«Die Wahrheit wäre unendlich erlösend» ThunVor 40 Jahren erschütterte ein Mordfall Thun: 1973 verschwand der 14-jährige Beat Gyger, einen Tag später fanden Reiterinnen seine Leiche. Bis heute hoffen die Angehörigen auf Aufklärung.
Barbara Schluchter-Donski 04.11.2013
«Für mich bedeutete der gewaltsame Tod von Beat, dass ich als 12-Jähriger aus einer unbeschwerten Jugend gerissen wurde und von einem Tag zum andern erwachsen sein musste», schreibt Bernhard Gyger, der heute 52-jährige Bruder des Ermordeten, im Vorwort zu Franziska Streuns neuem Buch.
Bernhard Gyger spricht damit das Pfingstwochenende 1973 an. Damals geschah das Unfassbare, das die Familie Gyger in ihren Grundfesten erschütterte, das Thun in einen Schockzustand versetzte und das bis heute nachhallt.
Ein verhängnisvoller Abend
Der Abend an diesem 9.Juni ist mild. Der 14-jährige Beat Gyger hat von seinen Eltern den Auftrag erhalten, mit dem Fahrrad zur Grossmutter zu fahren, um ihr einen Arzttermin mitzuteilen. Doch der Achtklässler, der in einer schwierigen Phase steckt, gegen seine Eltern und Lehrer rebelliert, die Schule schwänzt und Töffli klaut, hat andere Pläne: Er fährt nur wenige Meter weit, holt aus einem Versteck ein gestohlenes Mofa hervor und begibt sich damit auf den Budenplatz beim Hotel Holiday.
Er trifft Freunde und fährt mit einem Mädchen aus seiner Schule auf der Scooterbahn. Dieses Mädchen beobachtet schliesslich auch, wie sich Beat kurze Zeit später mit einem knapp 20-jährigen Mann trifft, der ihm eine Ohrfeige verpasst. Anschliessend sieht sie, wie sich die beiden in Richtung Lachenkanal entfernen.
Das ist um 20.30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt weiss das Mädchen nicht, dass sie mit dieser Beobachtung zu einer wichtigen Zeugin in einem Mordfall wird, der schweizweit für Schlagzeilen sorgen wird. Denn mit dem Verschwinden von Beat vom Budenplatz beginnt die unheimliche und verworrene Geschichte eines Verbrechens, das bis heute ungelöst blieb und deshalb viel Raum für Spekulationen und Verdächtigungen liess.
Am nächsten Tag nämlich, am Pfingstsonntag 1973, finden zwei Reiterinnen in Mamishaus bei Schwarzenburg die Leiche von Beat Gyger: Der 14-Jährige liegt bäuchlings und mit verrenkten Gliedern auf dem feuchten Boden des Lindenbachgrabens. Um seinen Hals ist eine Packschnur gebunden. Er trägt die Kleider vom Vorabend, nur die Schuhe fehlen. Doch die Socken sind sauber und trocken. Die gerichtsmedizinische Untersuchung wird später ergeben, dass der Junge durch massiven Druck auf den Brustkorb erstickt und danach von der Strasse in den Graben hinuntergestossen wurde. Auf der Strasse fällt der Polizei später eine zwei Meter lange Bremsspur auf.
Es war eine Katastrophe
Der grausige Fund in 28 Kilometern Entfernung von Beat Gygers Wohnort löst nicht nur intensive Ermittlungsarbeiten der Polizei aus, sondern sorgt auch dafür, dass das Leben der Familie Gyger aus den Fugen gerät: Mit der Nachricht über den Tod ihres Sohnes und Bruders geraten Adelheid, Otto und Bernhard Gyger in einen Strudel aus Trauer, Ohnmacht, Verzweiflung und Selbstvorwürfen.
Und sie müssen sich gleichzeitig den unzimperlichen Fragen der Fahnder stellen, die nicht davor zurückschrecken, auch Vater Otto als Verdächtigen zu vernehmen. «Es war eine Katastrophe», sagt Mutter Adelheid heute, «die Polizei war überfordert. So etwas Schlimmes wie diesen Mord an einem 14-Jährigen hatte es damals in Thun noch nie gegeben.»
Hinzu kommen Gerüchte, Andeutungen und Verleumdungen von Nachbarn und Unbekannten sowie Medienleute aus Zürich, die auf der Suche nach einer Sensationsgeschichte noch am Abend des Pfingstsonntags bei der Familie aufkreuzen. Diese enorme Belastung muss die Familie ohne psychologische Unterstützung bewältigen. Careteams gibt es keine.
Die Polizei tappte im Dunkeln
Die Polizei macht Zeugenaufrufe, schreibt eine Belohnung von 10'000 Franken aus und verfolgt viele Spuren: In den ersten Wochen nach der Tat gehen über 300 Meldungen ein. Konkret sucht die Polizei den Mann, welcher Beat die Ohrfeige verpasst hat, aber auch das gestohlene Mofa und die Zoccoli, welche der 14-Jährige bei seinem Verschwinden trug. Denn es besteht der Verdacht, dass der Mordfall mit dem Diebstahl des Mofas zusammenhängen könnte.
Die Polizei geht aber auch der Frage nach, ob sich Beat als Strichjunge in der Homosexuellen- und Pädophilenszene anbot. Einiges deutet darauf hin, dass der Achtklässler in dieser Szene verkehrte, die sich vor allem im Bereich des Campingplatzes im Gwatt traf. Andere Hinweise wiederum legen nahe, dass Beat als Drogenkurier gearbeitet haben könnte. In der Folge nimmt die Polizei Personen fest und entlässt sie wieder. Alle Spuren, die sie verfolgt, verlaufen im Sand.
Zurück bleiben diffuse Ängste und eine innere Unruhe bei den Betroffenen. Zurück bleibt aber auch eine gescheiterte Ehe: Denn 2 Jahre nach der Tat trennen sich Otto und Adelheid Gyger. Und zurück bleibt der Wunsch der Familie nach Wahrheit: «Die Wahrheit», schreibt Bernhard Gyger abschliessend, «wäre für mich und viele andere unendlich erlösend und befreiend.»
«Ich hatte kurz die naive Hoffnung, dass sich die Tat aufklären lässt» ThunFranziska Streun hat für ihr neues Buch «Mordfall Gyger – Eine Spurensuche» intensive Recherche betrieben, bei der sie auch an ihre Grenzen kam. Für die TT-Redaktorin hat sich aber der Aufwand gelohnt.
Barbara Schluchter-Donski 04.11.2013
Franziska Streun, Ihr Buch ist keine angenehme Bettlektüre. Es wühlt auf. Haben Sie während Ihrer Recherche gut geschlafen? Franziska Streun: Geschlafen habe ich gut. Doch es gab Phasen, in denen die Geschichte in meinen Gedanken weiterlief, weil ich zu verstehen versuchte, was wirklich vorgefallen war. Es war eine intensive Zeit und ist es immer noch.
Sie haben bei Ihrer Recherche auch mit Verdächtigen gesprochen. Vielleicht sogar mit dem Täter Ja, ausschliessen kann ich das nicht. Zu Beginn hatte ich kurz die naive Hoffnung, dass sich der Fall vielleicht aufklären lässt. Doch ich realisierte bald, dass das unrealistisch ist und ich mich emotional nicht allzu sehr auf die Aussagen einlassen darf. Deshalb gebe ich die Zitate im Buch lediglich weiter, im Wissen darum, dass mich der eine oder andere der Befragten womöglich angelogen hat. Immerhin liegt der Fall 40 Jahre zurück, und da können sich gewisse Erinnerungen auch verschieben oder verändern. Mir war einfach wichtig, dass die damalige Situation aus möglichst vielen Perspektiven abgebildet wird.
Und was trieb Sie an? Es gibt mehrere Elemente: Ich war zur Tatzeit 10 Jahre alt, und wir lebten im Dürrenastquartier, nur unweit vom Budenplatz entfernt. Beats Tod war eine Riesensache für Thun. Ich kannte ihn zwar nicht, aber allein die Tatsache, dass vor unserer Haustüre ein Knabe in meinem Alter umgebracht wird, war beängstigend. Ich habe diese intensiven Gefühle bis heute nicht vergessen. Und viele Leute sagten mir, sie bekämen noch heute Gänsehaut, wenn sie an den Fall zurückdenken würden. Es schien mir, als müsste die Geschichte über das ungeklärte Tötungsdelikt unbedingt erzählt werden. Auch deshalb, weil so viele Fragen offen blieben. Bei meiner Recherche bekam ich zudem das Gefühl, dass bei den Ermittlungen einiges nicht optimal gelaufen war.
Der Fall ist sehr komplex. Wie gingen Sie bei Ihrer Recherche vor? Wo fingen Sie an, wo hörten Sie auf? Ich habe die Akten des verstorbenen Fahnders studiert, welche mir die Familie Gyger übergeben hat. Dieser hat sich damals ziemlich in den Fall verbissen und privat Dokumente gesammelt. Seine Unterlagen beinhalten zum Beispiel Fahndungsprotokolle, den Autopsiebericht oder Zusammenfassungen des Einsatzleiters. Sie waren die Grundlage und gleichzeitig Ausgangspunkt meiner Recherche. Dass ich am Schluss mit über 250 Personen sprechen würde, konnte ich mir zu Beginn nicht vorstellen.
Und was beschäftigte Sie bei Ihrer Recherche am meisten? Sicher die Dramatik, welche sich abgespielt hat und welche das Leben der Familie Gyger von einem Tag auf den andern auf den Kopf stellte. Ich glaube, dass dieses traumatische Erlebnis die Grenzen dessen sprengte, was ein Mensch eigentlich aushalten kann. Und dass diese Extremsituation die Wahrnehmung der Direktbetroffenen für immer verschoben hat. Ich ging deshalb sehr behutsam mit den Familienangehörigen um und hielt sie immer über meine Fortschritte und Ergebnisse auf dem Laufenden.
Erlebten Sie auch Sachen, die Sie erschreckt haben? Ja, vor allem die Recherche in der Pädophilenszene erlebte ich als heikel. In der Thuner Szene verkehrten damals offenbar auch sehr einflussreiche Leute, die durchaus interessiert gewesen sein könnten, dass die Wahrheit über ihr Tun nie ans Licht kommt, und die Beat deshalb eine Lektion erteilen wollten. Vielleicht auch um zu verhindern, dass der 14-Jährige vor dem Jugendrichter auspackt. Denn vier Tage nach seinem Tod hätte Beat Gyger dort wegen eines Bootsdiebstahls einen Termin gehabt. Aber letztlich bleibt die Geschichte auch nach meiner Spurensuche ungeklärt.
Sie haben auch nicht die Erwartung, dass sich plötzlich jemand meldet und die Tat gesteht? Erwartung ist das falsche Wort. Ich wünschte es mir natürlich für die Familie. Doch schliesslich muss jeder, der eine wichtige Beobachtung gemacht hat oder an der Tat beteiligt war, selber mit seinem Gewissen ins Reine kommen.
Haben Sie im Zusammenhang mit Ihrem Buch einen Wunsch? Mein grösster Wunsch ist bereits in Erfüllung gegangen: Für die Eltern Adelheid und Otto Gyger und den Bruder Bernhard Gyger ist das Buch eine Unterstützung zur weiteren Aufarbeitung der Ereignisse. Ihre Version der Geschehnisse konnten sie in der Öffentlichkeit bis jetzt nirgends darlegen. Als Otto Gyger die Rohfassung gelesen hatte, rief er mich an und sagte mir zutiefst bewegt, dass er in den vergangenen 40 Jahren noch nie so gut geschlafen habe wie nach dieser Lektüre. Das war für mich das grösste Geschenk!
Dann sind die Eltern und der Bruder von Beat Gyger darauf vorbereitet, dass die Geschichte jetzt wieder zum Thema wird... Ja, sie sind bereit.
Der 14 jährige Beat Gyger wurde 1973 auf der Chilbi in Thun gesehen und verschwand kurz darauf mit einem Unbekannten. Am folgenden Tag fand man seine Leiche in einem Strassengraben.