Yasin ist heute neun Jahre alt. Vor eineinhalb Jahren wurde er offenbar von seinem Vater nach Syrien entführt. Der Vater soll sich dem IS angeschlossen haben. Yasins Mutter versucht alles, ihren Sohn wiederzufinden. Bislang erfolglos.
Von Barbara Schmickler und Djamila Benkhelouf, NDR
"Yasin kann sich stundenlang beschäftigen, er hatte immer tolle Ideen", erzählt Lena K. Ihr Sohn Yasin ist heute neun Jahre alt. Er sei ein "Mutter-Kind". "Er konnte mir alles erzählen, wir hatten ein lockeres und ein sehr tiefes Verhältnis", sagt die Mutter ruhig. "Ich bin jeden Tag in Gedanken bei ihm, jede Minute und jede Sekunde", erzählt Lena K. "Bis heute habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Yasin noch lebt und dass ich ihn wiedersehen werde. Irgendwann."
Das bislang letzte Mal hat sie ihren Sohn im August 2014 gesehen: Die Eltern leben getrennt, die Scheidung läuft. Der Vater, ein gebürtiger Algerier, darf das Kind regelmäßig sehen. Er fährt mit Yasin zu den Großeltern nach Algerien. Zehn Tage waren geplant, doch die beiden kommen nicht zum vereinbarten Zeitpunkt zurück. "Ich habe ihm vertraut und nie gedacht, dass er mir mein Kind weg nimmt", sagt Lena K. Sie gibt in Wolfsburg eine Anzeige wegen Kindesentführung auf.
"Warten war die Hölle"
Von Wochenende zu Wochenende hofft sie, dass ihr Sohn doch noch während der Sommerferien zurückkommt. "Ich habe gedacht, spätestens zum Ende der Ferien muss er zurückkommen, er muss doch wieder in die Schule." Während dieser Zeit wusste sie nicht, wo sich die beiden aufhielten: "Dieses Warten war die Hölle", sagt sie.
Nur das Whats-App-Profilbild des Vaters lässt Rückschlüsse zu: Dort zu sehen ist ein Maschinengewehr. Später meldet sich ihr Ex-Mann telefonisch bei ihr: Er befinde sich beim "Islamischen Staat". Ein Schock, den sie erst einmal verarbeiten musste. "Es gab keine Anzeichen dafür, dass er dorthin will", erinnert sich Lena K. "Die Vorstellung, dass Yasin da drüben ist, ich weiß, dass er mich liebt, dass er mit mir sprechen will, dass er mich sehen will. Das ist das Schlimmste für mich. Wie man einem Kind so etwas antun kann. Das ist für mich eine Vergewaltigung einer Kinderseele", sagt sie.
Reise nach Algerien
Sie beginnt zu recherchieren, kommt monatelang nicht richtig vorwärts. "Ich beschloss, nach Algerien zu seiner Familie zu reisen. Dort verlor sich schließlich seine Spur", sagt sie. Sie erfuhr dort, dass die Familie mit ihrem Mann in Kontakt stand.
Nach ein paar Tagen war es soweit: Ihr Ex-Mann rief an. Es folgten einige Telefonate, endlich durfte sie mit ihrem Sohn sprechen. Er sagte: "Ich bin beim 'Islamischen Staat'. Ich habe ein Haus und einen Garten. Mir geht es besser als in Deutschland." Für sie klang das wie ein Roboter, wie nach einer Gehirnwäsche. "Yasin, mein Sohn, ist eigentlich jemand der locker darauf los spricht. Ich hatte das Gefühl, dass ihm gesagt wurde, was er sagen soll. Er klang auch nicht fröhlich." Bei dem Telefongespräch hatte sie Gänsehaut. "Nach dem Gespräch bin ich erst einmal in Tränen ausgebrochen."
Der Internationale Sozialdienst war über die deutsche Botschaft in Algerien von Anfang an in den Fall involviert, erreichen konnte der jedoch kaum etwas. "Die Familie des Vaters in Algerien hat den Kontaktversuch der Botschaftsmitarbeiter abgeblockt", erzählt Lena K.
Auch rechtlich gibt es kaum Möglichkeiten, gegen ihren Ex-Mann vorzugehen. "Uns sind rechtlich im Prinzip vollständig die Hände gebunden", sagt ihre Anwältin Christine Meyer-Degering. Grundsätzlich könnte ein ins Ausland entführte Kind über das Haager Abkommen nach Deutschland zurückgeführt werden. "Das ist aber nur möglich, wenn der jeweilige Staat ein Vertragspartner dieses Abkommens ist. Da gehören weder Algerien noch Syrien dazu", sagt Meyer-Degering.
Kontakte zur Wolfsburger Salafisten-Szene
Rückblick: Die Beziehung von Yasins Eltern beginnt als eine Liebe zwischen zwei jungen Erwachsenen. Die beiden heiraten in Algerien. Später wird Yasin geboren. Doch immer häufiger gibt es Streit, vor allem seit sich Yasins Vater mit einem Internet-Café selbstständig machte. "Das lief nicht so, wie er sich das vorstellte. Er verlor die Lust daran. Er wollte auch nicht mehr viel mit der Familie unternehmen", erzählt seine Ex-Frau. 2008, als Yasin noch sehr klein ist, trennen sich die Eltern. Fünf Jahre später reicht Yasins Mutter die Scheidung ein. Als diese ein Jahr später rechtskräftig wird, ist Yasin schon entführt.
Wo hatte sich ihr Mann radikalisiert? Erst später findet sie über seine Facebook-Freunde heraus, dass er Kontakte zu Salafisten und späteren Syrien-Ausreisern hatte. Yasins Vater ging in Wolfsburg in die DITIB-Moschee am Hauptbahnhof. Dort trafen sich auch viele junge Männer, die sich später dem "Islamischen Staat" in Syrien angeschlossen haben. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden gab es weder Anzeichen, dass Yasins Vater sich radikalisiert habe noch, dass er vor hatte, nach Syrien zu reisen. Als Lena K. ihn in ihren Telefonaten fragte, warum er das tue, sagt er immer wieder, er sei für ihn verantwortlich und er mache das für Gott.
Lena K. will Yasin unbedingt treffen, fordert ihren Mann in Telefongesprächen immer wieder auf, den gemeinsamen Sohn in die Türkei zu bringen. Doch darauf lässt er sich nicht ein. Sie vereinbaren ein Treffen - irgendwo in Syrien. Wo genau will ihr Ex-Mann am Telefon nicht sagen. Alleine macht sich Yasins Mutter auf den Weg. Sie ist sich sicher, ihr Plan kann funktionieren. Sie will unbedingt mit ihrem Sohn sprechen, ihn vielleicht endlich nach Hause holen.
Kontrolle und Abschiebehaft
Zunächst verläuft alles nach Plan. Lena K. fliegt in die Türkei, fährt stundenlang weiter mit dem Bus. Yasins Vater vermittelt ihr einen Schleuser, sie kommt ins türkisch-syrische Grenzgebiet. Fünfzig Kilometer vor der Grenze kontrolliert sie ein Zivilpolizist. Als er ihren deutschen Pass sieht, nimmt er sie in Abschiebehaft. "Ich habe den Polizisten gesagt, ich wolle nach Syrien zu meinem Sohn. Ich glaube, die haben gedacht, ich wolle mich dem IS anschließen", erinnert sich Lena K. Drei Tage später wird sie nach Deutschland geflogen, muss unterschreiben, die nächsten zwei Jahre nicht mehr in die Türkei zu reisen.
Später reist sie noch einmal nach Algerien, im November vergangenen Jahres spricht sie das bislang letzte Mal mit Yasin. Danach bricht für längere Zeit der Kontakt zur Familie dort ab.
Hoffnung auf ein Wiedersehen
Lena K. hofft darauf, dass der Vater vielleicht nach Algerien kommt. "Ich gehe davon aus, dass ihm bewusst ist, wie wichtig die Mutter für den Sohn ist und wie wichtig für Yasin wäre, seine Mutter jetzt bald wiederzusehen", sagt Rechtsanwältin Meyer-Degering. "Nach unserem jetzigen Kenntnisstand gibt es keinen internationalen Haftbefehl, das heißt, der Vater könnte ohne Konsequenzen zu befürchten nach Algerien reisen", sagt sie.
Lena K. will nicht aufgeben. Sie kämpft weiter um ihren Sohn. Vor Kurzem meldete sich ihr Ex-Mann endlich wieder bei seiner Familie in Algerien. Ihm gehe es gut. Lena K. wartet weiter darauf, endlich wieder mit ihrem Sohn telefonieren zu können.
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