Ein Pfälzer Lokführer spricht über die Folgen von Suizid am Gleis
4.8.2025, 6:00 Uhr
Von Autor/in Bettina Blum
Als Lokführer Andreas Zimmer vor ein paar Jahren nicht verhindern kann, dass sein Zug einen Menschen überrollt, war der wichtigste Satz seines Psychologen: "Du bist nicht schuld."
"Es gibt immer noch Situationen, wo diese 30 Sekunden von dem Unfall wieder ins Gedächtnis kommen und wirklich mit Bildern, mit Gerüchen, mit Geräuschen." Lokführer Andreas Zimmer hat gelernt, damit umzugehen. Ganz frei davon wird er vermutlich nie mehr sein.
Der Unfall - er passierte vor 15 Jahren auf der Strecke zwischen Mainz und Ludwigshafen. Der Zug ist mit etwa 150 Reisenden voll besetzt. Die meisten davon junge Leute, die vom Mainzer Rheinfrühling nach Hause fuhren, sagt Andreas Zimmer.
"Kurz vor Oggersheim sehe ich auf den Gleisen eine rote Jacke, weiße Haare, eine Person, die sich auf die Gleise legt, ein Knall. Da wusste ich: das war's. Das ist jetzt mein erster Personenunfall mit Todesfolge."
Trotz Schnellbremsung - keine Chance Statistisch erlebt es ein Lokführer zweimal in seinem Berufsleben, dass sein Zug nicht mehr rechtzeitig bremsen kann und ein Mensch stirbt. Zwar hat auch Andreas Zimmer sofort eine Schnellbremsung eingeleitet. Doch die Chance, das Schlimmste zu verhindern, ist gering.
Als er den Mann im Gleisbett sieht, "da hatte ich vielleicht zehn Sekunden, mein Fahrzeug zur Schnellbremsung zu bringen, einmal aufs Führerstandspult zu kloppen und laut zu brüllen, dann hat es geknallt."
Der Bremsweg sei bei einer S-Bahn, wenn sie etwa 120 Stundenkilometer fährt, ungefähr 500 Meter. Ein ICE habe teilweise einen Bremsweg von einem Kilometer. Und eine Möglichkeit auszuweichen, gibt es nicht.
Andreas Zimmer hatte also keine Chance, den Zusammenprall zu verhindern. "Der Mann hat schon vorher im Gleis gestanden und gewartet, dass jemand kommt und sich dann nur noch, sozusagen, in Position gebracht".
Die Bilder sind halt sehr präsent, gehen teilweise auch einher mit Unwohlsein
Nach dem Unfall sucht sich Andreas Zimmer psychologische Hilfe. Lässt sich ambulant in der BG-Klinik in Ludwigshafen behandeln. "Man denkt ja immer wieder, ja, ich hab jemanden getötet. Sieht immer wieder die Bilder, fragt sich: Was hätte ich anders machen können?"
"Ich bin das Opfer" Der wichtigste Satz seines Psychologen sei deshalb gewesen, "dass ich nicht schuld bin." Nur so habe sich sein Blick auf das Geschehene um 180 Grad gedreht. "Irgendwann habe ich begriffen, der Mann auf den Schienen wollte das alles so. Nicht er ist das Opfer, sondern im Endeffekt bin ich als Lokführer das Opfer."
Bereits nach etwa vier Wochen ist Andreas Zimmer zurück im Führerstand eines Zuges. Erst fährt er bei Kollegen mit. Sein Arbeitgeber, die DB Regio, unterstützt ihn dabei.
Er fährt immer wieder die gleiche Strecke, "hin und her, um zu merken, da ist nichts. Und dann konnte ich auch wieder selbständig fahren, ohne Probleme."
Es ist schwer, den Unfall aus dem Kopf zu bekommen Und auch die Unfallstelle selbst kann Andreas Zimmer passieren, ohne dass das jedes Mal wieder alle Erinnerungen auslöst. Geholfen hat ihm dabei seine Therapie, die insgesamt ein halbes Jahr ging. Nachdem er begriffen hatte, dass er nicht schuld an dem Ganzen ist, hat ihn sein Psychologe zur Unfallstelle geschickt.
Er sollte mit dem Auto vorbeifahren, schauen wie es ihm dabei geht und die Tour mit etwas Schönem verbinden. "Beim ersten Mal bin ich hingekommen, war noch 500 Meter von der Stelle weg und da ging's los: Schweißausbrüche, Zittern, Übelkeit." Sechs Mal musste Andreas Zimmer das wiederholen, bis diese heftigen Reaktionen ausblieben.
Körperliche Angriffe auf Bahnmitarbeiter Andreas Zimmer ist seit mehr als 20 Jahren Lokführer. Er liebt diesen Beruf, trotz der immensen Belastungen durch Schichtdienst und viele Überstunden. Was ihm zu schaffen macht ist die, wie er es nennt, zunehmende Verrohung. Dass Reisende ihren Unmut über Zugausfälle und Verspätungen am Personal der Bahn auslassen. "Wir können nichts für den Schlamassel, werden aber trotzdem angeschnauzt und teilweise auch körperlich angegriffen."
Und immer wieder bringt der Leichtsinn einzelner sie selbst, aber eben auch die Lokführer in Gefahr. "Wir nennen es den zweibeinigen Wildwechsel, so ein Begriff, um irgendwie besser damit umgehen zu können." Gemeint sind die, die einfach über die Gleise laufen, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein.
"Das nimmt immer mehr überhand", sagt Andreas Zimmer. "Die denken, egal in welcher Altersklasse sie sind, 'Ich bin schneller als ein Zug, ich hör den ja, seh den ja', aber das ist ein Irrtum." Und das sind die Momente, in denen bei Andreas Zimmer die Erinnerung besonders stark zurückkommt.
Die Strafen sind zu gering "Wie bei dem jungen Mann, der ging an der geschlossenen Halbschranke vorbei, Kopfhörer auf. In dem Moment komme ich und warte nur drauf, dass es knallt." Doch der junge Mann schafft es noch rechtzeitig übers Gleis und hat offenbar gar nichts mitbekommen, auch nicht, dass der Zug seinetwegen bremsen musste.
Für den Lokführer und die Reisenden aber sind das Schockmomente. Bei Andreas Zimmer kamen da die alten Bilder wieder hoch. "Da würde ich mir wünschen, dass das zumindest höher bestraft wird, wenn man so einen schnappt", sagt Andreas Zimmer. "Momentan ist das eine Ordnungswidrigkeit und kostet 15 Euro. Wenn man überlegt, was da hinten dranhängt, ist das in meinen Augen eine Lachplatte."
Hilfe beim Arbeitgeber nach traumatischen Erlebnissen
Andreas Zimmer hat nach dem tödlichen Unfall ins Berufsleben zurückgefunden. Das gelingt nicht allen Kollegen. Viele schaffen es anschließend nicht mehr, überhaupt in einen Zug zu steigen. Und häufig würden die Betroffenen es ablehnen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sagt Zimmer.
"Dabei bietet die Deutsche Bahn viel an zum Thema 'traumatische Ereignisse'. Zum Beispiel kommt nach dem Unfall jemand vom Betrieb, löst einen ab. Oder man kann über die DB psychologische Hilfe beantragen."
PTBS sollte eine Berufskrankheit werden Noch gelten Posttraumatische Belastungsstörungen für Lokführer aber nicht als Berufskrankheit. Das müsste sich ändern, sagt Andreas Zimmer. Gerade wenn man bedenkt, dass ständig neuer Leichtsinn dazu kommt.
"Der größte Wahnsinn ist momentan eine TikTok- oder YouTube-Challenge, wo junge Leute denken, sie müssen ein Selfie im Gleisbereich machen. So schnell können die gar nicht gucken wie der Zug da ist und sie erwischt."
Aus diesem Grund hat die Deutsche Bahn ein Präventionsvideo produziert, um auf das Problem aufmerksam zu machen:
Ein Totenkopf für jeden Selbstmörder Andreas Zimmer ist in jedem Fall froh über die Hilfen, die er bekommen hat. Das habe zu Anfang seines Berufslebens noch ganz anders ausgesehen. Da sei ein Kollege zwei Tage nach einem Personenunfall gefragt worden: "Wo bleibst Du denn? Wir brauchen Dich wieder zum Fahren, stell Dich nicht so an."
Und auch die, die wiedergekommen sind, hätten teilweise sehr eigenwillige Wege gewählt, um klarzukommen. Wie jener Lokführer, der "um das Ganze zu verarbeiten, auf den Griff seiner Diensttasche Totenköpfe gepinnt hat - etwa zehn Stück, für jeden Toten einen."
Hilfe bei Suizidgedanken Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, bieten verschiedene Organisationen Hilfe und Auswege an:
Wer Hilfe braucht und die Telefonseelsorge anrufen will, der kann das unter: 0800 / 111 0 111 , 0800 / 111 0 222 oder 116 123 oder per Mail und Chat unter online.telefonseelsorge.de
Für Kinder und Jugendliche gibt es außerdem die "Nummer gegen Kummer" - erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800/111 0 333. Eine Mailberatung für junge Menschen gibt es auch über die Website U25 Deutschland und über Jugendnotmail.
Hilfe - auch in türkischer Sprache - bietet das muslimische Seelsorge-Telefon "MuTeS" unter 030/44 35 09 821. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort sind 24 Stunden am Tag erreichbar.
Eine Übersicht weiterer Angebote hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention unter suizidprophylaxe.de aufgelistet.
Admin und Foren Moderatorin Hinweise zu den hier aufgeführten Fällen bitte an die zuständige Polizeidienststelle