Anschlag Neue Ermittlungen 15 Jahre nach Anschlag auf Wehrhahn-Linie 27.07.2015 | 08:02 Uhr
Ein Bild vom Tag des Anschlags: Rettungskräfte kümmern sich um die Verletzten.Foto: dpa Düsseldorf. Vor 15 Jahren explodierte mitten in Düsseldorf eine Bombe, verletzte zehn Menschen und tötete ein Ungeborenes. Der Fall ist bis heute ein Rätsel.
Die Kreuzung von Grafenberger Straße und Ackerstraße am östlichen Rand der Düsseldorfer City ist ein wichtiger, breit angelegter Verkehrsknotenpunkt. Oben rauschen Pkw und Lkw vorbei, unten ICE und S-Bahnen ins Rheinland und ins Ruhrgebiet. Die Fahrgäste erreichen die Regionalbahnen über die Bahnsteige des S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn. Sie nutzen einen unscheinbaren, etwas vergammelten Eingangsbau mit Ticketautomat direkt an der Ackerstraße. Er leitet auf einen schmalen Zugangsweg und über eine Fußgängerbrücke auf den Bahnsteig.
Nichts deutet heute darauf hin, dass auf diesem Zugangsweg, nur eineinhalb Meter hinter dem Eingang, vor fünfzehn Jahren eine Bombe explodierte. Es war der 27. Juli 2000, 15.04 Uhr. Die Metallsplitter verletzten zehn Passanten teils schwer: Drei Frauen und sieben Männer. Die Splitter töteten den Fötus von Tatjana L.
Verletzte kamen aus der ehemaligen Sowjetunion Alle Verletzten kamen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Es waren sechs jüdische Zuwanderer und vier Russlanddeutsche, die in Deutschland als „Kontingentflüchtlinge“ Aufnahme gefunden hatten. Sie hatten, kaum hundert Meter entfernt, einen Sprachkurs im Institut ASG in der Grafenberger Straße besucht und wollten die S-Bahn um 15.30 Uhr nehmen.
Der Anschlag ist bis heute unaufgeklärt, obwohl die damalige Bundesregierung schnell eine fremdenfeindliche Tat vermutete, Bundeskanzler Gerhard Schröder den „Aufstand der Anständigen“ ausrief und der Fall einen Verbotsantrag von Bund und Ländern gegen die rechtsextreme NPD beschleunigt hat, der später scheiterte.
Wird der Fall wieder aufgerollt? Ja. Die Ermittlungen sind zur „Verschlusssache“ erklärt. Das deutet auf die Brisanz hin. Auch auf der Ebene des Landtags in NRW wird in einem Untersuchungsausschuss nachgebohrt.
Nach fünfzehn Jahren stellen sich viele Fragen neu, weil inzwischen die erst spät aufgedeckte Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), der des zehnfachen Mordes an ausländischen Gewerbetreibenden und einer Polizistin beschuldigt wird, zahlreiche zusätzliche Aspekte bringt.
Mit welchem Aufwand wurden die Ermittlungen nach dem 27. Juli 2000 betrieben? Zeitweise waren 70 Fahnder an der Arbeit, 1400 Zeugen wurden vernommen, 700 Hinweise gingen ein. Es wurden über 300 Spuren verfolgt. Ein amerikanischer Sprengstoff-Roboter wurde, allerdings erst nach Tagen, eingesetzt.
Man hat Hausdurchsuchungen durchgeführt und Telefone angezapft. Zeichnungen von gesuchten möglichen Zeugen wurden sogar in Moskau öffentlich ausgehängt. Damals blieb das alles ohne Ergebnisse.
War der Anschlag gezielt? Viel deutet darauf hin. Ein Zeitzünder wurde nie gefunden. Der Sprengsatz war also wohl ferngezündet. Der oder die Täter konnten zudem nach den Gegebenheiten der örtlichen Bebauung, die auch aus entfernten Fenstern oder von Balkonen eine weite Sicht auf den Tatort möglich macht, die Gruppe der Sprachschüler beobachten, die hier immer zur gleichen Zeit vorbeikamen.
Welche Motive könnten der oder die Täter gehabt haben? „EK Acker“ und Staatsanwälte haben viel Arbeit darauf verwendet, dieses Rätsel zu lösen. Sie haben fremden- oder ausländerfeindliches Motive genau so untersucht wie ein speziell antisemitisches, weil unter den Opfern sechs Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf waren.
Zeitweise neigten die Fahnder zu der Annahme, bei dem Anschlag könne es sich durchaus um eine gewaltsame Auseinandersetzung im Milieu der osteuropäischen Organisierten Kriminalität oder des Drogenhandels handeln.
Ohne Ergebnis? Keine der Denk-Richtungen hat sich je im Detail bestätigt. In der Einschätzung der Staatsanwaltschaft Düsseldorf hieß es 2001, weder rechte Gewalt noch ein „verrückter Alleintäter“ noch der mafiöse Hintergrund könnten ausgeschlossen werden. Zahlenmäßig wiesen die meisten Spuren nach rechts.
Wie funktionierte die Bombe? Der Sprengsatz hing an einem Geländer direkt hinter dem Eingangsgebäude in einer weißen Plastiktüte. Er war in das Papier eines Anzeigenblatts gewickelt. Technisch könnte es sich um eine alte Handgranate osteuropäischer Herkunft oder eine Rohrbombe gehandelt haben, die mit dem Sprengstoff TNT gefüllt war.
Letzte Sicherheit gibt es in diesem Punkt nicht. Der oder die Täter müssen für den Zusammenbau des Sprengsatzes erhebliches Fachwissen eingesetzt haben. Die Druckwelle der Bombe war gering. Die schweren Verletzungen wurden durch die Splitterwirkungen hervorgerufen.
Gibt es hier neue Ermittlungsansätze? Ja. In den Asservaten wird ein Teil des zerstörten Geländers aufbewahrt, an dem der Sprengsatz befestigt war. Hier könnte es DNA-Spuren geben, denen die Fahnder nachgehen wollen. Das Problem: Eine solche Spur muss gemeinhin einer Person zugeordnet werden können, deren DNA wiederum den Ermittlern bekannt ist.
Könnte der Sprengstoff zum Täter führen? Laut Bundeskriminalamt (BKA) ist die Herkunft des TNT „ungeklärt“. Im Westen Deutschlands war im Jahr 2000 solcher Sprengstoff kaum erhältlich. Die „Jüdische Allgemeine“ hat darauf hingewiesen, dass in den östlichen Bundesländern „Trinitrotuluol aus einem ehemaligen Ostblockstaat in den 90er Jahren auf dem Schwarzmarkt noch relativ problemlos“ zu beschaffen war. Ein Rest des Kalten Krieges.
Bestätigt das einen Verdacht gegen den ostdeutschen NSU? Das Trio Böhnhardt/Mundlos/Beate Zschäpe verfügte jedenfalls über TNT. Die Piratenfraktion im Landtag NRW weist in einem Antrag darauf hin, dass 1998 in einer von Beate Zschäpe angemieteten Garage in Jena vier Rohrbomben mit fast 1400 Gramm des Stoffes entdeckt wurden. Der Sprengstoff könnte aus der Beute eines Diebstahl in einem Bundeswehr-Depot im thüringischen Kahla stammen. 1991 verschwanden dort 40 Kilo TNT, deren Verbleib bis heute unklar ist. Klar ist aber auch: Von einem konkreten Verdacht Richtung NSU kann derzeit keine Rede sein.
Gibt es andere Hinweise auf eine NSU-Täterschaft? Die zeitliche Nähe zu weiteren Taten des NSU fällt natürlich auf. Knapp eineinhalb Monate nach Wehrhahn wird Enver Simsek in Nürnberg erschossen – ein Mord, der laut Anklage im Münchner NSU-Prozess dem Trio Böhnhardt/Mundlos/Zschäpe zugeordnet wird. Für die Skeptiker dieser These ist entscheidend: Der NSU hat eigentlich alle seine Straftaten genauestens im berüchtigten „Panther“-Video protokolliert. Wehrhahn fehlt in dieser Aufzählung. Allerdings fehlte in dem Video-Archiv auch ein Anschlag mit Sprengstoff in einer Taschenlampe in Nürnberg ein Jahr zuvor, der heute ebenfalls der „Zwickauer Zelle“ angelastet wird.
Was ist mit Verdachtsmomenten gegen andere Rechtsextreme? Gerade zu dieser Zeit gab es in der Düsseldorfer Region mehrere ausländerfeindliche Attacken. Und nahe des Tatorts verkaufte der Neonazi Uwe S. Militaria. Der Mann wurde als Tatverdächtiger vorübergehend festgenommen. Er musste nach kurzer Zeit wieder freigelassen werden.
Wurde je eine Belohnung auf Hinweise ausgesetzt? Ja. 120 000 Mark, also 60 000 Euro. Das hat bisher nicht weitergeholfen.