheren Umstände des jeweiligen Falles. Seit 1997 konnten mit Hilfe des Vereins 42 vermisste Personen aufgespürt werden.
Im Fall Robert Bell hatte die Initiative bisher jedoch keinen Erfolg. Sein Verschwinden bleibt mysteriös. Als er am 27. Juni 1998 nicht zum Frühstück erscheint, wundert sich die Hochzeitsgesellschaft zwar, aber wirklich besorgt ist zunächst niemand. Was soll einem wie Robert schon passieren? Einem 1,96 Meter großen Mann, 100 Kilogramm schwer, athletisch, ein hervorragender Schwimmer? Später finden Ermittler der französischen Polizei heraus, dass Bell wohl seine EC-Karte dabei hat, als er das Hotel verlässt.
Wahrsagerin: Robert ist am Leben
Für Rosemarie Bell endet an diesem Tag das Leben, wie sie es zuvor kannte. Sie lässt Plakate drucken und verteilt sie in Heidelberg und Nizza. Sie befragt Hotelangestellte und engagiert einen Detektiv. "Freunde von Robert hatten 10.000 Mark für die Suche nach ihm gesammelt", erinnert sie sich. "Damit konnten wir einen französischen Privatermittler zehn Tage lang bezahlen." Doch die Recherchen des Detektivs haben keinen Erfolg. Rosemarie Bell wendet sich an Zeitungen und TV-Sender, erzählt ihre Geschichte, startet Aufrufe. Die spektakuläre Geschichte vom Verschwinden ihres Sohnes zieht Scharlatane und Glücksritter an. In der Sendung des Fernsehpfarrers Fliege erklärt eine Wahrsagerin, dass Robert am Leben sei und dass Rosemarie Bell ihn bald wieder in die Arme schließen werde. "Ich glaube eigentlich nicht an so etwas", sagt sie, "aber es war ein Strohhalm".
Nachdem das italienische Staatsfernsehen ebenfalls über Roberts Verschwinden berichtet, melden sich zwei Männer, die ihn in der Fremdenlegion getroffen haben wollen. "Robbie in der Fremdenlegion?" Rosemarie Bell schüttelt den Kopf. "Er hat doch aus religiösen Gründen den Wehrdienst verweigert."
Kurz nach Roberts Verschwinden beginnen bei der leidgeplagten Mutter die Schlafstörungen, später bekommt sie Diabetes. Eine Gesprächstherapie hilft ihr ein wenig, vielleicht sind Worte der einzige Weg, um mit der Situation leben zu können. "Ich vermisse ihn so sehr, dass es ein fast körperlicher Schmerz ist", sagt Rosemarie Bell.
Warum nimmt Robert seine EC-Karte mit zum Strand?
"Robert hat gelegentlich darunter gelitten, dass er anders ist", sagt sie. Ihre drei Söhne sind dunkelhäutig, die Väter Afroamerikaner. Während seiner Schulzeit engagiert Robert sich, wird Klassen-, später sogar Schulsprecher. Er spielt Basketball beim TC Rohrbach und trainiert zeitweise eine Mädchenmannschaft. Nach der Fachhochschulreife jobbt er als Barkeeper, Bademeister und Briefsortierer. Vor seinem Verschwinden arbeitet er in einem Heim für schwer erziehbare Kinder, betreut eine Jugendgruppe. "Danach wollte er Erzieher werden." Einige Wochen vor der Reise zur Hochzeit seines Freundes Jason trennt sich Robert von seiner Freundin.
Rosemarie Bell versucht immer noch zu rekonstruieren, was mit ihrem Sohn damals passiert ist. Der Portier des "Rochambeau" erzählt, ihr Sohn habe das Hotel "übereilt" verlassen. Wohin will er an diesem Abend? Hat er sich mit jemandem getroffen? Ist er vielleicht in dunkle Geschäfte verwickelt? "Robert hatte noch nie in seinem Leben etwas mit der Polizei zu tun", sagt Rosemarie Bell. Will er einfach noch einmal Schwimmen gehen und ertrinkt im Mittelmeer? Möglich. Aber nimmt man zum Baden seine EC-Karte mit? "Außerdem werden Leichen an diesem Küstenabschnitt so gut wie immer angespült", sagt sie.
Rosemarie Bell ist sicher, dass ihr Sohn noch lebt. Sie blättert in einem Fotoalbum mit Familienaufnahmen. Auf einem Bild sitzt Robert neben seiner Mutter auf dem Sofa, beide schauen in die Kamera. Robert ist da vielleicht zwölf Jahre alt, sein rechter Arm umschlingt seine Mutter, er wirkt ernst und ein wenig stolz. Sie holt einen Aktenordner hervor, prall gefüllt mit Flugblättern, Zeitungsausschnitten und Briefen an Fernsehsender. Sie hebe alles auf, sagt sie lächelnd und tippt auf den Aktendeckel. "Wenn Robbie nach Hause kommt, soll er sehen, dass ich nicht die Hände in den Schoß gelegt habe."